Das Tanzlegendchen
Der Text ist Bd. 7 der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe entnommen. Er basiert auf den Gesammelten Werken (GW) von 1889 und ist mit Fußnoten versehen, die kritische Lesarten früherer Textzeugen verzeichnen.
H1 = erste Niederschrift, H2 = Druckvorlage, E1-E4 = 1. bis 4. Auflage der Buchausgabe der Sieben Legenden.
Vgl. dazu die Interpretation von Peter Stamer auf dieser Homepage
Text
Das Tanzlegendchen
S. 421
Du Jungfrau Israel, du sollst noch °Jeremia 31. 4. 13. |
Nach der Aufzeichnung des heiligen Gregorius war Musa
die Tänzerin unter den Heiligen. Guter Leute Kind, war sie
10 ein anmutvolles Jungfräulein, welches der Mutter Gottes
fleißig diente, nur von einer Leidenschaft bewegt, nämlich von
einer unbezwinglichen Tanzlust, dermaßen, °daß, wenn das Kind
nicht betete, es unfehlbar tanzte. Und zwar auf jegliche Weise.
Musa tanzte mit ihren Gespielinnen, mit Kindern, mit den
15 Jünglingen und auch allein; sie tanzte in ihrem Kämmerchen,
im Saale, in den Gärten und auf den Wiesen, und selbst
wenn sie zum °Altar ging, so war es mehr ein liebliches Tanzen
als ein Gehen, und auf den glatten Marmorplatten vor der
Kirchenthüre versäumte sie nie, schnell ein Tänzchen zu pro-
20 bieren.
Ja, eines Tages, als sie sich allein in der Kirche befand,
konnte sie sich nicht enthalten, vor dem Altar einige Figuren
auszuführen und gewissermaßen der Jungfrau Maria ein nied-
liches Gebet vorzutanzen. Sie vergaß sich dabei so sehr, daß
25 sie bloß zu träumen wähnte, als sie sah, wie ein ältlicher aber
07 Jeremia] Jerimia H2-E4
12 daß,] daß H2-E4
17 Altar] Altare H1-E3
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schöner Herr ihr entgegen tanzte und ihre Figuren so gewandt
ergänzte, daß beide zusammen den kunstgerechtesten Tanz be-
gingen. Der Herr trug ein purpurnes Königskleid, eine gol-
dene Krone auf dem Kopf und einen glänzend schwarzen ge-
05 lockten Bart, welcher vom Silberreif der Jahre wie von einem
fernen Sternenschein überhaucht war. Dazu ertönte eine Musik
vom Chore her, weil ein halbes Dutzend kleiner Engel auf der
Brüstung desselben stand oder saß, die dicken runden Beinchen
darüber hinunterhängen ließ und die verschiedenen Instrumente
10 handhabte oder blies. Dabei waren die Knirpse ganz gemüt-
lich und praktisch und ließen sich die Notenhefte von ebensoviel
steinernen Engelsbildern halten, welche sich als Zierat auf dem
Chorgeländer fanden; nur der Kleinste, ein pausbäckiger Pfeifen-
bläser, machte eine Ausnahme, indem er die Beine übereinander
15 schlug und das Notenblatt mit den rosigen Zehen zu halten
wußte. Auch war der am eifrigsten: die übrigen °baumelten
mit den Füßen, dehnten, bald dieser, bald jener, knisternd die
Schwungfedern aus, daß die Farben derselben schimmerten wie
Taubenhälse, und neckten einander während des Spieles.
20 Ueber alles dies sich zu wundern, fand Musa nicht Zeit,
bis der Tanz beendigt war, der ziemlich lang dauerte; denn
der lustige Herr schien sich dabei so wohl zu gefallen, als die
Jungfrau, welche im Himmel herumzuspringen meinte. Allein
als die Musik aufhörte und Musa hochaufatmend dastand, fing
25 sie erst an, sich ordentlich zu fürchten und sah erstaunt auf den
Alten, der weder keuchte noch warm hatte und nun zu reden
begann. Er gab sich als David, den königlichen Ahnherrn
der Jungfrau Maria, zu erkennen und als deren Abgesandten.
Und er fragte sie, ob sie wohl Lust hätte, die ewige Seligkeit
30 in einem unaufhörlichen Freudentanze zu verbringen, einem
Tanze, gegen welchen der so eben beendigte ein trübseliges
Schleichen zu nennen sei?
16 baumelten] bammelten H2
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Worauf sie sogleich erwiderte, sie wüßte sich nichts Besseres
zu wünschen! Worauf der selige König David wiederum sagte:
So habe sie nichts Anderes zu thun, als während ihrer irdischen
Lebenstage aller Lust und allem Tanze zu entsagen und sich
05 lediglich der Buße und den geistlichen Uebungen zu weihen, und
zwar ohne Wanken und ohne allen Rückfall.
Diese Bedingung machte das Jungfräulein stutzig und sie
sagte: Also gänzlich müßte sie auf das Tanzen verzichten? Und
sie zweifelte, ob denn auch im Himmel wirklich getanzt würde?
10 Denn alles habe seine Zeit; dieser Erdboden schiene ihr gut
und zweckdienlich, um darauf zu tanzen, folglich würde der
Himmel wohl andere Eigenschaften haben, ansonst ja der Tod
ein überflüssiges Ding wäre.
Allein David setzte ihr auseinander, wie sehr sie in dieser
15 Beziehung im Irrtum sei, und bewies ihr durch viele °Bibel-
stellen, sowie durch sein eigenes Beispiel, daß das Tanzen aller-
dings eine geheiligte Beschäftigung für Selige sei. Jetzt aber
erfordere es einen raschen Entschluß, ja oder nein, ob sie durch
zeitliche Entsagung zur ewigen Freude eingehen wolle oder nicht;
20 wolle sie nicht, so gehe er weiter; denn man habe im Himmel
noch einige Tänzerinnen von nöten.
Musa stand noch immer zweifelhaft und unschlüssig und
spielte ängstlich mit den Fingerspitzen am Munde; es schien
ihr zu hart, von Stund' an nicht mehr zu tanzen um eines
25 unbekannten Lohnes willen.
Da winkte David, und plötzlich spielte die Musik einige
Takte einer so unerhört glückseligen, überirdischen Tanzweise,
daß dem Mädchen die Seele im Leibe hüpfte und alle Glieder
zuckten; aber sie vermochte nicht eines zum Tanze zu regen,
30 und sie merkte, daß ihr Leib viel zu schwer und starr sei für
diese Weise. Voll Sehnsucht schlug sie ihre Hand in diejenige
des Königs und gelobte das, was er begehrte.
15 Bibelstellen,] Bibelstellen H2-E4
S. 424
Auf einmal war er nicht mehr zu sehen und die musizie-
renden Engel rauschten, flatterten und drängten sich durch ein
offenes Kirchenfenster davon, nachdem sie in mutwilliger Kinder-
weise ihre zusammengerollten Notenblätter den geduldigen Stein-
05 engeln um die Backen geschlagen hatten, daß es klatschte.
Aber Musa ging andächtigen Schrittes nach Hause, jene
himmlische Melodie im Ohr tragend, und ließ sich ein grobes
Gewand anfertigen, legte alle Zierkleidung ab und zog jenes
an. Zugleich baute sie sich im Hintergrunde des Gartens ihrer
10 Eltern, wo ein dichter Schatten von Bäumen lagerte, eine Zelle,
machte ein Bettchen von Moos darin und lebte dort von nun
an abgeschieden von ihren Hausgenossen als eine Büßerin und
Heilige. Alle Zeit brachte sie im Gebete zu und öfter schlug
sie sich mit einer Geißel; aber ihre härteste Bußübung bestand
15 darin, die Glieder still und steif zu halten; sobald nur ein Ton
erklang, das Zwitschern eines Vogels oder das Rauschen der
Blätter in der Luft, so zuckten ihre Füße und meinten, sie
müßten tanzen.
Als dies unwillkürliche Zucken sich nicht verlieren wollte,
20 welches sie zuweilen, ehe sie sich dessen versah, zu einem kleinen
Sprung verleitete, ließ sie sich die feinen Füßchen mit einer
leichten Kette zusammenschmieden. Ihre Verwandten und Freunde
wunderten sich über die °Verwandlung Tag und Nacht, freuten
sich über den Besitz einer solchen Heiligen und hüteten die Ein-
25 siedelei unter den Bäumen wie einen Augapfel. Viele kamen,
Rat und Fürbitte zu holen. Vorzüglich brachte man junge
Mädchen zu ihr, welche etwas unbeholfen auf den Füßen waren,
da man bemerkt hatte, daß alle, welche sie berührt, alsobald
leichten und anmutvollen Ganges wurden.
30 So brachte sie drei Jahre in ihrer Klause zu; aber gegen
das Ende des dritten Jahres war Musa fast so dünn und
durchsichtig wie ein °Sommerwölkchen geworden. Sie lag be-
23 Verwandlung] Umwandlung H1-E4
32 Sommerwölkchen] Sommerwölklein H2-E4
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ständig auf ihrem Bettchen von Moos und schaute voll Sehn-
sucht in den Himmel, und sie glaubte schon die goldenen Sohlen
der Seligen durch das Blau hindurch tanzen und schleifen zu sehen.
An einem rauhen Herbsttage endlich hieß es, die Heilige
05 liege im Sterben. Sie hatte sich das dunkle Bußkleid aus-
ziehen und mit blendend weißen Hochzeitsgewändern bekleiden
lassen. So lag sie mit gefalteten Händen und erwartete lächelnd
die Todesstunde. Der ganze Garten war mit andächtigen
Menschen angefüllt, die Lüfte rauschten und die Blätter der
10 Bäume sanken von allen Seiten hernieder. Aber unversehens
wandelte sich das Wehen des Windes in Musik, in allen Baum-
kronen schien dieselbe zu spielen, und als die Leute emporsahen,
siehe, da waren alle Zweige mit jungem Grün bekleidet, die
Myrten und Granaten blühten und dufteten, der Boden be-
15 deckte sich mit Blumen und ein rosenfarbiger Schein lagerte sich
auf die weiße zarte Gestalt der Sterbenden.
In diesem Augenblicke gab sie ihren Geist auf, die Kette
an ihren Füßen sprang mit einem hellen Klange entzwei, der
Himmel that sich auf weit in der Runde, voll unendlichen
20 Glanzes und jedermann konnte hineinsehen. Da sah man
viel tausend schöne Jungfern und junge Herren im höchsten
Schein, tanzend im unabsehbaren Reigen. Ein herrlicher König
fuhr auf einer Wolke, auf deren Rand eine kleine Extramusik
von sechs Engelchen stand, ein wenig gegen die Erde und
25 empfing die Gestalt der seligen Musa vor den Augen aller
Anwesenden, die den Garten füllten. Man sah noch, wie sie
in den offenen Himmel sprang, und augenblicklich tanzend sich
in den tönenden und leuchtenden Reihen verlor.
Im Himmel war eben hoher Festtag; an Festtagen aber
30 war es, was zwar vom heiligen Gregor von Nyssa bestritten,
von demjenigen von Nazianz aber aufrecht gehalten wird,
Sitte, die neun Musen, die sonst in der Hölle saßen, einzu-
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laden und in den Himmel zu lassen, daß sie da Aushülfe
leisteten. Sie bekamen gute Zehrung, mußten aber nach ver-
richteter Sache wieder an den andern Ort gehen.
Als nun die Tänze und Gesänge und alle Ceremonieen
05 zu Ende und die himmlischen Heerscharen sich zu Tische setzten,
da wurde Musa an den Tisch gebracht, an welchem die neun
Musen bedient wurden. Sie saßen fast verschüchtert zusammen-
gedrängt und blickten mit den feurigen schwarzen oder tief-
blauen Augen um sich. Die emsige Martha aus dem Evan-
10 gelium sorgte in eigener Person für sie, hatte ihre schönste
Küchenschürze umgebunden und einen zierlichen kleinen Rußfleck
an dem weißen Kinn und nötigte den Musen alles Gute freund-
lich auf. Aber erst, als Musa und auch die heilige Cäcilia
und noch andere kunsterfahrene Frauen herbeikamen und die
15 scheuen Pierinnen heiter begrüßten und sich zu ihnen gesellten,
da tauten sie auf, wurden zutraulich und es entfaltete sich ein
anmutig fröhliches Dasein in dem Frauenkreise. Musa saß
neben Terpsichore und Cäcilia zwischen Polyhymnien und
Euterpen, und alle hielten sich bei den Händen. Nun kamen
20 auch die kleinen Musikbübchen und schmeichelten den schönen
Frauen, um von den glänzenden Früchten zu bekommen, die
auf dem ambrosischen Tische strahlten. König David selbst
kam und brachte einen goldenen Becher, aus dem alle tranken,
daß holde Freude sie erwärmte; er ging wohlgefällig um den
25 Tisch herum, nicht ohne der lieblichen Erato einen Augenblick
das Kinn zu streicheln im Vorbeigehen. Als es dergestalt hoch
herging an dem Musentisch, erschien sogar unsere liebe Frau
in all' ihrer Schönheit und Güte, setzte sich auf ein Stündchen
zu den Musen und küßte die hehre Urania unter ihrem Sternen-
30 kranze zärtlich auf den Mund, als sie ihr beim Abschiede zu-
flüsterte, sie werde nicht ruhen, bis die Musen für immer im
Paradiese bleiben könnten.
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Es ist freilich nicht so gekommen. Um sich für die er-
wiesene Güte und Freundlichkeit dankbar zu erweisen und ihren
guten Willen zu zeigen, ratschlagten die Musen untereinander
und übten in einem abgelegenen Winkel der Unterwelt einen
05 Lobgesang ein, dem sie die Form der im Himmel üblichen
feierlichen Choräle zu geben suchten. Sie teilten sich in zwei
Hälften von je vier Stimmen, über welche Urania eine Art
Oberstimme führte, und brachten so eine merkwürdige Vokal-
musik zuwege.
10 Als nun der nächste Festtag im Himmel gefeiert wurde
und die Musen wieder ihren Dienst thaten, nahmen sie einen
für ihr Vorhaben günstig scheinenden Augenblick wahr, stellten
sich zusammen auf und begannen sänftlich ihren Gesang, der
bald gar mächtig anschwellte. Aber in diesen Räumen klang
15 er so düster, ja fast trotzig und rauh, und dabei so sehnsuchts-
schwer und klagend, daß erst eine erschrockene Stille waltete,
dann aber alles Volk von Erdenleid und Heimweh ergriffen
wurde und in ein allgemeines Weinen ausbrach.
Ein unendliches Seufzen rauschte durch die Himmel; be-
20 stürzt eilten alle Aeltesten und Propheten herbei, indessen die
Musen in ihrer guten Meinung immer lauter und melancholischer
sangen und das ganze Paradies mit allen Erzvätern, Aeltesten
und Propheten, alles, was je auf grüner Wiese gegangen oder
gelegen, außer Fassung geriet. Endlich aber kam die allerhöchste
25 Trinität selber heran, um zum Rechten zu sehen und die
eifrigen Musen mit einem lang hinrollenden Donnerschlage zum
Schweigen zu bringen.
Da kehrten Ruhe und Gleichmut in den Himmel zurück;
aber die armen neun Schwestern mußten ihn verlassen und
30 durften ihn seither nicht wieder betreten.