Gottfried Keller

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Abendlied

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Abendlied.

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh';
Tastend streift sie ab die Wanderschuh',
Legt sich auch in ihre finst're Truh'.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend steh'n
Wie zwei Sternlein, innerlich zu seh'n,
Bis sie schwanken und dann auch vergeh'n,
Wie von eines Falters Flügelweh'n.

Doch noch wandl' ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Ueberfluß der Welt!

 

 

Kommentare

 

Theodor Storm an Keller, 20.9.1879

"Augen, meine lieben Fensterlein"
Dieß reinste Gold der Lyrik fand ich im letzten Heft der "Rundschau", und zu meiner Freude unter Ihrem Namen. Ich habe es viele Mal und immer wieder gelesen und vorgelesen, und jeden faßte es, dem ich es las. Ich drücke Ihnen herzlich die Hand, liebster Freund; solche Perlen sind selten. Auch die Besten bringen nur sehr Einzelnes von solcher Qualität.
 

Wilhelm Petersen an Keller, 26.12.1883

Es erschien mir noch schöner, tiefer wundersamer und verklärter, als früher. Diese zwei Fünklein sind etwas so räthselhaftes, eine so unfindbare Vorstellung, daß ich immer von neuem erstaunt bin über die Eingebung, welche sie schuf.
 

Eine der verständnislosesten Besprechungen stammt von Ludwig Hohl:

Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung. Frankfurt a. M. 1984, S. 580-582 (IX, Nr. 39). (erstmals 1954)

Es sind im ganzen Gedicht überhaupt nur wenige Verse nicht unmöglich: der erste, "Augen meine lieben Fensterlein", - welcher übrigens sentimental ist (aber eben diese Sentimentalität mag den Ruhm des Gedichtes verschuldet haben) -, dann noch der erste der zweiten Strophe, ein konditionaler Nebensatz, der für sich nicht bestehen kann: "Fallen einst die müden Lider zu", und vor allem natürlich der halbe Vers: "dann hat die Seele Ruh". Das ist ihm wirklich eingefallen. Das meiste weitere ist hineingezwungen. Größtenteils schon - den vierfachen Reim durchzuhalten - "die Wanderschuh", in welchem Maße aber erst die unglückselig-überraschende Truh, in die - eine Schuhkiste also - die Seele sich dann auch legt! [...] Vielleicht noch ein weniges an Inspiration dämmert durch in "Nur dem sinkenden Gestirn gesellt." - "Noch zwei Fünklein ..." usw. wäre an sich nicht schlecht, in was für einer Beziehung aber steht diese Vorstellung zu dem Vorangegangenen? Die Augen sind Fenster, sagte er, die Lider sind zugefallen; - und nun auf einmal eine Geschichte von Fünklein und Sternlein! - Die eigentlich katastrophale Zeile, über die man zuerst hinfällt, ist die zweite; und man wird nicht wieder aufstehen; genauer, das "Gedicht" wird nie wieder aufstehen, wenn man die Unmöglichkeit dieses Verses erkannt hat, der dann unerträglich, perfid, Gift wird für jedes Vorstellungsvermögen, für jeden Geist, der sich redlich bemüht, zu folgen und zu sehen [...].

[...] Aber was gab er sich Rechenschaft darüber beim Dichten , was kümmerte es ihn beim Versemachen? Wenn nur Reim und Vers fertig wurden, man braucht das Einzelne nicht anzuschauen, es braucht nicht zu stimmen; holpricht über alles hinweg und dem Ende zu!