Gottfried Keller

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Aufsätze zu Kellers Leben und Werk

Walter Morgenthaler:
"Martin Salander" in der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe

Referat am 16.11.2004 in der Zentralbibliothek Zürich anläßlich der Präsentation von HKKA 8 und 24 (Martin Salander )

Inhalt

Der Textband
Der Apparatband
Die Dokumentation

 

Der Roman Martin Salander, 1886 entstanden, ist Kellers letztes großes Werk. Er hat es 1889 in sein 10bändiges literarisches Vermächtnis, die Gesammelten Werke, aufgenommen. Als Band 8 bildet der Roman den Abschluß der Prosa, die mit dem Grünen Heinrich (Band 1-3) einsetzt. Dazwischen liegen die Erzählzyklen Die Leute von Seldwyla, Züricher Novellen, Sieben Legenden und Das Sinngedicht: fast ganz wie im wirklichen Schaffensverlauf. Band 9 und 10 enthalten dann die Gedichte, mit denen Keller seine schriftstellerische Laufbahn eigentlich begonnen hat.

Die Gesammelten Werke sind ein wohlkomponiertes Ganzes. Sie bilden in unserer Ausgabe die Hauptabteilung, Abteilung A. Dazu kommen dann in Abteilung B die übrigen publizierten Werke (v. a. die frühen Gedichtbändchen und die erste Fassung des Grünen Heinrich), in Abteilung C die nachgelassenen Schriften (z. B. die Dramenfragmente oder die Studien- und Notizbücher). Abteilung D enthält den Kommentar zu alledem, besser: die Apparatbände. Es geht nämlich darin nicht um Wort- und Sacherläuterungen oder Einbettungen in Kultur- und Zeitgeschichte, sondern in erster Linie um die Textentstehung und -überlieferung, die unzähligen Varianten der Handschriften und Drucke und Kellers Korrespondenz mit Herausgeber, Verleger und Schriftstellerkollegen wie Paul Heyse und Theodor Storm.

Im folgenden versuche ich, Ihnen anhand weniger Beispiele einen kurzen Einblick in Aufbau und Funktionsweise des Text- und Apparatbandes zu Martin Salander zu geben.

 

Der Textband

 

Den beiden Zwillingsbrüdern, Isidor und Julian Weidelich, ist es gelungen, sich mit den zwei Töchter des zu Reichtum gelangten Martin Salander zu verloben. Als die weniger gut gestellten Eltern Weidelich dies erfahren, sehen sie sich in ihren kühnsten Erwartungen übertroffen:

als aber vollends die zwei Fräulein Salander genannt und als Bräute vorgestellt wurden, da vergaßen sie, insbesondere die Mutter, alles Leid schneller, als ein Licht ausgeblasen wird. Wenigstens ward es ihr fast dunkel vor den Augen: Die Salanderinnen, von denen das Stück ° erst eine halbe Million Franken gelten sollte! Das heißt, wenn ihr Vater nicht wieder Dummheiten machte! Denn wer kann heutzutag noch fest auf ° seinen Willen bauen? Das ist jetzt so, sie haben die Bräute und sind Mannes genug mit und ohne die halbe Million.

Das ist der Text, wie er in sämtlichen Drucken zu Kellers Lebzeiten (und eben auch in den Gesammelten Werken) zu lesen ist. Und so steht er auch in unserer Ausgabe. Mit einer kleinen, aber bedeutenden Modifikation: An zwei Stellen ist ein Kringel angebracht, der auf eine Fußnote am Seitenende verweist. Die erste Stelle:

Die Salanderinnen, von denen das Stück ° erst eine halbe Million Franken gelten sollte!

Die Fußnote dazu verzeichnet die ursprüngliche Lesart, wie sie in dem handschriftlichen Druckmanuskript zu finden war: einst statt erst.

Die Salanderinnen, von denen das Stück einst eine halbe Million Franken gelten sollte!

Sie werden mir vermutlich zustimmen, daß die Druckvariante (erst) nicht völlig unsinnig, die Manuskriptvariante (einst) aber angemessener ist. Die zweite Stelle:

Denn wer kann heutzutag noch fest ° auf seinen Willen bauen?

Die Fußnote verzeichnet wiederum eine Manuskriptvariante, und man höre und staune: statt seinen Willen heißt es da: eine Million

Denn wer kann heutzutag noch fest auf eine Million bauen?

Keine moralische Argumentation also, sondern eine handfest-ökonomische. Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, daß die Änderung in beiden Fällen von der Hand des Setzers stammt, der beim Lesen der Handschrift unaufmerksam war und falsch entzifferte. Unaufmerksam scheint aber auch der Autor Gottfried Keller gewesen zu sein: Er hat bei der Korrekturdurchsicht weder an der einen noch an der anderen Stelle Anstoß genommen.

Wie gehen wir, als Herausgeber, 118 Jahre später damit um? Sie haben es gehört: Wir behalten den Text, als von Keller autorisiertes historisches Dokument, in seiner gedruckten Fassung bei, ohne einzugreifen: solange sich nämlich ein denkbarer Sinn ergibt. Zusätzlich machen wir aber auf die Problematik der Stelle aufmerksam, indem wir den Leser über den Kringel stolpern lassen, der zu der sogenannten kritischen Lesart in der Fußnote führt. In dieser nicht aufgehobenen Diskrepanz manifestiert sich etwas von der Spannung, die wohl jeden publizierten Text durchwirkt und die man vielleicht auf den einfachen Nenner bringen könnte, daß der Autor immer nur der Mitautor seines Textes sei.

 

Der Apparatband

 

Was bringt nun der Apparatband? Er beginnt mit der Entstehungsgeschichte des Romans. Diese zeichnet nach, wie es von den ersten vagen Konzepten über die Erstellung des Druckmanuskriptes zum Vorabdruck in der Deutschen Rundschau und dann zu den fünf gleichzeitig gedruckten Buchauflagen kam, bis der Roman schließlich 1889 in die Gesammelten Werke aufgenommen wurde. Man kann hier erfahren, was für eine unglaubliche Mühe es Keller kostete, das Manuskript portionenweise für die Deutsche Rundschau bereitzustellen und wie er Monat für Monat damit kämpfte, es gerade noch auf den letzten Drücker zu schaffen. Ja, wie sich die Schreibnot selbst beim Buch, das zu Weihnachten erscheinen sollte, nochmals einstellte.

Auf die Entstehungsgeschichte folgt die Beschreibung der einzelnen Textzeugen. Da ist z. B. Kellers erste Niederschrift. Sie umfaßt nur die ersten vier Kapitel. Weiter kam Keller nicht, bevor er mit der Erstellung des Druckmanuskriptes beginnen mußte. Dieses Druckmanuskript trägt alle Spuren der Übereilung, von den Schreibfehlern und vielen Sofortkorrekturen bis hin zum erzwungenen vorzeitigen Schluß. - Die Korrekturen und Varianten sind notiert im Variantenverzeichnis, auf das man sich allerdings etwas einlassen muß, wenn man unter den Tausenden von Varianten diejenigen finden will, an denen man selbst gerade interessiert ist. Allerdings kann sich die Mühe lohnen.

Ich gebe ein Beispiel, das wiederum die Zwillinge Weidelich betrifft. Da die Zwillinge sowohl in ihrem Aussehen wie in ihrer Denkweise voneinander ununterscheidbar sind, planen sie, sich für die Umwelt Merkmale der Unverwechselbarkeit zuzulegen. Der eine (Isidor) schließt sich der Partei der Demokraten, der andere (Julian) den Altliberalen an. Dazu kommt nun die Differenzierung des Äußeren:

Um auf der nunmehrigen Laufbahn nicht mehr verwechselt zu werden, hatten sie auch das Aeußere so ungleich als möglich gemacht, Julian das üppige Haar kurz gestutzt und ein zartes Schnurrbärtchen gepflanzt, Isidor das Haar mit Pomade glatt gestrichen und gescheitelt; dazu trug dieser einen schwarzen Filzhut, breit wie ein Wagenrad, jener ein Hütlein wie ein Suppenteller. (139.07)

So das Druckmanuskript. - Isidor, der Demokrat, trägt hier also einen breiten Filzhut auf gescheiteltem Haar; Julian, der Altliberale, ein Hütlein auf kurzem Haar. - Zwei Seiten danach ist plötzlich einiges anders: Ab hier ist Isidor der Altliberale mit dem Hütlein und Julian der Demokrat mit dem breiten Filzhut. Das gescheitelte Haar aber hat Isidor beibehalten. Wahrlich ein Grund zur Konfusion. - Auf der Ebene der dargestellten Handlung sind es zunächst die Salandertöchter, die die Zwillinge (als ihre beiden Geliebten) nicht voneinander unterscheiden können, dann weiß Martin Salander sie (als seine Schwiegersöhne) nicht auseinanderzuhalten. Und nun sind es sogar der Autor und seine Handschrift, die dem Vexierspiel verfallen. - Letztlich wird niemand entscheiden können, ob die Verwechselbarkeit der Zwillinge die Verwirrung der Niedersschrift verursacht oder ob die Handschriftenkonfusion überhaupt erst zum Konzept der verwechselbaren Zwillinge geführt hat.

Erst die Buchausgabe bringt die Verhältnisse ins Lot: Isidor ist und bleibt nun der Altliberale mit dem gescheitelten Haar und Julian der Demokrat mit kurzem Haar und breitem Hut. - Diese textgenetischen Befunde werden in der Textzeugenbeschreibung der HKKA beschrieben und im Variantenverzeichnis im Detail festgehalten. Sie erlauben einen Blick in jene Gefilde, wo der Text noch nicht zur festen Form, zum Werk geronnen ist.

Im Nachlaß gibt es eine Menge von Notizkartons, auf denen Keller Konzepte und Motive zu Martin Salander notierte. Wir haben all diese Entwurfkartons (als Paralipomena) in unserem Apparatband abgebildet und transkribiert. Auf einem dieser Kartons, einer Verlobungsanzeige, finden sich auch die Zwillingsnamen wieder. Vermutlich hat Keller ihn während der Niederschrift angelegt, um sich selber über die Unterscheidungsmerkmale der Zwillinge ins klare zu kommen. Das Resultat ist eine dritte Variante. Hier ist Julian der Demokrat und Isidor der Altliberale (wie an der ersten Manuskriptstelle), das gescheitelte Haar aber trägt ebenfalls Julian (im Manuskript immer Isidor). - Sie können nun, wenn Sie mögen, Martin Salander unter neuem, textgenetischem Gesichtspunkt interpretieren. Ich aber breche hier ab, indem ich noch auf den letzten Teil des Apparatbandes hinweise: auf die umfangreiche Dokumentation.

 

Die Dokumentation

 

Die Dokumentation enthält Kellers Korrespondenz zur Entstehung und Rezeption des Romans. Kellers Briefe zeigen eine deutliche Unzufriedenheit mit seinem letzten Werk, vor allem mit dem erzwungenen Schluß. So schreibt er etwa an Josef Viktor Widmann, der im Bund den Roman in höchsten Tönen gelobt hatte:

Zuerst hole ich meinen ebenso schuldigen als herzlichen Dank nach für die unverwüstliche Großmuth, mit welcher Sie den schwachbeinigen Salander gleich bei seinem Erscheinen gestützt haben. Denn wenn auch das Buch nicht ganz so langweilig sein sollte, wie es von der Berliner und Wiener Lesewelt gescholten wurde, so ist es doch durch den Betrieb der Zeitschrift und die moderne Zwangsanstalt des Weihnachtsmarktes in der Ausführung und namentlich in dem ursprünglich intendirten Abschluß, der die pièce de resistance abgegeben hätte, verkümmert worden.

Hier haben wir ihn wieder, in Kellers eigenen Worten und negativ formuliert, den Autor als Mitautor - bzw. das Werk als Produkt verschiedener, ineinander verschränkter Wirkungskräfte, von denen das individuelle Autorschaffen nur eine, wenn auch die wichtigste Komponente ist. Auch das sichtbar werden zu lassen, ist eine Absicht unserer Ausgabe.

Dem Apparatband beigelegt ist eine CD-ROM. Sie enthält den ganzen bisher edierten Datenbestand, worin nach Belieben recherchiert werden kann. Hier finden Sie auch - über die Buchausgabe hinausgehend - die ungekürzten Korrespondenzen und die zeitgenössischen Rezensionen. Zum Beispiel die eben erwähnte von Josef Viktor Widmann, worin es heißt:

Vollends aber dieses Buch ist derart, daß er [Keller] sich damit um das Vaterland ein ewiges Verdienst erworben hat. In dieser Beziehung ist es unbedingt das wichtigste unter Gottfried Keller's Werken und nach "Tell" das Werthvollste, was dieses Jahrhundert in literarischer Beziehung der Schweiz geschenkt hat.

Daß Keller selbst nicht ganz dieser Meinung war, wissen wir schon. Eine Einschätzung aus heutiger Sicht erfahren Sie aus dem folgenden Referat eines Wirtschafsshistorikers.