Gottfried Keller

Allgemein
HKKA
eHKKA
Briefe
Gedichte
Grüner Heinrich
Kleider machen Leute
Schule

Aufsätze zu Kellers Leben und Werk

Hansjörg Siegenthaler:
"Martin Salander" in seiner Zeit

Referat am 16.11.2004 in der Zentralbibliothek Zürich anläßlich der Präsentation von HKKA 8 und 24 (Martin Salander )

Inhalt

I.
II.
III.
 

I.

 

Der Spätroman Gottfried Kellers bezieht sich auf eine der großen Orientierungskrisen, wie sie der schweizerische Bundesstaat seit seiner Gründung eine ganze Reihe durchlaufen hat. Was ist eine Orientierungskrise? Nicht einfach das, was die notorische Orientierungsschwäche des Menschen ausmacht und ihn begleitet, wo und wann er immer nachdenkt und Entscheidungen trifft. Wir sind nie hinreichend unterrichtet über das, was unser gegenwärtiges Handeln in der Zukunft bewirkt, um den besten aller Wege klar zu erkennen, die wir beschreiten können; und wir wissen dies auch. Normalerweise haben wir jedoch das Gefühl, daß wir, wären wir nur besser unterrichtet über die Welt als wir es sind, gewinnen würden an Verläßlichkeit unserer Zukunftsbilder und an Klarheit unserer Einsichten in den handlungsrelevanten Gang der künftigen Ereignisse. In der "Orientierungskrise", um die es hier geht, fehlt es vielen Menschen, d.h. einer für den Gang der Dinge wichtigen Zahl von Menschen, an Vertrauen in ihre Möglichkeiten, Erfahrungen, die sie machen, und Beobachtungen über die Welt, die sie anstellen oder zur Kenntnis nehmen, in Zukunftsbilder umzumünzen. Es fehlt ihnen an "Regelvertrauen": An Vertrauen in die Regeln, in die Rezepturen, nach denen sie das, was sie zu wissen glauben, in handlungsrelevante Zukunftsbilder transformieren möchten und transformieren können möchten.

Mein Verständnis dessen, was man - heuristisch zweckmäßig - als eine "Orientierungskrise" zu fassen hat, erlaubt mir eine präzise Umschreibung des Gegenstandes meines Vortrages. Der Roman Gottfried Kellers spielt in einer Zeit, in der viele Menschen Mühe hatten, die Zeichen der Zeit zu lesen, und in der es zur vordringlichen Aufgabe geworden war, solche Zeichen wieder lesen zu lernen. Ich möchte zunächst versuchen, uns diese Zeit zu vergegenwärtigen oder, um dies auch anders zu sagen, uns in diese Zeit zurückzuversetzen. Dabei geht es offenbar um drei Dinge: erstens um die Bedingungen der Möglichkeit der Ausbildung einer Orientierungskrise, um Manifestationen dieser Krise im beobachtbaren Handeln der Menschen, um Wege zur Überwindung einer solchen Krise. Diese drei Dinge machen die Zeit aus, in der "Martin Salander" spielt. Und im zweiten Teil meiner Ausführungen werde ich einen Blick auf den Text Gottfried Kellers werfen und ihn auf Bezüge zu eben dieser Zeit hin prüfen. Dabei interessieren mich nicht so sehr die offenkundig historischen, gewissermaßen chronikalischen Kontextualisierungen, die Keller vornimmt, sondern die Sichtweisen, die Perspektiven, in die der Dichter menschliches Tun, menschliches Versagen, menschliche Weisheit rückt: Es sind die Sichtweisen der Zeit, in der Orientierung der Menschen: Ihr "Regelvertrauen" wie gesagt, zum Problem werden.

 

 

II.

 

Orientierungskrisen sind immer auch Wirtschaftskrisen. Wo und wenn wir auf deutliche Spuren geringen Regelvertrauens stoßen, treffen wir auch auf Anzeichen gestörter wirtschaftlicher Entwicklung. Viele Historiker haben sich mit dieser Gleichzeitigkeit von Orientierungs- und Wirtschaftskrisen befaßt; die meisten von ihnen haben sich auch einen Reim auf die Gleichzeitigkeit gemacht, einen Reim, mit dem Sie gewiß bestens vertraut sind: Wem es schlecht geht, wer keine Arbeit hat, wer aus der Routine seiner Berufstätigkeit herausfällt, hat viele Gründe, um auch die Routine seines Denkens in Frage zu stellen. Ich möchte jedoch auch einen ganz anderen Reim auf die Gleichzeitigkeit von Orientierungskrise und Wirtschaftskrise formulieren: Wer kein Vertrauen mehr hat in die Routinen seines Denkens, genauer: in die Regeln, nach denen er sich kundig macht über den Gang der Dinge in seiner Welt, handelt so, daß er die wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr fördert, sondern bremst: Die Krise, auch diejenige der Wirtschaft, beginnt im Kopf; daß auch die Überwindung der Krise in den Köpfen der Menschen anfangen müsse, dies liest man gelegentlich. Aber es trifft eben auch das Umgekehrte zu: Im Kopf nimmt die Krise ihren Anfang. Wer sich nicht mehr zutraut, ein Bild der Wirkungen zu entwerfen, die sein heutiges Handeln künftig haben wird, zögert Entscheidungen hinaus. Er baut kein Haus mehr: Nach 1876 schrumpfte der Wert der Hochbauinvestitionen zusammen, nachdem sich dieser in der ersten Hälfte der siebziger Jahre in den damaligen Wachstumszentren beinahe vervierfacht hatte ( Beck 26 ). Mühe bereitete nun auch der Entscheid, eine Ehe zu schließen: Von 1875 bis 1880 ging die Zahl der Eheschließungen in der Schweiz um ein Fünftel zurück (HS 190 ). Unternehmer schieben die Einführung neuer Techniken auf die lange Bank, auch wenn sie über zukunftsträchtiges technisches Wissen verfügen. Man hatte sich in der Baumwollstickerei mit neuen Stickmaschinen vertraut gemacht schon in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, aber nun schreckten die Sticker vor dem Kauf der Maschinen zurück.

Wenn die Krise in den Köpfen der Leute begann: Wie kam sie in die Köpfe hinein? Diese Frage kann man nun gewiß nicht verständnisvoll beleuchten, ohne von Wirtschaft, von sozialem Leben und Zusammenleben, von politischer Bewegung, von den Realien des Zustandes der Gesellschaft und ihrer Milieus zu reden. Ich bin weit davon entfernt, eine Krisengeschichte als eine reine Ideengeschichte entwerfen zu wollen. Doch möchte ich den Debatten der Zeit gebührende Beachtung schenken und die Schärfe der Auseinandersetzung zwischen den großen konfessionellen Lagern jener Zeit ebenso großes Gewicht zumessen wie zum Beispiel all dem, was man unter dem Titel "Agrarkrise" thematisiert, beschrieben und interpretiert hat. Beides möchte ich ins Visier nehmen: Den Kulturkampf; die Agrarkrise. Im Kulturkampf handelte es sich schon vor der Gründung des Bundesstaates im Tiefsten um einen Kampf um "Quellen der Wahrheit": Modernisten vertrauten auf wahrheitsstiftende Verfahren der Wissenschaft und - vor allem in der Demokratischen Bewegung - auf wahrheitsstiftende Leistungen des demokratischen Prozesses. Ihnen standen katholische, aber durchaus auch protestantische Skeptiker gegenüber, die an der Schlüssigkeit wissenschaftlicher oder politischer Wahrheitsfindung ihre Zweifel hatten und lieber auf die Karte wohl geordneter Entscheidungsverfahren einer hierarchisch konzipierten Kirche setzten. Nun gibt es wohl keinen Kampf, der den Routinen des Denkens mächtiger zusetzt als eben dieser Kampf um Quellen der Wahrheit. Doch ob der Kampf durchschlägt auf das Alltagsdenken und Alltagshandeln der Menschen, ist auch von den Bedingungen abhängig, unter denen sich dieser Kampf zur Geltung bringt. Zu diesen Bedingungen gehörte im kritischen Zeitraum der Jahre 1875 bis 1885 eine "Agrarkrise". Was war diese "Agrarkrise"? Was hat sie in den Köpfen der Menschen bewegt?

Mehr als 40 Prozent aller Erwerbstätigen haben in der Schweiz auch noch 1870 den Boden bewirtschaftet und Nutztiere gehalten und betreut. Zwar begann man sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, es werde künftig aus dem Agrarland Schweiz ein Industriestaat werden. Der Eisenbahnbau machte auch für die bäuerliche Bevölkerung unübersehbar deutlich, daß man künftig nie mehr so leben werde, wie die Großeltern noch gelebt hatten; Fortschrittsperspektiven drangen in viele Köpfe ein, aber klare Konturen gewannen sie noch nicht; man lebte in eine neue Zeit hinein, soviel war klar, aber die neue Zeit entzog sich der Konkretisierung. Im Nachhinein erkennen wir in den industriellen Entwicklungen jener Zeit die Anfänge dessen, was der Schweiz im 20. Jahrhundert einen Teil ihres Wohlstandes beschert hat: erste, überaus zukunfsträchtige Schritte auf dem Weg zur modernen Chemie, des modernen Maschinenbaues. Aber diese Schritte ließen den Weg beileibe noch nicht erkennen, auf den man sich begab; noch im Ausgang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hat der Herausgeber eines schweizerischen Wirtschaftslexikons die Zukunft der Schweizer Industrie sehr zurückhaltend gewürdigt und festgestellt, es sei "zu befürchten, daß die schweizerische Industrie ihren Höhepunkt bereits hinter sich habe" ( Furrer II, 63 ); er hielt es für angezeigt, zur Gewährleistung hinreichender Beschäftigungsmöglichkeiten über die "Einführung der Teppichknüpferei" und "die Einbürgerung der Korbflechterei" nachzudenken ( Furrer II 64 ); weder auf die Karte des Maschinenbaus, noch in der Farbstoffindustrie, noch der Pharmazie wollte er setzen: er verfügte über die Perspektive neuer technischer Durchbrüche und entsprechender Wohlstandsgewinne in gar keiner Weise. Sein Verständnis für die Vorgänge der Industrialisierung blieb trotz Eisenbahnbau und überaus bemerkenswerten technischer Leistungsfähigkeit jener Branchen, die sich uns im Nachhinein als besonders die besonders zukunftsträchtigen darstellen, in den Erfahrungen der Frühindustrialisierung verhaftet. - Für Gottfried Keller war bekanntlich der Bundesstaat mit seinen demokratischen Institutionen keineswegs auf alle Zeiten hinaus gesichert; für den Wirtschaftsfachmann blieb ganz und gar unklar, ob man im fabelhaften ökonomischen Aufschwung der Schweiz während der fünfziger Jahre und vor allem während der ersten Hälfte der siebziger Jahre mehr als eine Episode sehen könne. Für beide Bereiche, für den politischen und für den ökonomischen, lieferten die Erfahrungen, an denen man individuell Anteil hatte, keine Grundlage für Modellierungen künftiger Entwicklung.

Auch die Landwirtschaft, so sagte man damals, und so sagen es die Historiker auch heute, steckte in einer Krise. In was für einer Krise? Die Erträge der Bauernbetriebe haben sich realiter nur wenig verschlechtert ( HS 554: Wertschöpfung 1. Sektor 1876 672 mio Fr.; 1882 530, 76 - 82 - 20%; HS Großhandelspreise, Index: 1876 117, 1882 102, 76 - 82 - 13% ). Die Krise hat sich auch nicht in einer Verminderung der Anzahl selbständiger Bauernbetriebe geäußert. Die Bauern, die auf eigene Rechnung gearbeitet haben, blieben der Scholle im allgemeinen noch treu und fanden auf ihr ein Auskommen, das hinter demjenigen ihrer Väter und Großväter kaum zurückstand, ein sehr schmales Auskommen die einen, ein komfortableres die anderen. Viel prekärer wurde ihre Versorgungslage im allgemeinen nicht. Und doch sprach man von "Agrarkrise", fühlte man sich betroffen von einer Agrarkrise, bedroht, bedrängt. Bedrängt von vielem, vom spürbaren Zwang zum Beispiel, die Umstellung von pflanzlicher zu tierischer Produktion nach dem Eisenbahnbau nun noch schneller zu vollziehen als schon zuvor. Ich möchte in unserem Zusammenhange jedoch eine ganz andere Dimension der Bedrohung und Belastung ansprechen, eine Dimension, die uns ganz nah an die Welt heranführt, in der Gottfried Keller seinen "Martin Salander" hat leben und altern lassen. Viele Bauern sind, so könnte man vielleicht sagen, in einem Vorgang von hoher betriebswirtschaftlicher Rationalität von "Herrenbauern" zu "Schuldenbauern" geworden, und zwar infolge einer überaus bemerkenswerten Verkettung von Wirkungen, die niemand angestrebt, aber viele gefördert haben. Wie? Warum?

Zu den großen Errungenschaften der demokratischen Bewegung nicht nur, aber doch vor allem im Kanton Gottfried Kellers, im Kanton Zürich, gehörte ein neues Angebot an Kredit für die gewerbliche und bäuerliche Bevölkerung dank der Schaffung der Kantonalbank; und es gehörte dazu ein erweitertes Angebot an Transportleistungen mit dem Bau neuer Eisenbahnlinien, die viele bäuerliche Produzenten näher an ihre Märkte heranführten. Verfügbarkeit von Hypothekarkredit verschärfte den Wettbewerb um knappen Boden, motivierte die Pflege verhältnismäßig kapitalintensiver Bewirtschaftungsweisen; ein naher Bahnanschluß köderte die Produzenten in städtische Märkte für Milch, Butter und Käse hinein - und lockte, bei nota bene steigenden Reallöhnen, Knechte und Mägde auf städtische Arbeitsmärkte. Aufs ganze gesehen bedeutete dies die Ersetzung von arbeitsintensiven durch eher kapitalintensive Produktionsverfahren, die Substitution - wie Ökonomen sagen - von Kapital für Arbeit; es verwies in die zukunftsträchtige Richtung einer Erhöhung der Produktivität der landwirtschaftlich genutzten Ressourcen, genau auf denjenigen Weg, den die moderne Agrargeschichte über viele Jahrzehnte hinweg eben eingeschlagen hat.

So vernünftig dies ökonomisch betrachtet auch war, so bedeutete es doch für den sozialen Rang des Bauern eine wesentliche Veränderung: Am Tisch fehlte abends, beim Nachtessen, ein Knecht, oder eine junge Magd, die nun beim Zürcher Konsumverein eine Anstellung als Verkäuferin gefunden haben mochte; da verdiente sie mehr, und ihre Heiratschancen stiegen. Dafür steckte im bäuerlichen Betrieb mehr Kapital, produktives Kapital, effizienzsteigerndes Kapital. Der Bauer, der früher Herr war über Knechte und Mägde, wurde nun Herr über das, was er sich von der Kantonalbank ausgeliehen hatte und wofür er Zins zahlte. War er, wenn er Herr war über sein Kapital, also immer noch ein Herrenbauer? Oder doch, bei nach 1876 sinkenden Preisen ( HS 485 ) und damit real steigendem und drückendem Hypothekarzinssatz, eher ein Schuldenbauer? Gar ein Schuldenbäuerlein, wie man in seiner Umgebung munkelte? Was war er wirklich? Woher sollte er es wissen, was er wirklich war? Ein Christenmensch vermutlich, ein Schweizer, was nach starkem Zustrom ausländischer Arbeitskräfte ja nicht mehr ganz so selbstverständlich war. Genügte es zu wissen, daß er eine schweizerischer Christenmensch war? Ein im Kulturkampf gewissermaßen gestählter schweizerischer, protestantischer, Christenmensch? Oder zeigt uns die Tatsache, daß es ihm so sehr darauf ankam, ein schweizerischer, protestantischer Christenmensch zu sein, daß er Mühe hatte genau zu wissen, was er denn im neuen Zeitalter wirklich war?

 

III.

 

Meine Damen und Herren, Gottfried Keller hat in seinem Alterswerk zwei Dinge mehr als anderes thematisiert und in vielfältiger Weise ausgelotet: Die Bedeutung der Regeln, nach denen man sich Vorstellungen entwirft von der für das eigene Handeln relevanten Welt, und die Bedeutung persönlicher Identität für den sozialen Zusammenhang, in dem man sich bewegt. Mit diesem Akzent auf die doppelte Problematik des Mangels, des Verlustes, des Gewinns und Wiedergewinns an Vertrauen in Welt- und Selbstbilder nimmt Keller nicht bloß bezug auf seine Zeit, er entwirft auch eine Interpretation seiner Zeit, er rückt die Zeit in eine bestimmte Perspektive, er entwickelt im Ansatz ein Modell krisenhafter Entwicklung sozialen Wandels. Wenig vor ihm hat sein Zeit- und Altersgenosse Jacob Burckhardt (1818-1897) ( Keller 1819-1890) in seinen "weltgeschichtlichen Betrachtungen" ein solches Modell entworfen und damit den Blick des Historikers - und nicht nur des Historikers allein - für Phänomene historischer Krisen geschärft. Es wäre ein lohnendes Unterfangen, den "Martin Salander" in die Burckhardtschen Kulissen hineinzustellen und ihn hier spielen zu lassen. Man gewänne neues Verständnis für Kellers Roman, und manche Züge Burckhardtscher Krisentheorie würden deutlicher hervortreten. Burckhardt hat seine krisentheoretischen Betrachtungen sehr entschieden aus konkreten historischen Zusammenhängen herausgelöst im Versuch, die Universalien jener Wirkungszusammenhänge ins Bild zu bringen, in denen sich Krisen vorbereiten und entfalten, und in denen sie schließlich auch beigelegt werden. Keller nimmt bezug auf die Zeit, die er selber durchlebt, auf den Raum, in dem er gewirkt hat. Gleichwohl kann man ihm das Burckhardtsche Interesse am Generellen in der Fülle der Erscheinungen nicht gänzlich absprechen; er steht Burckhardt näher als Ranke. Jene höchst rätselhafte Formulierung, mit der Arnold, der Sohn Martin Salanders, seine Absicht begründet, einen guten Teil seiner Zeit und seiner Arbeitskraft auf das Studium der Geschichte zu verwenden, macht doch wohl nur Sinn, wenn man sie auf ein solches Interesse bezieht. Auch die Pointierungen, die offenkundigen Schematisierungen, Überzeichnungen des Romans verweisen auf eben dieses gewissermaßen nomothetische Interesse. Ziemlich genau in der Mitte des Romans, bevor sich die Szenen der demokratischen Hochzeit zwischen Salanders Töchtern und dem sonderbaren Zwillingspaar Isidor und Julian entfalten, setzen sich die Salanders mit einem langen Brief ihres Jüngsten auseinander, nehmen betrübt zur Kenntnis, daß man die Hochzeit ohne den Sohn werde feiern müssen, erfahren aber auch, was Arnold in seinen historischen Studien zu entdecken hofft. Er wolle Geschichte betreiben, so schreibt er, "um die werdende Geschichte besser zu verstehen": Mit dieser Wendung kolportiert er zunächst eine wohlvertraute Allerweltsfloskel, die vor allem nach einer Begründung ruft - für die Hoffnung nämlich, man könne aus der Geschichte, trotz Toqueville und Hegel, für die Gegenwart lernen. Keller weiß, daß diese Hoffnung begründungspflichtig ist, und so legt er Arnold denn auch eine Begründung in den Mund oder in die Feder: Arnold wolle Geschichte treiben "und ihre Dimensionen messen, ihre Bedingungswerte schätzen zu lernen." ( p. 159 ) Wenn Keller den Leser mit dieser Textstelle mehr irritiert als belehrt, so überläßt er ihn wenigstens nicht einsamer Grübelei über den Sinn dieser enigmatischen Formulierung. Er läßt den Leser vielmehr teilhaben an der Reaktion des Vaters Martin Salander, der ebenso indigniert wie konsterniert seinen Gefühlen freien Lauf läßt: "'Was Teufel ist das?' unterbrach sich Martin Salander, vergeblich über den Sinn der Phrase nachdenkend..." ( p. 161 ), und wenig später: "Dimensionen und Bedingungswerte der werdenden Geschichte! Gras wachsen hören! Will er eingeschlagene Eier backen, den Thermometer in der Pfanne?" ( p. 161 ).

Der Historiker, der den Spätroman Gottfried Kellers in den Kontext seiner Zeit, Kellers Zeit, zu stellen versucht, steht vor einem doppelten Problem der Interpretation. Er macht sich, wie ich es versucht habe, seinen Reim auf die Zeit, er kommt aber auch nicht darum, das Werk zu interpretieren, besonders dann, wenn er Grund zu haben glaubt, im Werk mehr als nur eine Darstellung, nämlich eine Interpretation der Zeit zu erkennen. Man richtet, als Historiker, den Blick auf die Zeit und auf das Werk, und man hofft, vom Werk auf den Blick seines Autors schließen zu können. Verrät uns die eben zitierte Textstelle etwas über den Blick des Autors? Geht es Keller um "Dimensionen und Bedingungswerte der werdenden Geschichte"? Oder geht es ihm nicht doch eher darum, den guten Arnold bei einem unausgegorenen Gedanken zu ertappen und damit die Glaubwürdigkeit auch dieses Hoffnungsträgers in Frage zu stellen?

Auf Spekulationen über diese Frage braucht sich der Historiker nicht einzulassen. Aber er darf es für seine Aufgabe halten, auf die schon angesprochenen Akzente zu achten, die Keller in seinem Romankonstrukt auf das Doppelproblem der Repräsentation von Welt und der Repräsentation des Selbst gelegt hat. Und in der Art und Weise, in der Keller diesen Akzent setzt, verrät sich zweifelsohne ein starkes Interesse an einer Analyse menschlichen Denkens und Handelns, die zur Klärung der "Dimensionen und Bedingungswerte der Geschichte" - der vergangenen und der werdenden - beiträgt: Klärung der Handlungs- und Wirkungszusammenhänge, in denen sich Geschichte vollzieht, Klärung der Wertbedingungen, man möchte sagen: der Konstellationen von Regeln des Denkens und des Handelns, die sich im Gang der Geschichte manifestieren. Dies wäre nun im einzelnen zu begründen und am Text nachzuweisen. Ich muß, darf mich mit einigen illustrativen Hinweisen begnügen:

Das ganze Personal des Romans, es handelt sich um ein gutes Dutzend Figuren, bewegt sich im Kontext rapiden, von Keller sehr präzise geschilderten sozialen Wandels. An diesem Wandel partizipieren sie als Nutznießer und Opfer; manche von ihnen verstehen kaum oder überhaupt nicht, wohin sie in diesem Wandel treiben. Andere fassen Mut, lassen sich tragen von einem zunächst fortschrittsgläubigen Zeitgeist, reklamieren ihren Anteil an den Wohlstandsgewinnen, die der Schweiz in den Wachstumsschüben der Fünfziger- und der frühen siebziger Jahre zufielen, schließen vom Konzept politischer Gleichheit der demokratischen Bewegung auf Sozialrechte, auf gleiches Recht aller Menschen an den erstrebenswerten Gütern dieser Welt; die Amalie Weidelich, Wäscherin von Beruf, dann ambitiöse, unendlich arbeitsame Vorsteherin einer Wäscherei, reklamiert, gleich im ersten Abschnitt des Romans, ein Recht auf schöne und große Blumen und weiße Bänder auf und an ihrem Hut, auch ein Recht auf die Sprache bislang Privilegierter, wenn sie sich von ihren Zwillingen nicht mehr als "Mutter", sondern als "Mama" ansprechen läßt; Keller legt ihr die Begründung in den Mund: "Wir sind Leute, die alle das gleiche Recht haben, empor zu kommen! ... Und für meine Kinder bin ich die Mama, damit sie sich nicht vor dem Herrenvolk zu schämen brauchen" ( p. 9 f. ). - Und einige Jahre später wird sie für ihre Söhne den Zugang zu den Bildungsgütern in Anspruch nehmen, den das demokratische Staatswesen weit geöffnet hat, wird ihren beruflichen Aufstieg antizipieren und flößt ihnen jenes Selbstvertrauen ein, das man braucht, um im Alter von fünfzehn Jahren sagen zu können, man werde studieren, die Rechte vielleicht, vielleicht Medizin. ( p. 95 )

Die Schulfreunde Martin Salander und Louis Wohlwend versuchten ihr Glück im Geschäftsleben, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, sich im elterlichen Milieu mit erfolgsträchtigen Verhaltensweisen und Gepflogenheiten vertraut zu machen. Salander kam zum erstrebten Erfolg gleichwohl, Wohlwend stolperte von einer Enttäuschung in die andere, vor allem: bereitete seinen Geschäftspartnern, auch dem Schulfreund Salander, bittere Enttäuschungen, eine bitterer als die andere. Wenn er sich - hart an der Grenze zum Bankerott - im Gespräch mit dem Ehepaar Salander als "ein Opfer des Verkehrs" d. h. des Geschäftsverkehrs, "des Kampfes ums Dasein" bezeichnete, dann war dies ein Stück nicht sonderlich überzeugender Selbstdarstellung, die bei Frau Salanders große Empörung auslöste. Ganz unbegründet war diese quasi sozialdarwinistische Selbstdarstellung jedoch nicht: Es ist und bleibt nun einmal so, wie selbst der Vordenker des Neoliberalismus,Milton Friedman, nachdrücklich zu bedenken gab, daß die Märkte die Belohnungen und die Bestrafungen gelegentlich sehr glückhaft und teuflisch zufällig verteilen.

Was geschieht mit Menschen im sozialen Wandel, wenn sie Erfolg haben? Was geschieht mit ihnen, wenn sie versagen? Salander wird zum Träger einer wenig realistischen Fortschrittsperspektive, in die er nicht bloß die Belange seines unerhört erfolgreichen Unternehmens rückt, sondern auch diejenigen des demokratischen Staatswesens. Bildungsgüter will er vermehren, jedem heranwachsenden Menschen weit über die Sekundarschulzeit hinaus bis zum zwanzigsten Altersjahr die Gelegenheit verschaffen, die Welt verstehen zu lernen, Geist und Körper zu schulen, musische Begabungen zu entfalten. Wenn seine Gattin den euphorischen Ausblick in die Zukunft des demokratischen Bildungsstaates mit der trockenen Bemerkung quittierte, dann müsse man dann wohl Menschen aus der Welt der Kolonien heranschaffen, um die Arbeit zu tun, irritierte dies den Ratsherrn Salander durchaus, hatte jedoch auf seine Erwarungshorizonte zunächst kaum Einfluß. Mit seinem Erfolg entgrenzte sich seine die Vision von glückbringender Ordnung menschlichen Lebens. - Wohlwend drehte und wendete sich und erfand sich selber, seine Rolle in der Welt, seine Aufgaben unter den Menschen immer wieder neu. Ein klinischer Fall, so urteilte schließlich ein berufener Fachmann, der auf das Schönste illustriere, wie solchen Menschen Strategien selektiver Wahrnehmung bzw. selektiver Ausblendung mißliebiger Tatbestände in der Inszenierung neuer Projekte zu Hilfe komme: Hier ertappt man Keller beim Versuch, zur Interpretation der Zeitgeschichte auf Invarianzen psychologischer Erklärungen abzustellen; gehören diese Invarianzen zu den "Bedingungswerten" des Arnold?

Die Abschnitte von Wohlwends Leben fügten sich nicht so zusammen, daß es ihm gelungen wäre, aus alter Erfahrung für neue Aufgaben zu lernen; er verliert von einem Abschnitt zum nächsten, was er an Erfahrung akkumuliert hat. Seine Maskeraden, die er immer wieder neu entwirft, dienen ja nicht bloß zur Tarnung ; sie manifestieren den Mangel an Kohärenz, die die Sequenz seiner Lebensabschnitte auszeichnet. - Die Zwillinge der Mutter Amalie Weidelich sind voll damit beschäftigt, der Programmatik Genüge zu tun, die die Mama für sie entworfen hat. Da blieb kein Spielraum, um Identität zu gewinnen, die über die Grenzen des Programms hätte hinausführen können. Immerhin, anders als Wohlwend, fanden sie Gelegenheit, gewisse Kompetenzen zu entwickeln, nützliche Kompetenzen, die es ihnen erlauben, Rollen zu spielen und die Zeitgenossen zu beeindrucken. Schreiben, unterschreiben lernen sie so gut, daß sie als junge Ratsherren Aufsehen erregende Proben ihrer Schreibkünste ablegen können. Auch als Notare kommt ihnen ihre Schreibkompetenz gelegen, besonders deshalb, weil die Zeit viele unterschriftsreife Dokumente hervorbringt, Pfandbriefe etwa, echte Pfandbriefe, vielleicht auch gefälschte, das Unterschreiben bleibt sich gleich: Als Dauer im Wandel gewissermaßen. Wer, wie sie, im turbulenten Wandel aller Verhältnisse Anpassungsleistungen zu erbringen hatte, an die Erwartungen der Mama, an die Erwartungen ihrer späteren Peers, ihrer Klientel, ihrer Wähler, der kann diese Anpassungsleistungen nur erbringen, wenn er die erforderliche Plastizität erwirbt und pflegt. Ihre Gattinnen, die Salandertöchter, entdecken nach einiger Zeit, daß sie keine Seelen haben: Die virtuosen Anpasser der Zeit können sich den Luxus festgefügter Identität gar nicht leisten, noch den Luxus politischer Überzeugungen. Man stellt seine Formulierungskünste, die auf diese oder jene "Überzeugung" bloß verweisen, statt sie zu reflektieren, strategisch in den Dienst des nächsten Schrittes auch politischer Anpassung.

Wie kommt eine Gesellschaft aus einer Krise wieder heraus, wenn sie in eine solche gerät? Durch Korrektur der Erwartungen; durch Klärung dessen, was die Handlungsspielräume der Menschen normativ begrenzt; durch Besinnung auf das, was viele Menschen als gemeinsame Geschichte anzusprechen lernen. Keller schreibt sein Alterswerk um die Mitte der achtziger Jahre, genau zu dem Zeitpunkt, in dem sich eine Überwindung der Krise abzuzeichnen beginnt. Und er läßt seinen Text in einer Art und Weise ausklingen, die sich den Vorgängen der Krisenüberwindung bemerkenswert präzise einfügen. Die Pamphletliteratur der Zeit spricht traditionelle Moral an, beschwört neue Moral, appelliert an moralische Haltung, stellt Forderungen an die Justiz; in einer Volksabstimmung vom Jahre 1879 stimmte das Schweizervolk einer Verfassungsvorlage zu, die das Todesstrafe-Verbot der Bundesverfassung von 1874 aufheben wollte. Die Zwillingsbrüder haben sich für Betrügereien vor Gericht zu verantworten und bekommen Gelegenheit, für lange Zeit sich allem Erwartungsdruck zu entziehen und im Zuchthaus an ihren Seelen zu laborieren. Die Mama stirbt vor Gram, mit ihr die Idee radikaldemokratischer Gleichheit. Wohlwend verschwindet im Ausland. Martin Salander fügt sich dem Wunsche seines Sohnes, der sich gegen den Ausbau der Geschäftstätigkeit über bislang beachtete Grenzen sträubt; seine Fortschrittsperspektive, die er nicht einfach gepflegt hat, der er im Grunde verfallen war, verliert unter dem kritischen Blick des Sohnes ihre Selbstverständlichkeit. Damit wird eine Überwindung der Gräben, die sich aufgetan hatten zwischen Altliberalen und Demokraten, denkbar. - Geschichte zieht viele Menschen in ihren Bann, nicht Zeitgeschichte freilich, sondern jene alte Geschichte, die von Gräben handelt, die man in der Gegenwart nicht zu überbrücken brauchte: Man feierte 1886 die Schlacht bei Sempach so prächtig, daß die Berner Zeitungen voll des Lobes waren über das Gesamtkunstwerk, das die Brüder des anderen Glaubens inszeniert hatten. Im Hause Salander sind die Freunde Arnolds damit beschäftigt, kommunikative Kompetenz einzuüben und zu erproben: Grundlagen zu legen zur Entfaltung persönlichen Vertrauens und auch dessen, was ich einleitend als Regelvertrauen angesprochen habe. Dies alles waren Bedingungswerte neuer historischer Entwicklung. -

Meine Damen und Herren, Keller wollte es vermeiden, daß man sein "Romänchen", wie er gelegentlich zu sagen pflegte, als "Pamphlet" mißverstand. Es ist sein Werk gewiß kein Pamphlet; doch vielleicht darf man es als ein Lehrstück bezeichnen, als ein Lehrstück auch und ganz besonders für unsere eigene Zeit.