Gottfried Keller

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Das Sinngedicht

Materialien Besonderes
Gliederung Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe
Zusammenfassung  
Eine zeitgenössische Besprechung  
 

Gliederung

 

Kellers Sinngedicht, 1881 erschienen, ist ein Novellenzyklus, der fünf Novellen kunstvoll in eine Rahmenerzählung einfügt.

Rahmenhandlung

Binnennovellen

Hauptpersonen: Reinhart und Lucie

Regine

 

Die arme Baronin

 

Die Geisterseher

 

Don Correa

 

Die Berlocken

 

 

Zusammenfassung

 

Die Eigenart des Werkes [...] liegt im Charakter der dialektischen Diskussionsnovelle. Ein in der Rahmensituation exponiertes Problem wird durch wechselweise vorgetragene Binnenerzählungen reflektiert und zu einer glücklichen Lösung geführt. - Das Problem stellt sich dem Naturforscher Reinhart, als er sich nach der Lektüre des Logauschen Sinngedichtes "Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen" sogleich auf den Weg macht, das empfohlene Experiment in die Tat umzusetzen, nach zwei enttäuschenden Versuchen aber, da die erste Schöne sich lachend küssen läßt, ohne jedoch zu erröten, während eine junge Pfarrerstochter beim Kuß ohne jede Spur von Lachen errötet, auf dem Landgut einer Dame namens Lucie erkennen muß, "mit welch weitläufigen Vorarbeiten und Schwierigkeiten der Versuch verbunden sein dürfte". Denn bei dieser ebenso anmutigen wie selbstbewußten, gebildeten und gereiften Persönlichkeit ist die Fortsetzung des galanten Experimentes ausgeschlossen. Statt dessen entwickelt sich ein Novellenduell, in das auch der Oheim Lucies erzählend eingreift. Das Thema führt über die im Lachen und Erröten angedeutete Polarität von Sinnlichkeit und Zucht, von innerer Freiheit und sittlichem Ernst, von Lebensheiterkeit und Gefühlstiefe hinaus und betrifft das Wesen der Liebe und der Ehe, vor allem aber die Frage der Ebenbürtigkeit von Mann und Frau. Die Erzähldiskussion bewirkt gegenseitige Annäherung der Standpunkte und der Herzen, so daß Reinhart und Lucie nach Monaten der Trennung ein Paar werden. Ohne noch an das Sinngedicht zu denken, bemerkt Reinhart, daß Lucie beim ersten Kuß errötend lacht.

(Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 4, S. 1206)

 

 

Eine zeitgenössische Besprechung

 

Die folgende Besprechung ist in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2.12.1881 erschienen. Ihr Autor ist Jakob Baechtold, dem wir die Standardbiographie über Gottfried Keller verdanken. Das Sinngedicht war zuerst in monatlichen Lieferungen in der Zeitschrift Die deutsche Rundschau publiziert worden, dann Ende 1881, mit einem neuen Schluß versehen, als Buch im Wilhelm Hertz Verlag, Berlin erschienen.

(Die Absätze in der Rezension wurden zur Verdeutlichung der Gliederung eingefügt und stammen nicht von Baechtold selbst.)

Feuilleton 1881.
Gottfried Keller's Sinngedicht.

Unter sämmtlichen poetischen Gattungen ist es ohne Zweifel die Novelle, welche in der neuern Zeit einer Pflege genießt, von der man selbst in der letzten klassischen Epoche unserer deutschen Literatur noch keine Ahnung hatte. Die Novelle ist zur eigentlichen Kunstform der Gegenwart geworden. Das zu Ende gehende Jahr hat uns einige Erzeugnisse dieser Art bescheert, die dem Referenten die Arbeit eben so leicht als freudig machen. An die Spitze derselben stellen wir den Novellencyklus von Gottfried Keller: das Sinngedicht, welches durch die Deutsche Rundschaubereits in tausend Hände gelangt ist und eben in zwei unmittelbar nach einander erschienenen Auflagen seinen weitern Gang durch die gebildete Welt macht.

Keller, der mit seinem reichen Talente so lange als ein kluger Haushalter zu Rath gegangen, genießt nun vollauf die Früchte jener Zurückhaltung, denn jede seiner Kundgebungen ist zu einem Ereigniß in der Literatur geworden. Geradezu wunderbar ist der Gang seiner Entwicklung. Man ist nun einmal daran gewöhnt, bei den Schöpfungen unserer Dichter einen Zenith anzunehmen, von welchem es mit den spätern Jahren merklich herunter geht. So philisterhaft diese Behauptung aussieht, so sicher sehen wir dieselbe sich täglich vollziehen. Denn nur Wenigen ist es beschieden, jenen strengen Maßstab der Selbstkritik an sich zu legen, welcher der Produktion unter Umständen Halt gebietet. Aber noch Wenigere tragen den unergründlichen Quell ächter Poesie so tief in sich, daß sie ihn nach und nach immer reiner zu Tage fördern. Unter diesen Wenigen aber ist Gottfried Keller heute der erste. Seine goldene Ader scheint unerschöpflich zu sein. Ohne nach links oder rechts zu schauen, wandert er seinen einsamen Weg; fern ab vom Getrieb der literarischen Börse stand er Jahrzehnde lang wenig beachtet und schweigend im Schatten; dann stellten sich allmälig die "Entdecker" Keller's ein und heute nennt ihn die Kritik übereinstimmend den größten Meister novellistischer Erzählungskunst. Was Keller zum wahren Dichter macht, ist eben die durch und durch ursprüngliche Erfindungsgabe und Gestaltungskraft. Da ist nichts Angelesenes, Angelerntes, wie denn das wohl zu Zeiten hinreichen mag, einen Dichter vorzustellen. Immer wird man bei Keller darüber staunen, mit welch' einfachen Mitteln die mächtigsten und nachhaltigsten Wirkungen hervorgebracht werden; die unerbittliche Wahrheit und Konsequenz der Charakteristik und psychologischen Motivirung werden stets mit der nämlichen Gewalt packen; die Schönheit, die unvergleichliche Anmuth, die überall waltet, der Humor, das Lustige und Schnurrige wird nie oft genug gepriesen werden. Dazu eine Sprache von elementarer Kraft und Einfachheit, mit den wundervollsten Bildern und unnachahmlichsten Wendungen gesättigt. Alles dieses gilt auf's Neue von der jüngsten Schöpfung unseres Dichters.

"Das Sinngedicht" betitelt sich dieser Novellencyklus, weil darin ein Epigramm des alten Logau von einem Naturforscher zu einem hübschen Experiment verwendet wird. Den jungen Gelehrten Ludwig Reinhart gelüstet es eines schönen Morgens, in die Welt hinauszureiten, um das bewußte Rezept: "Wie willst Du weiße Lilien | zu rothen Rosen machen? Küß eine weiße Galathee: sie wird erröthend lachen", zu erproben. Nach einigen reizenden Abenteuern, die ihn der Lösung des Problems nahe bringen, gelangt er zu der schönen und klugen Lux, welche dem Ankömmling, der die Behauptung aufstellt, daß bei der
Ehe Gleichheit des Standes und Geistes nicht geradezu unentbehrlich sei, sofort eine gute Lektion ertheilt. (Geschichte einer thörichten Jungfrau).

Reinhart's Widerspruchsgeist wird hiedurch gereizt; nach seiner Ansicht kann ein angesehener, gebildeter Mann sogar eine Magd vom Herde weg heirathen und mit ihr glücklich sein. Zum Beweis hiefür erzählt er die Geschichte von der Regine, ein großartiges Meisterstück Keller'scher Novellistik mit einer tief erschütternden Tragik. Hier tritt das Unheil erst ein, als aus der armen Magd unter Mitwirkung der "drei Parzen" eine Weltdame geworden.

Reinhart gibt alsdann noch die Erzählung einer Heirath aus Mitleid zum Besten: Die arme Baronin. Rührend schön ist diese Gestalt; durch ein grausames Schicksal verbittert, blüht eine verschämte arme Frauensperson wie ein "verkümmertes Myrthenbäumchen" an einem Werke der Barmherzigkeit auf. Man hat sich theilweise über den barocken Schluß dieser Novelle aufgehalten. Das ist Geschmacksache. Keller ist einmal kein Freund von Sentimentalitäten. Zudem weiß ja die Baronin gar nicht, wer die drei alten Lumpen sind, denen so toll mitgespielt wird. Ihr Mann aber läßt der Gerechtigkeit freien, scheinbar unbarmherzigen Lauf, führt übrigens dadurch jedem der Schufte noch eine verhältnißmäßig anständige Lebenswendung herbei.

Nun wird Reinhart durch die reizende Geschichte von den Geistersehern, der Liebesgeschichte seiner eigenen Eltern, in die Enge getrieben, worauf er zur Abwehr gegen die Ueberhebung des ebenbürtigen Frauengeschlechts die Eheabenteuer des Don Correa vorträgt. Der edle portugiesische Seeheld Don Correa ist mit einer hohen, gebildeten Dame übel angeführt und schließlich im Falle, dieselbe aufknüpfen zu lassen, während er sein zweites Weib im Negerlande buchstäblich vom Boden aufliest und mit ihr glücklich wird.
Die Schalkin Lux zahlt dem Erzähler augenblicklich heim mit den Berlocken. Es ist diesmal eine ganz Wilde, von welcher ein französischer Windbeutel tüchtig genarrt wird. Der verliebte Franzose gibt ihr alle seine Liebestrophäen, die er an der Uhrenkette zur Schau aushängt, hin, in der Absicht, ihre Huld zu erlangen, in Wirklichkeit aber dazu, daß die verschmitzte Person die beiden Nasenflügel ihres Indianerbräutigams, des Donnerbärs, mit den Herrlichkeiten ausstaffirt.

Damit nimmt das Novellengeplänkel ein erbauliches Ende; denn da man das, was man predigt, nicht immer selber zu halten braucht, macht schließlich der Naturforscher, nachdem sich das Sinngedicht auf's Schönste bewährt, die ihm ebenbürtige Lux zu seiner schönen Frau. Der Schluß der ganzen Erzählung ist in der Buchausgabe erweitert, indem die Lux noch eine selbst erlebte Herzensgeschichte vorbringt: sie ist nämlich einst aus naiver Liebesschwärmerei für einen Vetter katholisch geworden und dieser tritt während der Bekehrungsarbeit in den Orden des allerheiligsten Erlösers.

Wir unterlassen es, auf die Einzelheiten all' der menschlich schönen Probleme, die das Sinngedicht vorführt, einzugehen. Des Rühmens würde doch kein Ende. Gottfried Keller hat einen guten Jahrgang hinter sich und wir wünschen ihm und uns deren noch recht viele. Wer weiß, welche Früchte sein Genius noch gezeitigt hat!