Gottfried Keller

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Romeo und Julia auf dem Dorfe

Materialien Deutung und Adaption
Personen und Zeitgerüst Besprechung (Inhaltsangabe)
Quellen zu Kellers Erzählung Verfilmungen
Eine frühe Gedichtfassung Literaturhinweise
Ein gewagter Schluß  
Zeitgenössische Stimmen  
Die Empörung in Dänemark  
 

Materialien

 

 

Personen und Zeitgerüst

 


Hauptpersonen

Hintergrund

Nebenpersonen

Vrenchen

Marti, Bauer (Irrenhaus)

Bäuerin (Bettzeug)

Sali

Manz, Bauer, später Wirt

Frau Manz

 

Der schwarze Geiger

Zigeuner

 

Handlung

Zeitdauer (erzählte Zeit)

Textanteil (Erzählzeit)

Entzweiung der Bauern

 

 

Pflügende Bauern (Manz, Marti); Gespräch über Acker; Spiel der Kinder

ein Nachmittag

9.7%

Manz und Marti reißen Furchen in herrenlosen Acker

drei Jahre

0.7%

Verkauf des Ackers; Streit

mehrere Tage

5.5%

Ausweitung der Streitigkeiten; Verwilderung der Bauern

neun Jahre

15.2%

Streit der Bauern auf der Brücke; beginnende Liebe zwischen Sali und Vrenchen

ein Abend

4.1%

Verzweifelte Liebe

 

 

Gespräch und Spaziergang von Sali und Vrenchen; Begegnung mit dem schwarzen Geiger; Sali schlägt Marti nieder

ein Tag

17.9%

Vrenchen pflegt ihren Vater; dieser kommt ins Irrenhaus

sechs Wochen

2.8%

Sali und Vrenchen planen Festbesuch

ein Tag, eine Nacht

5.5%

Salis und Vrenchens letzter Tag; Ausflug, Tanz bei Zigeunern und Selbstmord

ein Tag

38.6%

(nach Beate Hermes)

 

 

Quellen zu Kellers Erzählung

 

Die Notiz in der Zürcher Freitags-Zeitung vom 3.9.1847

Sachsen. - Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödtlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirthschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.

 

Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr.258, 15.9.1847

Gustav Heinrich Wilhelm und Johanne Auguste Abicht. Nach den bei dem Königl. Kreisamte darüber ergangenen Acten mitgetheilt von Pastor M. Volbeding.

Allgemeines Entsetzen erregte in und außerhalb unserer Gemeinden das schreckliche Ende der oben Genannten, welche am 16. August auf Sellerhäuser Flur erschossen gefunden wurden. - Gustav Heinrich Wilhelm, 18 Jahre alt, war ein nachgelassener Sohn des Schmiedemeisters Carl Gottlieb Wilhelm in Großböhla, dessen Mutter jetzt in Zävertitz lebt. Johanne Auguste Abicht, Tochter des Brodbäckers Heinrich Christian Abicht in den Straßenhäusern bei Volkmarsdorf, wurde geb. in Volkmarsdorf den 25. Febr. 1831. Zwischen Beiden fand seit längerer Zeit ein Liebesverhältniß Statt und obwohl Wilhelm von seinen nverwandten gewarnt wurde, das Verhältniß aufzugeben, da er durch dasselbe zu einem Aufwande veranlaßt werde, welcher seinen Verdienst übersteige, so erneuerte sich dasselbe doch wieder. Am Sonnabend den 14. wohnten Beide einem  Tanzvergnügen im Odeon in Leipzig bei, und kehrten von demselben erst Sonntag den 15. früh um 7 Uhr zurück. Diesen Sonntag sollte sowohl Wilhelm, als auch die Abicht zu Hause zubringen, von seinen Anverwandten war es wenigstens Wilhelm ausdrücklich untersagt, auszugehen. Nichts desto weniger nahmen Beide am Sonntag Abend an dem Tanze auf den drei Mohren, in Anger, Antheil. Das Mädchen in ihrer gewöhnlichen Hauskleidung. Bis nach 1 Uhr früh, Montag ben 16., sollen sie in dem Saale anwesend gewesen sein. - Am Morgen des 16. August, Montag, sah die Ehefrau des Hausbesitzers Schmidt aus Sellerhausen, welche auf einem Stück Pachtfelde beschäftigt war, in einiger Entfernung Beide liegen, ohne sich indeß näher um sie zu bekümmern, da sie der Meinung war, es seien zwei schlafende Pesonen. Der Erste, welcher die Entseelten, ungefähr halb 10 Uhr Vormittags, fand, war der Gutsbesitzer Herr Axmann aus Sellerhausen. Dieser gewahrte neben den Leichnamen ein Pistol, einige Pappkästchen - in einem derselben war ein Haarband befindlich - und eine kleine Düte mit Schießpulver. Durch Herrn Axmann wurde der Gutsbesitzer und Gerichtsschöppe, Herr {Fichtner}, sogleich in Kenntniß von dem Geschehnen gesetzt und während durch denselben die Anzeige bei dem Königl. Kreisamt - welches die Obergerichte ausübt - erfolgte, war der zum Flurschutz in Sellerhausen anwesende Schütze als Wache zu den Leichnamen gestellt. - Die Leichname lagen in Sellerhäuser Flur an dem Fußwege, welcher von Anger nach Sellerhausen durch die Kohlgärten führt und zwar zur linken Seite dieses Weges, | in der Richtung von Anger her. *Dort lagen die beiden Körper dicht neben einander auf dem Erdboden lang augestreckt; sie lagen auf dem Rücken, das Mädchen zur rechten Seite, mit der Kopfseite zunächst an einigen Büschen. - Der Nachtwächter Härtig aus Sellerhausen fand, ungefähr 15 Schritte von den Leichnamen entfernt, ein zweites Pistol auf und näher nach den Leichnamen lag der dazu gehörige Ladestock, so verbogen, daß er in dieser Krümmung zum Laden nicht mehr als tauglich betrachtet werden konnte. Da der Andrang von Menschen eine genauere Erörterung der Sache und Untersuchung der Leichen an Ort und Stelle unmöglich machte, so begab man sich nach Sellerhausen und die Leichname wurden daselbst im Spritzenhause niedergelegt. - Der zum Flurschutz in Sellerhausen anwesende Schütze gab an, daß er vergangene Nacht, ungefähr um 2 Uhr, drei Schüsse habe fallen hören, die beiden ersten in schneller Aufeinanderfolge, den dritten ungefähr 10 Minuten später; da indeß von den Flurwachen öfters geschossen würde, sei ihm dies nicht auffällig gewesen. - Die nähere Besichtigung und Untersuchung der Leichname ergab nun vor Allem das augenblicklich Tödtliche der Verwundungen, denn bei Wilhelm war der Kopf völlig zerstört; bei dem Mädchen dagegen war die linke Seite des Gesichts aufgerissen, die Kinnlade und die hintern Halsknochen zerschmettert und gänzlich zerstört, während der obere Theil des Kopfes ohne Verletzung war. In dem Gesichte war keine Spur von Pulverbrand zu sehen. - Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Mädchen von Wilhelm erschossen und dann entleibte er sich selbst. Seine Hände waren voll Blutflecken und von Pulver geschwärzt. Nach dem, was vorlag, so weit menschliches Urtheil reicht, war Wilhelm Mörder und Selbstmörder zugleich; sein Leichnam wurde an die Anatomie zu Leipzig abgegeben, während den Angehörigen der Abicht überlassen blieb, dieselbe, jedoch nur in der Stille, zu beerdigen. - Die Pistolen, deren sich Wilhelm zu dem Verbrechen bediente, waren zwei schwere Cavalleriepistolen; in der einen derselben, welche von Hrn. Axmann} aufgefunden worden war, befand sich noch die Ladung und zwar so übermäßig stark, daß die Hälfte des Laufes vollgepfropft war; wenn daher die andere, mit welcher Wilhelm die That vollführte, eine gleich starke Ladung enthalten hatte, so läßt sich die entsetzliche Wirkung erklären und ebenfalls ist es augenscheinlich, daß das Pistol, nach dem Abfeuern, bis auf die angegebene Entfernung zurückgeschleudert werden mußte.

Ueber die Ursachen des Mordes und Selbstmordes sind die verschiedensten, oft widersprechendsten Gerüchte im Umlauf; ebenso beschäftigt man sich eifrig damit, ob das Mädchen von dem Vorhaben unterrichtet gewesen und sie, mit ihrer eigenen Zustimmung, sich den Tod geben ließ, oder nicht? Alles dies sind immer nur Vermuthungen und können zu Nichts führen. So viel steht fest, daß zwischen den beiden jugendlichen Verirrten ein Verhältniß stattfand, wie es in ihren Jahren nicht stattfinden sollte und daß das Schaudererregende der That noch gesteigert wird durch die im Tanz durchschwärmten Nàchte.

 

 

Eine frühe Gedichtfassung

 

Auf einem Einzelblatt in Kellers Nachlaß (Ms. GK 20) finden sich folgende Strophen mit dem Eingangsbild, die belegen, daß Keller zeitweilen eine lyrische Behandlung des Themas plante.

Aus eines stromdurchzognen reichen Grundes
gedehnten Feldern, Wäldern, Flur und Moor
hob eine Welle dieses Erdenrundes
den breiten Rücken sonnbeglänzt empor.

nicht eine Welle, die im Kampf sich ballte,
mit scharfem Grat, von weißem Schaum gekrönt,
nein, die noch langsam hin und friedlich wallte
als sich die Elemente ausgesöhnt. --

Das Grün des Friedens kleidet ihre Lenden,
ein zartes Grün von jungem [Birkenschlag,] ⟨Birkenhain⟩
doch von der Höhe winkt den Menschenhänden
der Ernte Gold im heitern Sonnenschein.

Dort dehnen sich drei mächtige Acker^längen,
Drei Bänder, über [den]¬ die sanfte Wölbung hin,
Wer in der Niedrung steht, sieht drüber den Himmel hängen
und durch die Aehren die weißen Wolken zieh'n.

Drei Aecker, eine wahre Augenweide
für jeden, der geführt schon einen Pflug
die laufen nebeneinander über die Haide
in grader Flucht vor unsers Auges Flug.

Auf zweien dieser Aecker, die den dritten
in ihre Mitte schließen, war die Frucht
die unschätzbare, eben abgeschnitten
geführt schon in der Scheunen sichre Bucht

Da lagen sie gestreckt in braunen Farben,
die unzähbar die welke Stoppel lieh
verlassne Jugendheimath goldner Garben;
der Sommermorgen überthaute sie.

 

 

Ein gewagter Schluß

 

Das tragische Ende von Kellers Liebesgeschichte ist bekannt:

Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.

Danach folgt der distanzierte Schluß-Absatz:

Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen zugrunde gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen Nachmittag herzlich mit einander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten, abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.

Diesem Schluß folgte in der ersten Buchfassung von 1856 noch die "Moral der Geschichte":

Was die Sittlichkeit betrifft, so bezweckt diese Erzählung keineswegs, die That zu beschönigen und zu verherrlichen; denn höher als diese verzweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsagendes Zusammenraffen und ein stilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit gewesen, und da diese die mächtigsten Zauberer sind in Verbindung mit der Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles möglich gemacht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen Einflusse die Dinge, vernichten die Vorurtheile, stellen die Ehre her und erneuen das Gewissen, so daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung ist.

Was aber die Verwilderung der Leidenschaften angeht, so betrachten wir diesen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß dieses allein es ist, welches die Flamme der kräftigen Empfindung und Leidenschaft nährt und wenigstens die Fähigkeit des Sterbens für eine Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der Romanzendichter nicht aus der Welt verschwindet. Das gleichgültige Eingehen und Lösen von "Verhältnissen" unter den gebildeten Ständen von heute, das selbstsüchtige frivole Spiel mit denselben, die große Leichtigkeit, mit welcher heutzutage junge Leutchen zu trennen und auseinander zu bringen sind, wenn ihre Neigung irgend außer der Berechnung liegt, sind zehnmal widerwärtiger, als jene Unglücksfälle, welche jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die Schreibtafeln der Balladensänger füllten. Wir sehen alle Tage etwa einen wohlgekleideten Herrn, der seine Frau oder Braut mitten auf der Straße plötzlich stehen läßt und auf die Seite springt, weil irgend einem Schlächter eine alte Kuh entsprungen ist und bedrohlich dahergerannt kommt. Höchstens aus der Ferne, hinter einer Hausthür hervor, schwingt er sein Stöckchen und macht: Bscht! Bscht! Solche Leute werden sich allerdings nicht aus Eigensinn und Leidenschaft um's Leben bringen, wenn man sie trennen will. Ebensowenig diejenigen, welche in allen Zeitungen ihre "stattgefundene" Verlobung anzeigen und vierzehn Tage darauf einen Inseratenkrieg führen, wo jeder Part sich rühmt und behauptet, das "Verhältniß" zuerst abgebrochen zu haben.


Diese Sympathiebekundung des Autors für die eigenen Figuren hat vielen zeitgenössischen Lesern nicht gepaßt. Schon dem später mit Keller befreundeten Schriftsteller Pauls Heyse, der die Novelle in seine Muster-Sammlung Deutscher Novellenschatz aufnahm, war das Ende zu dick. Er ließ nicht nur die zwei letzten, sondern auch noch den drittletzten Absatz weg, so daß die Geschichte damit endete, wie die beiden in die "kalten Fluten" glitten.

Keller war zwar mit einer Kürzung einverstanden gewesen, aber nicht so radikal. Er setzte in der nächsten Buchausgabe (2. Auflage) immerhin den drittletzten Absatz, der die Meinung der Leute von der "Verwilderung der Leidenschaften" ironisiert, wieder ein. Es ist der noch heute übliche Textschluß.

 

 

Zeitgenössische Stimmen

 

Berthold Auerbach in der Allgemeinen Zeitung vom 17.4.1856

Auerbachs Besprechung der Leute von Seldwyla in der Allgemeinen Zeitung war für Keller von außerordentlicher Wichtigkeit und trug viel zu dessen Bekanntwerden bei. Von Auerbach, dem Meister der 'Volksliteratur', stammten die Schwarzwälder Dorfgeschichten. In Berthold Auerbach's deutschem Volks-Kalender wurde 1861 Kellers Fähnlein der sieben Aufrechten erstmals veröffentlicht.

Bevor ich zu der dritten Erzählung übergehe, die ich mit dem höchsten Lob hervorheben möchte, muß ich dem Dichter einen schweren Vorwurf machen: er hat an den Schluß dieser Erzählung und sogleich an den Anfang der nächsten die Versicherung gestellt daß sie "durchaus nicht etwa erfunden seyen," sondern "auf einem wahren Vorfall beruhen." Das ist kurzweg gesagt ein Philisterzopf. Wozu sollen diese Versicherungen der bloßen Wirklichkeit? Und dazu sind sie doch nur poetische Licenz. Wir können keine Gestalten und Verhältnisse erfinden die jenseits unserer Anschauungen liegen. Wir können keinen Baum erfinden wie er nicht in der Natur wäre, oder sich an die Gesetze der gegebenen Natur anschlösse. Jeder Durchgang des Geschehenen und Vorhandenen durch die Betrachtung des Dichters und Künstlers aber macht die gemeine Wirklichkeit zu einer andern, kann nicht anders, trotz aller Versicherungen strengster Objectivität. Es kommt in der realistischen Dichtkunst, die vom Leben ansetzt, nur darauf an daß die innere Wahrheit und Nothwendigkeit sich herausarbeite. Die realistische Dichtung hat ihr Hauptaugenmerk in der Motivirung, in der Herbeiführung der Nothwendigkeit des Geschehenden; ob dieses auch in der äußern Welt so war, thut nichts dazu und nichts davon; nicht weil etwas geschehen ist, ist es dichterisch glaubhaft, sondern weil es nach der Ueberführung eines jeden aus inneren Gründen geschehen muß. Und in der dritten Erzählung "Romeo und Julia auf dem Dorfe," hat der Dichter mit solcher Meisterschaft eine so berückende und bezwingende Nothwendigkeit und Folgerichtigkeit herbeigeführt, daß er in dieser Erzählung im Bau des Ganzen wie in wahrhaft berauschenden Einzelheiten ein Kunstwerk geschaffen, das nicht viele seines Gleichen in der deutschen Litteratur hat, und diese Erzählung allein müßte Gottfried Keller den Namen eines vollgediegenen Dichters zuwenden. Das Landschaftliche wie das Menschenleben, Empfindung und Schicksal, das langsam Genetische wie das plötzlich sich Entfaltende ist mit gleicher künstlerischer Innigkeit behandelt. Diese Geschichte ist wie ein erweitertes Volkslied, und dabei doch mit jener Behaglichkeit und Sorglosigkeit ausgeführt, wie wir sie in Tristan und Isolde finden, wobei die verfänglichsten Situtationen mit reiner Naturtrieblichkeit erfaßt sind. Es ist ein keckes und waghalsiges Thema, das Gottfried Keller hier aufgegriffen, aber es ist mit solcher Sicherheit und innerster Decenz durchgeführt, daß es seine Rechtfertigung eben nur in solcher Ausführung darstellt.

Darum war es auch durchaus nicht am Platze daß der Dichter am Schlusse diese Rechtfertigung selbst übernimmt. Die Zimperlichkeit, die alles freie Schaffen in die pensionatsfähige Familienlitteratur einbannen möchte, bekehrt er damit doch nicht. Die freie Dichtung kann die Schonung unerfahrener Jugend nicht allzeit im Auge haben, und in der Art wie der Dichter hier nur dem Volk allein eine absolute Leidenschaft zuerkennt, begeht er noch dazu eine Ungerechtigkeit. Die erneuerte Volksdichtung sucht zu zeigen daß in den sogenannten niederen Schichten die Hoheit des Menschengeistes in gleicher Weise sich kundgibt. Und wenn hier die Leidenschaft sich noch mehr in elementarischer Ungebrochenheit erweist, so kann diese selbst doch nicht als eine Prärogative der Charaktere aus dem Volk ausgesprochen werden, und wenn irgendje, war hier ein ªfabula docet¨ durchaus nicht am Platz. Eher dürfte das Nachconstruiren von Verhalten und Reden zweier Liebenden, die sich selbst den Tod gaben, eine ästhetische Frage seyn: ob es nämlich möglich sey, und im Bereiche der Kunst liege, Zustände die niemand gesehen in solcher Fassung vor uns sich abspielen zu lassen; aber der Dichter hat in besonnener Art den poetischen Indicienbeweis hier aufgenommen: das leere Heuschiff an der Brücke erlaubt ihm rückwärts zu gehen alle die stillen Pfade des Empfindens und Genießens, die er in der reinsten Helle uns führt.

Es sey mir gestattet hier noch auf den Unterschied hinzudeuten den diese Behandlung des gewählten Stoffes von der Romantik unterscheidet. Ein Romantiker hätte in der Lust an dem Vagabundarischen den schwarzen Geiger, der als Heimathloser um sein Vatergut betrogen wird, zum Helden gemacht. Der realistische Dichter wählt das Liebespaar, das sich bürgerlich und gemüthlich retten will und doch in den Untergang verfällt. Durch diese ganze Geschichte tönt es wie die alte Volksweise:

Es hat ein Knab ein Mädchen lieb,
Sie liefen heimlich von Hause fort,
Es wußt's nicht Vater noch Mutter.

Sie liefen weit ins fremde Land,
Sie hatten weder Glück noch Stern,
Sie sind verdorben, gestorben.

 

Aus der Rezension von Friedrich Theodor Vischer (1874)

[...] alle Hebel aber in dieser Erzählung, die Kellers Ruf begründet hat, wirken zusammen um im Leser das wahre und ganze Schicksalsgefühl entstehen zu lassen, das Gefühl jenes unberechenbaren Gewebes in welches der Mensch hineingeflochten wird, an welchem er strebend und wollend mitwebt, ohne zu wissen was er webt, und das ihn an entschuldbarer Schuld erfassen, zusammendrücken, all sein Glück und sein Leben selbst vernichten kann. Es ist ganz kindisch über die traurige Brautnacht und den Selbstmord dieser Armen zu moralisiren; es ist Geschmackssache ob sich einer lieber an seiner Wohlweisheit weidet oder schauernd im reinen Weh des Mitleids vor dem Bilde des Schicksals steht. Keller hat ganz ausreichend gesorgt die zwei Opfer mitten in der Gluth ganz seelenrein zu erhalten, direct und durch den Contrast mit der wilden Gesellschaft in die sie gerathen, von der sie sich aber trennen; was geschieht, ist das reine Resultat der Liebe und Verzweiflung. Vielleicht hätte selbst der Schlußsatz dieser Novelle in der zweiten Redaction wegbleiben dürfen, man fühlt zu merklich darin die Degen-Parade gegen die Philister.

(Allgemeine Zeitung, 26.7.1874)

 

 

Die Empörung in Dänemark

 

Am stärksten waren die Reaktionen in Dänemark, nachem eine Übersetzung von Romeo und Julia auf dem Dorfe und Das Fähnlein der sieben Aufrechten erschienen war. Georg Brandes, der Übersetzter, berichtet 1884 in einem Brief an Gottfried Keller darüber:

Die Worte, die in meiner 1875 erschienenen Uebersetzung über "Romeo u. Julie" und "Die sieben Aufrechten" standen, lauteten wörtlich: "Keine der hier übersetzten Novellen ist satirischer Art. Es sind Liebesgeschichten verschiedener Natur. Die erste eine Liebestragoedie, die zweite eine humoristische Idylle. Der Verfasser hat es gewagt, die erste mit dem Namen "Romeo und Julie" zu nennen, und seine Kühnheit ist nicht zu gross gewesen. Es finden sich eine erotische Innigkeit und ein erotisches Feuer in dieser Erzählung, das nicht reiner und stärker in den Werken der grössten Meister brennt, und es ist ein nur allzu wahrer moderner Zug, dass das Hinderniss für die Vereinigung der beiden Liebenden hier nicht vorzugsweise der Hass der streitenden Familien sondern die Aussichtslosigkeit der jungen Leute ist ihr Brod zu verdienen. Die zweite Erzählung ist als vollständiger Gegensatz der ersten gewählt. Sie schildert eine kleine Gruppe tüchtiger und ehrbarer Handwerksmeister, wie die erste ein Paar heruntergekommene Familien aus dem Bauernstande; sie ist ebenso reich an lichter Zukunftshoffnung wie jene tragisch durch ihr Verschmelzen von Liebe und Tod; ihre Liebesgeschichte ist ebenso bürgerlich züchtig und ehrenhaft wie die Leidenschaft Sali's und Vrenchen's glühend und rücksichtslos war; ja so strenge ist gute Schweizersitte wahrgenommen, dass die Liebenden nicht einmal in dem Schlussaugenblick am Festesabend allein bleiben. Die zwei Frauengestalten bilden, gleich vorzüglich, einen schlagenden Gegensatz; der spröde Trotz Herminens hat seine Anmuth wie die weibliche Hingebung Vrenchens; es sind zwei junge Mädchen, welche ein Kritikier - ohne sie dadurch zum Boden zu schlagen - mit Gretchen und Clärchen würde zusammen nennen können."


Es wird Ihnen vielleicht noch erinnerlich sein, wie diese unschuldigen Worte 1875 zu einem wahren Wuthausbruch der dänischen, pfäffischen Presse Anlass gaben. Ich wurde beschuldigt "die freie Liebe" in Dänemark einführen zu wollen, die zwei Novellen wurden so verschrien, dass keine Dame sie zu kaufen wagte, ja dass der Verleger sie nicht avertiren wollte und erst in {diesem} Jahr sie wieder zum Verkauf angezeigt hat. Man schrieb über mich: "jetzt habe ich endgültig in Faulheit und Schmutz Wurzel getrieben" etc.

Damals stand ich fast allein, der Versuch Sie zu übersetzen war mein letzter Versuch, in Dänemark mein Brod zu verdienen. Im folgenden Jahr verliess ich das Land und habe 6 Jahre in Deutschland verlebt.

(Georg Brandes an Keller, 15.6.1884, zit. nach Original: Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 79, Nr. 257; bisher unveröffentlicht)

 

 

Deutung und Adaption

 

 

 

Besprechung in Kindlers Literatur Lexikon

 

Novelle von Gottfried Keller, erschienen 1856. - Der Text nimmt im Zyklus Die Leute von Seldwyla eine Ausnahmestellung ein. Thematisch Shakespeares Drama von Liebe und Tod zweier Veroneser Adliger verpflichtet (An Excellent Conceited Tragedie of Romeo and Juliet), geht er auf ein tatsächliches Ereignis zurück, von dem Keller aus der "Züricher Freitagszeitung" vom 3. 9. 1847 erfuhr. Der Versuch, das Ereignis als episches Gedicht darzustellen, scheiterte 1849. Erst 1855 vollendete Keller die Novelle und sah sich verpflichtet, in einem Vorwort eine Begründung für seine Adaption eines berühmten literarischen Stoffes zu geben: "Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten." Das "neue Gewand" ist die bäuerlich-kleinbürgerliche Lebensform des 19. Jh.s, deren Werte und Normen, nicht der Eingriff eines anonymen Schicksals oder transzendentaler Mächte, Kellers jugendliche Helden in den Tod treiben.

Bereits das berühmte Eingangsbild typisiert die scheinbar unumstößliche, archaisch wirkende Ordnung des bäuerlichen Lebens: Zwei Bauern, Manz und Marti, Nachbarn aus einem Dorf bei Seldwyla, pflügen an einem Sommermorgen "ruhevoll" ihre Äcker: "es war schön anzusehen in der stillen goldenen Septembergegend, wenn sie so auf der Höhe aneinander vorbeizogen, still und langsam, und sich mälig voneinander entfernten, immer weiter auseinander, bis beide wie zwei untergehende Gestirne hinter die Wölbung des Hügels hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu erscheinen." Getrennt werden die Äcker durch ein brachliegendes Feld, von dem beide Bauern bei Abschluß ihres Tagwerks noch jeweils eine tüchtige Furche reißen. Eigentümer der Brache ist vermutlich, die beiden zweifeln nicht daran, der "schwarze Geiger", ein aus der Gemeinde Ausgeschlossener und in den Augen der Bauern ebenso "verwildert" wie sein Feld, der jedoch die nötigen Papiere nicht beibringen kann, die seinen Anspruch auf das Feld belegen würden. Manz kann schließlich das Feld auf einer öffentlichen Versteigerung erwerben. Aber da sich Marti zuvor noch, gegen jede augenfällige Ordnung der Felder, ein Dreieck aus dem Brachland ausgeschnitten hat, beginnt zwischen beiden Bauern ein ruinöser Rechtsstreit. Manz erfüllt ein "wunderbarer Sinn für Symmetrie und parallele Linien", jeder der vormals befreundeten Kontrahenten fühlt sich nun "in seiner wunderlichen Ehre gekränkt", und ihre Händel haben erst ein Ende, als beide sich um Haus und Hof prozessiert haben.

Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem die Kinder der beiden Bauern, Sali und Vrenchen, "welche weder eine gute Hoffnung für ihre Zukunft fassen konnten noch sich auch nur einer lieblich frohen Jugend erfreuten, da überall nichts als Zank und Sorge war". Das Mädchen leidet unter der "Tyrannei eines verwilderten Vaters", und es fällt ihr schwer, sich "ordentlich und reinlich" zu kleiden. Auch Sali, Sohn von Manz, fühlt, "wie er nichts Rechts vor sich hatte und ebensowenig Rechts lernte", wo es sein Bedürfnis ist, "im ganzen einfach, ruhig und leidlich tüchtig zu sein". Die Zuordnungen haben sich verkehrt, die Welt der Väter ist nunmehr eine Sphäre des "verwilderten" Lebens, die Attribute bürgerlicher Ordentlichkeit sind ins Unerreichbare geschwunden. Manz übernimmt einen verkommenen Gasthof in Seldwyla, Marti bleibt mit wenigen vernachlässigten Feldern auf dem Land, beide suchen schließlich durchs Fischen, wie alle "fallierten" Seldwyler, sich und ihre Familien zu ernähren. Sali und Vrenchen kennen sich von klein auf, mit dem Streit der Väter verlieren sie sich aus den Augen und begegnen sich erst wieder, als ihre Väter auf einer Brücke in wütenden Streit geraten. Sali und Vrenchen treten dazwischen, "und in diesem Augenblick erhellte ein Wolkenriß, der den grellen Abendschein durchließ, das nahe Gesicht des Mädchens, und Sali sah in dies ihm so wohlbekannte und doch so viel anders und schöner gewordene Gesicht. Vrenchen sah in diesem Augenblick auch sein Erstaunen und es lächelte ganz kurz und geschwind mitten in seinem Schrecken und in seinen Tränen ihn an."

Am andern Tag schleicht Sali sich in das alte Dorf zurück und trifft Vrenchen schließlich an jenen Äckern, die ihre Väter einst pflügten, wo sie "Hand in Hand" entlanggehen: "sie legten zwei und dreimal den Hin- und Herweg zurück, still, glückselig und ruhig, so daß dieses einige Paar nun auch einem Sternbilde glich, welches über die sonnige Rundung der Anhöhe und hinter derselben niederging, wie einst die sicher gehenden Pflugzüge ihrer Väter". Zwar stört sie unvermutet der schwarze Geiger, der das Schicksal ihrer Eltern als Ausgleich für den ihm angetanen Schaden betrachtet, aber schließlich können sie einander ihre Liebe gestehen und bauen sich im Kornfeld "einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die ihnen hoch über den Kopf ragten, als sie drin saßen, so daß sie nur den tiefblauen Himmel über sich sahen und sonst nichts von der Welt". Marti aber überrascht das junge Paar, und als er beginnt, Vrenchen zu mißhandeln, schlägt ihn Sali, "halb in Angst um Vrenchen und halb im Jähzorn", mit einem Stein nieder. Sechs Wochen liegt Marti im Koma; er erwacht als Debiler, und Sali hat damit endgültig das mögliche Glück mit Vrenchen zerstört: "Doch kann ich dich nie bekommen, auch wenn alles andere nicht wäre, bloß weil du meinen Vater geschlagen und um den Verstand gebracht hast! Dies würde immer ein schlechter Grundstein unserer Ehe sein und wir beide nie sorglos werden, nie!" Martis Anwesen wird nun gänzlich versteigert, er selbst von der Gemeinde in "einer Stiftung für dergleichen arme Tröpfe auf öffentliche Kosten" untergebracht, und binnen zwei Tagen muß Vrenchen das Haus räumen.
Erneut erscheint Sali, und mit ihm will Vrenchen einen Tag verbringen, bevor sie sich irgendwo als Dienstmagd verdingen muß: "Vorher aber möchte ich einmal, nur einmal recht lustig sein . . .; ich möchte recht herzlich und fleißig mit dir tanzen irgendwo." Sali verkauft seine Uhr, ersteht aus dem Erlös für Vrenchen ein Paar Schuhe, und zusammen wandern sie in ein Dorf, wo man sie nicht kennt - nicht ohne daß zuvor Vrenchen jener Bäuerin, der sie ihr Bett verkauft hat, Sali als ihren Bräutigam vorstellt, der in der Lotterie unermeßlich reich geworden sei, was jenen Ausbruch an Herzlichkeit bewirkt, den die beiden sonst von den Leuten von Seldwyla nie erfahren haben. Soziale Sicherheit, Anerkennung und immer wieder die Attribute des Reinlichen und Sauberen - dies sind die Kennzeichen, die beider Utopie ausmachen und die sie nicht verwirklichen können. Sie wandern auf ein Dorf zu, werden von der dortigen Wirtin für "rechtliche junge Leutchen" gehalten, ein Urteil, das sich wiederholt, als sie sich in einem anderen Wirtshaus zum Mittagstisch niederlassen. Als aber am Abend, auf einem Kirchweihfest, einige Seldwyler sie erkennen und ihr Glück mit "Neid" mustern, fliehen sie dorthin, "wo das arme Volk sich lustig macht, zu dem wir jetzt auch gehören". Dort - der Garten trägt den Namen "Paradiesgärtlein" - spielt auch der schwarze Geiger auf, der ihnen rät, ihr Leben außerhalb der bürgerlichen Konventionen zu führen. Gerade dies aber ersehnen die beiden nicht: "Das Gefühl, in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe glücklich sein zu können", war in Sali "ebenso lebendig wie in Vrenchen". In der Gesellschaft der "Heimatlosen" verbringen sie den Rest der Nacht und dulden es, daß der schwarze Geiger in einer "spaßhaften Zeremonie" ihre Trauung simuliert. Schließlich folgen sie dem wilden tanzenden Zug der ausgelassenen Gesellschaft durch ihr früheres Heimatdorf und über die Felder zu den drei Äckern, "so daß es ein wahrer Blocksberg war auf der stillen Höhe". Der bürgerlichen Welt können sie nicht, dem Bereich des "Blocksbergs" wollen sie nicht angehören - um ihre Liebe zu erfüllen, bleibt daher nur ein Weg: "Es gibt nur eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen dann aus der Welt." Ein am Flußufer angebundenes Boot wird ihnen zum "Brautbett" und zum Todeslager: Das Schiff treibt in den Nachtstunden den Fluß hinunter, und als "es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten."

Kellers "unvergängliche Novelle" (W. Benjamin) zeigt eine bürgerliche Welt, die, anders als etwa in Goethes Hermann und Dorothea, von einem bornierten Erwerbssinn erfüllt ist, der Eigenschaften wie persönliche Ehre und Anerkennung der gesellschaftlichen Normen als Legitimation für Erfolg wie für die Zugehörigkeit zu dieser Welt voraussetzt, Eigenschaften, die in Hegels Ästhetik - Keller war mit ihr vertraut - der feudalen Welt zugerechnet werden. Die Väter des jungen Paares glauben ihre Ehre zu vergrößern durch "Vermehrung ihres Eigentums" und führen deshalb einen Rechtsstreit ungeachtet seiner Kosten; den Kindern wird diese Vorstellung von Ehre zum Verhängnis. Der Gedanke an Rebellion oder Flucht ist ihnen ganz fremd, denn jener bürgerlichen Sphäre, von der sie aufgrund ihrer Armut ausgeschlossen sind, wollen sie gerade angehören: "Als letztes Bekenntnis zur bürgerlichen Ordnung, zum bürgerlichen Selbst, gehen sie in den Tod" (M. Swales). Es macht auch den Rang dieser Novelle aus, daß sie weder ausschließlich als Kritik an einer bürgerlichen Lebensform noch als säkularisierte Parabel auf die Gebrochenheit alles Irdischen sich lesen läßt, wie auch Sali und Vrenchen sich allein weder als Märtyrer einer antibürgerlichen Utopie noch als Vertreter eines idealen Christentums deuten lassen. An Wertungen und Rechtfertigungen war der Autor letztlich wohl nicht interessiert. Keller hatte zwar die Erstausgabe ursprünglich um eine kommentierende Schlußbemerkung ergänzt, in der er einerseits Entsagen predigt, andererseits diesen Ausbruch der Leidenschaft im Vergleich mit der herrschenden Gleichgültigkeit positiv beurteilt; aber bereits 1856 spricht er von der Notwendigkeit, diesen "schnöden Schluß" zu streichen, was allerdings erst mit der Neuauflage 1874 geschehen konnte.

Aus:
Kindlers neues Literaturlexikon © CD-ROM 1999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag GmbH

  
LITERATUR:
Gottfried Keller, "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Erläuterungen u. Dokumente, Hg. J. Hein, Stuttgart 1971 (Reclams Universalbibliothek, Nr. 8114).

 

 

Verfilmungen

 

 Der Film von Hans Trommer (1941)

Schweizer Filmklassiker; Mundartfilm. Im Gegensatz zu Käutners Verfilmung von Kleider machen Leute versucht Hans Trommers Romeo-und-Julia-Verfilmung, Kellers epischen Gestus im neuen Medium umzusetzen. Dies führt zu Bildern von großer poetischer Eindringlichkeit: eine der wenigen gelungenen Literatur-Verfilmungen überhaupt.

 

Fernsehfilm: Ich gehöre Dir (2002)

auch unter dem Titel "In Liebe vereint"

Regie: Holger Barthel

mit Franziska Weiß (Vreni Miller!!!) und Achim Schelhas (Sali Manz) u. a.

(Wieder eine dieser bemühenden filmischen Literatur-Adaptionen: Gottfried Keller in Niederösterreich)

 

 

Literaturhinweise

 

  • Jürgen Hein: Gottfried Keller. Romeo und Julia auf dem Dorfe. Erläuterungen u. Dokumente. Stuttgart: Reclam 1971 (= Reclams Universalbibliothek, Nr. 8114).

    (Für Schüler nützlich, wie alle "Erläuterungen und Dokumente" von Reclam)

  • Beate Hermes: Lektürehilfen. Gottfried Keller "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Stuttgart u. a.: Klett Verlag 1989, 9. Aufl. 2003.

    (Eine ellenlange Inhaltsangabe und einige Untersuchungen zur Novellenthematik, zum Zeitgerüst, zu den Symbolen usw.)

  • Edgar Hein: Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Interpretation. München: Oldenbourg 1988 (= Oldenbourg Interpretationen, Bd. 19

    (Umfangreiche Interpretation mit didaktischen Beigaben)