GH 4.05

090 Fünftes Kapitel.

Die Geheimnisse der Arbeit.

Das Geldchen, das ich für die Flöte erhalten, reichte auch für einen zweiten Tag aus, da ich es klüglich eingetheilt hatte. Ich erwachte also diesmal ohne die Sorge, heute hungern zu müssen, und das war wiederum ein kleines, zum ersten Mal erlebtes Vergnügen, da diese Sorge mir früher unbekannt gewesen und ich erst jetzt den Unterschied empfand. Dies neue Gefühl, mich gegen den Untergang mangels Nahrung gesichert zu wissen, gefiel mir so gut, daß ich mich schnell nach weiteren Habseligkeiten umsah, die ich der Flöte nachsenden könne; ich entdeckte aber durchaus nichts Entbehrliches mehr, als den bescheidenen Bücherschatz, der sich über meinen wissenschaftlichen Grenzüberschreitungen angesammelt und verwunderlicher Weise noch vollständig beisammen war. Ich öffnete einige Bände und las stehend Seite auf Seite, bis es eilf Uhr schlug und Mittag heranrückte. Da that ich mit einem Seufzer das 091 letzte Buch zu und sagte: «Fort damit! Es ist jetzt nicht die Zeit solchen Ueberflusses, später wollen wir wieder Bücher sammeln!»

Ich holte rasch einen Mann, der den ganzen Pack mit einem Stricke zusammenband, auf den Rücken schwang und mir auf dem Wege zu einem Antiquarius damit folgte. In einer halben Stunde war ich aller Gelehrsamkeit entledigt und trug dafür die Mittel in der Tasche, das Leben während einiger Wochen zu fristen.

Das dünkte mich schon eine unendliche Zeit; allein auch sie ging vorüber, ohne daß meine Lage sich änderte. Ich mußte also auf eine neue Frist denken, um die Wendung zum Bessern und den Glückesanfang abzuwarten. Die einen Menschen verhalten sich unablässig höchst zweckmäßig, rührig und ausdauernd, ohne einen festen Grund unter den Füßen und ein deutliches Ziel vor Augen zu haben, während es andern unmöglich ist, ohne Grund und Ziel sich zweckmäßig und absichtlich zu verhalten, weil sie eben aus Zweckmäßigkeit nicht aus Nichts etwas machen können und wollen. Diese halten es dann für die größte Zweckmäßigkeit, sich nicht am Nichtssagenden aufzureiben, sondern Wind und Wellen über sich ergehen zu lassen, jeden Augenblick bereit, das leitende Thau zu ergreifen, wenn sie nur 092 erst sehen, daß es irgendwo befestigt ist. Sind sie dann am Lande, so wissen sie, daß sie wieder Meister sind, indessen jene immer auf ihren kleinen Balken und Brettchen herumschwimmen und aus lauter Ungeduld vom Ufer wegzappeln. Ich war nun allerdings keine große Figur in der Geisterwelt, um ein so vornehmes Mittel wie die Geduld ist gebrauchen zu dürfen; allein ich hatte damals kein anderes zur Hand, und im Nothfall bindet der Bauer den Schuh mit Seide.

Das letzte was ich außer meinen unverkäuflichen Bildern und Entwürfen besaß, waren die mit meinen Naturstudien angefüllten Mappen. Sie enthielten fast den ganzen Fleiß meiner Jugend und stellten ein kleines Vermögen dar, weil sie lauter reale Dinge aufwiesen. Ich nahm zwei der besseren Blätter, von ansehnlichem Format, welche ich schon im Freien als Ganzes abgeschlossen und in zufällig glücklicher Weise leicht gefärbt hatte. Dieselben wählte ich, um wegen der größeren Wirkung sicher zu gehen, da ich keinen der oberen Kunsthändler, sondern das freundliche Trödelmännchen heimzusuchen gedachte und von vornherein nicht einen wirklichen Werth zu erhaschen hoffte. Vor seinem Geschäfts- und Wohnwinkel angekommen sah ich erst durch das Fenster und bemerkte die alten Gegenstände dahinter, 093 die Klarinette wie die Kupferstiche und Bildchen, dagegen nicht mehr das Flötenkästchen. Dadurch ermuthigt trat ich bei dem Alten ein, der mich sogleich erkannte und fragte, was ich Neues bringe. Er war günstig gelaunt und ließ mich wissen, daß er jene Flöte längst verkauft habe. Als ich die Blätter entrollt und auf seinem Tische so gut als möglich ausgebreitet, fragte er zuvörderst, gleich dem israelitischen Bild- und Kleiderhändler, ob ich sie selbst gemacht, und ich zögerte mit der Antwort; denn noch war ich zu hochmüthig für das Geständniß, daß die Noth mich mit meiner eigenen Arbeit in seine Spelunke treibe. Er schmeichelte mir jedoch ohne Verzug die Wahrheit ab, deren ich mich nicht zu schämen brauche, vielmehr zu rühmen hätte; denn die Sachen schienen ihm in der That nicht übel und er wolle es damit wagen und ein Erkleckliches daran wenden. Er gab mir auch so viel dafür, daß ich ein par Tage davon leben konnte, und mir schien das ein nicht zu verachtender Gewinn, obgleich ich seinerzeit lust- und fleißerfüllte Wochen über den Gebilden zugebracht hatte. Jetzt wog ich das winzige Sümmchen nicht gegen den Werth derselben, sondern gegen die Noth des Augenblickes ab, und da erschien mir der ärmliche Handelsgreis mit seiner kleinen Casse noch als ein 094 schätzenswerther Gönner; denn er hätte mich ja auch abweisen können. Und das Wenige, was er mit gutem Willen und drolligen Gebärden gab, war so viel, als wenn reiche Bilderhändler größere Summen für eine unsichere Laune ihres zweifelnden Urtheils hingeben.

Aber noch in meiner Anwesenheit befestigte der Kauz die unglücklichen Blätter an seinem Fenster und ich machte, daß ich fortkam. Auf der Straße warf ich einen flüchtigen Blick auf das Fenster und sah die sonnigen Waldeinsamkeiten aus der Heimat wehmüthig an diesem dunkeln Pranger der Armuth stehen.

Nichts desto weniger ging ich in zwei Tagen abermals mit einem Blatte zu dem Manne, der mich munter und freundschaftlich empfing. Die zwei ersten Zeichnungen waren nicht mehr zu sehen; das Männchen, oder Herr Joseph Schmalhöfer, wie er eigentlich laut seinem kleinen alten Ladenschilde hieß, wollte aber keineswegs sagen, wo sie geblieben seien, sondern verlangte zu sehen, was ich gebracht habe. Wir wurden bald des Handels einig; ich machte zwar eine kleine Anstrengung, einen barmherzigeren Kaufpreis zu erwischen, war aber bald froh, daß der Alte nur kauflustig blieb und mich aufmunterte, ihm ferner zu bringen, was ich fertig 095 machte, immer hübsch bescheiden und sparsam zu sein, wobei aus dem kleinen Anfang gewiß etwas Tüchtiges erwachsen würde. Er klopfte mir wieder vertraulich auf die Achsel und lud mich ein, nicht so trübselig und einsilbig dreinzuschauen.

Der ganze Inhalt meiner Mappen wanderte nun nach und nach in die Hände des immer kaufbereiten Hökers. Er hing die Sachen nicht mehr an's Fenster, sondern legte sie sorgfältig zwischen zwei Pappdeckel, die er mit einem langen Lederriemen zusammenschnallte. Ich bemerkte wohl, daß sich die Blätter, große und kleine, farbige wie Bleistiftzeichnungen, zuweilen längere Zeit ansammelten, bis der Behälter plötzlich wieder dünn und leer war; allein niemals verrieth er mit einem Worte, wohin meine Jugendschätze verschwanden. Sonst aber blieb sich der Alte immer gleich; ich fand, so lang ich ein Blatt zu verkaufen hatte, eine sichere Zuflucht bei ihm, und endlich war ich froh, auch ohne Handelsverkehr etwa ein Stündchen mit Geplauder bei ihm zu verbringen und seinem Treiben zuzusehen. Wollte ich dann weggehen, so forderte er mich auf, nicht in's Wirthshaus zu laufen und das Geldchen zu verthun, sondern an seinem Tische mitzuhalten, und erzwang es am Ende auch. Uebrigens war der allein lebende alte Gnom ein guter Koch und hatte 096 stets ein leckeres Gericht im Hafen auf dem Herde oder im Ofen seines düstern Gewölbes. Bald briet er eine Ente, bald eine Gans, bald schmorte er ein kräftiges Gemüse mit Schöpsenfleisch oder er verwandelte billige Flußfische durch seine Kunst in treffliche Fastenspeise. Als er mich eines Tages zu seiner Mahlzeit eingefangen hatte, sperrte er plötzlich das Fenster auf, wegen der Wärme, wie er sagte, im Grunde aber, um meinen Bettelstolz zu zähmen und mich den Vorübergehenden zu zeigen. Das merkte ich an seinen schlauen Aeuglein und scherzhaften Worten, womit er die Anzeichen von Verlegenheit und Unwillen bekriegte, die ich sehen ließ. Ich ging ihm auch nicht mehr in die Falle und betrachtete meine Bedürftigkeit als mein Eigenthum, über das er auf diese Art nicht zu verfügen habe. Seltsamer Weise fragte er mich nie, wie oder warum ich arm geworden sei, obgleich er mir Namen und Herkunft längst abgehört. Den Grund seines Verhaltens fand ich in der Vorsicht, jede Erörterung zu vermeiden, um nicht zu etwas menschlicheren Kaufsangeboten moralisch genöthigt zu werden. Aus gleicher Ursache beurtheilte er auch nie mehr, was ich ihm brachte, als gut oder zufriedenstellend, und mit immer gleicher Beharrlichkeit verschwieg er, wohin er die Sachen verkaufe.

097 Ich fragte auch nicht mehr darnach. Wie ich nun gestimmt war, gab ich gern alles hin für das kärgliche Brot, das die Welt mir gewährte, und empfand dabei die Genugthuung, es verschwenderisch zu bezahlen. Das konnte ich mir um so eher einbilden, als das Wenige, das ich erhielt, der erste Gewinn war, den ich eigener Arbeit verdankte; denn nur der Gewinn aus Arbeit ist völlig vorwurfsfrei und dem Gewissen entsprechend und alles was man dafür einhandelt, hat man sozusagen selbst geschaffen und gezogen, Brot und Wein wie Kleid und Schmuck.

So erhielt ich mich ungefähr ein halbes Jahr, so wenig mir der Alte für die manigfaltigen Studienblätter und Skizzen gab; denn sie wollten fast kein Ende nehmen, was freilich eines Tages dennoch geschah. Ich war aber nicht bereit, sofort wieder zu hungern. Daher löste ich meine großen gefärbten oder grauen Kartons von den Blendrahmen, zerschnitt jeden sorgfältig in eine Anzahl gleich großer Blätter, die ich in einen Umschlag auf einanderlegte, und trug diese merkwürdigen, immer noch stattlichen Hefte eines nach dem andern zu dem Herrn Joseph Schmalhöfer. Er beschaute sie mit großer Verwunderung; sie sahen auch wunderbar genug aus. Die große kecke Zeichnung, die ohne Ende 098 durch alle die Fragmente ging, die starken Federstriche und breiten Tuschen erschienen auf den kleineren Bruchstücken doppelt groß und gaben ihnen als Theilen eines unbekannten Ganzen einen geheimnißvollen fabelhaften Anstrich, so daß der Alte sich nicht zu helfen wußte und wiederholt fragte, ob das auch etwas Rechtes sei? Ich machte ihm aber weiß, das müßte so sein, die Blätter könnten zusammengesetzt werden und machten alsdann ein großes Bild; sie hätten indessen auch einzeln für sich ihre Bedeutung und es sei auf jedem etwas zu sehen, kurz ich drehte ihm zum Spaß eine Nase und dachte mir dabei, wenn sie ihm auch auf dem Halse blieben, so sei das nur eine kleine Einbuße an dem Gewinne, den er von mir gezogen. Das Trödelgreischen rieb sich verlegen das Bein, welches mit einer juckenden Flechte behaftet war, ließ aber die sibyllinischen Bücher nicht fahren, sondern verkaufte sie eines Tages alle miteinander, ohne daß ich erfuhr, wohin sie gekommen.

Als ich den Ertrag dieses letzten Verkaufes aufgebraucht hatte, war mein Latein für einmal wieder zu Ende. Versuchsweise ging ich zu dem Bild- und Kleiderhändler, um nach den zwei Oelbildern zu sehen. Sie hingen an der alten Stelle und ich bot sie dem Manne zu Eigenthum an auch für den 099 bescheidensten Preis, den er ansetzen würde. Er war jedoch nicht geneigt, irgend etwas Baares dafür auszulegen, und ermunterte mich zur Geduld, wobei ich ja ein besseres Geschäft machen werde. Ich war das auch zufrieden und hatte somit immer noch eine kleine Hoffnung in der Welt hängen und einen schwebenden Handel. Von da ging ich weiter und kehrte bei meinem Schmalhöfer an, ihm einen guten Tag zu wünschen. Er blickte mir sofort auf die leeren Hände; ich sagte jedoch, ich hätte nichts mehr zu veräußern.

«Nur munter, Freundchen!» rief er und nahm mich bei der Hand; «wir wollen sogleich eine Arbeit beginnen, die sich sehen lassen wird! Jetzt sind wir gerade auf dem rechten Punkt, da darf nicht gefeiert werden!» Und er führte und schob mich in ein noch dunkleres Verließ, das hinter dem Laden lag und sein Licht nur durch eine schmale Schießscharte empfing, die in der feuchten schimmligen Mauer sich aufthat. Nachdem ich mich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, erblickte ich das Gewölbe angefüllt mit einer Anzahl hölzerner Stäbe und Stangen, ganz neu, rund und glatt gehobelt, von allen Größen lastweise an den Wänden stehend. Auf einer uralten Feueresse, dem Denkmal irgend eines Laboranten, der vielleicht vor hundert Jahren 100 hier sein Wesen getrieben, stand ein Eimer voll weißer Leimfarbe inmitten mehrerer Töpfe mit anderen Farben, jeder mit einem mäßigen Streicherpinsel versehen.

«In vierzehn Tagen,» lispelte und schrie der Alte abwechselnd, «wird die Braut des Thronfolgers in unsere Residenz einziehen! Die ganze Stadt wird geschmückt und verziert werden, tausende und aber tausende von Fenstern, Thüren und Gucklöchern werden mit Fahnen in unsern und den Landesfarben der Braut besteckt; Fahnen von jeder Größe werden die nächsten zwei Wochen die gesuchteste Waare sein! Schon ein par Mal hab' ich die Unternehmung bestanden und ein gut Stück Geld verdient. Wer der erste, schnellste und billigste ist, hat den Zulauf. Drum frisch dran hin, keine Zeit ist zu verlieren! Habe mich schon vorgesehen und Stöcke machen lassen, weitere Lieferungen sind bestellt, das Zuschneiden des Tuches und das Nähen wird ebenfalls beginnen. Ihr aber, Freundchen, seid wie vom Himmel ausersehen, die Stangen anzustreichen!

«Bst! nicht gemukst! Hier für diese großen gebe ich einen Kreuzer das Stück, für diese kleineren einen halben; von diesen ganz kleinen aber, welche für die Mauslöcher und Blinzelfensterchen der armen Reichsleute und Unterthanen bestimmt sind, müssen 101 vier Stücke auf den Kreuzer gehen! Jetzt aber merkt auf, wie das zu machen ist, alles will gelernt sein!»

Er hatte schon mehrere Stänglein halb und ganz vorgearbeitet; nachdem der Stecken mit der weißen Grundfarbe bestrichen, welche für beide Königreiche dieselbe war, wurde er mit einer Spirallinie von der andern Farbe umwunden. Der Alte legte eine der grundirten Stangen in die Schießscharte, hielt sie mit der linken Hand wagrecht, und indem er, den Pinsel eintauchend, mich aufmerksam machte, wie dieser weder zu voll noch zu leer sein dürfe, damit eine sichere und saubere Linie in Einem Zuge entstände, begann er, die Stange langsam zu drehen und von oben an die himmelblaue Spirale zu ziehen, wo möglich ohne zu zittern oder eine unvollkommene Stelle nachholen zu müssen. Er zitterte aber doch, auch gerieth ihm der weiße Zwischenraum und die Breite der blauen Linie nicht gleichmäßig, so daß er das mißlungene Werk wegwarf und rief: «Item! auf diese Art wird's gemacht! Euere Sache ist es nun, das Ding besser anzugreifen; denn wozu seid Ihr jung?»

Ohne mich einen Augenblick zu besinnen, ergriff ich einen Stab, legte ihn auf und versuchte neugierig die seltsame Arbeit, und bald ging sie gut 102 von statten. Eifrig fuhr ich fort, bis um die Mittagszeit; als ich da aus dem Finsterloche hervortrat, fand ich den Alten zwischen drei oder vier Nähterinnen hausend, denen er das Fahnenzeug zumaß und hundert Lehren ertheilte, wie sie zwar nicht liederlich, doch auch nicht zu gut nähen sollten, sondern so, daß die Arbeit rüstig vorrücke und die Fahnen dennoch zusammenhielten, wenn sie im Winde flatterten, ohne daß sie hinwiederum eine Ewigkeit zu dauern brauchten. Die Weiber lachten und ich lachte auch, als ich hindurch ging und das Männchen mir nachrief, in einer Stunde unfehlbar wieder da zu sein. Das geschah und ich brachte die folgenden Tage bis an's Ende mit der neuen Beschäftigung zu.

Draußen glänzte anhaltend der lieblichste Spätsommer; Sonnenschein lag auf der Stadt und dem ganzen Lande und das Volk trieb sich bewegter als sonst im Freien herum. Der Laden des Meister Joseph war fortwährend angefüllt mit Leuten, welche Fahnen holten oder bestellten, mit zuschneidenden und nähenden Mädchen, mit Tischlern, die frische Stangen brachten; der Alte regierte und lärmte in bester Laune dazwischen herum, nahm Geld ein, zählte Fahnen, und ab und zu kam er in das Finsterloch herein, wo ich mutterseelen allein in dem 103 blassen Lichtstrahl der Mauerritze stand, den weißen Stab drehte und die ewige Spirale zog.

Er klopfte mir dann etwas sachte auf die Schulter und flüsterte mir in's Ohr: «So recht, mein Sohn! Dies ist die wahre Lebenslinie; wenn du die recht accurat und rasch ziehen lernst, so hast du Vieles erreicht!» In der That fand ich in dieser einfachen Beschäftigung allmälig einen solchen Reiz, daß mir die in dem Loch zugebrachten Tage wie Stunden vergingen. Es war die unterste Ordnung von Arbeit, wo dieselbe ohne Nachdenken und Berufsehre und ohne jeglichen andern Anspruch, als denjenigen auf augenblickliche Lebensfristung, vor sich geht; wo der auf der Straße daher ziehende Wanderer die Schaufel ergreift, sich in die Reihe stellt und an selbiger Straße mitschaufelt, so lange es ihm gefällt und das Bedürfniß ihn treibt.

Unablässig zog ich das gewundene Band, rasch und doch vorsichtig, ohne einen Klecks zu machen, einen Stab ausschießen zu müssen oder einen Augenblick durch Unschlüssigkeit oder Träumerei zu verlieren, und während sich die bemalten Stäbe unaufhörlich häuften und weggingen, während ebenso beständig neue ankamen, wußte ich doch jeden Augenblick, was ich geleistet, und jeder Stecken hatte seinen bestimmten Werth. Ich brachte es so weit, daß der 104 ganz verblüffte Joseph mir schon am dritten Abend nicht weniger als zwei Kronenthaler als Tagelohn auszahlen mußte, mehr als er mir für die beste Zeichnung gegeben hatte. Erst sperrte er sich dagegen und schrie, er habe sich verrechnet, es sei nicht die Meinung gewesen, daß ich so viel an dem Zeug verdienen solle!

Ich dagegen verstand keinen Spaß und beharrte auf der Abrede mit der Behauptung, die erworbene Fertigkeit ginge ihn nichts an und er solle froh sein, wenn er, Dank derselben, so viele Fahnen liefern könne; genug, ich fühlte mich hier ganz auf einem sicheren Grunde und schüchterte das Männchen dermaßen ein, daß es sich schleunig zufrieden gab und mich aufforderte, nur so fortzufahren, die Sache sei bestens im Gange.

Er hatte auch einen gewaltigen Zulauf und versorgte einen guten Theil der Stadt mit seinen Huldigungspanieren. Ich aber drehte unverdrossen den Stab und durchwanderte mit meinen Gedanken auf der unablässig sich abwickelnden blauen Linie eine Welt der Erinnerung und der Ausschau in die Zukunft. Ich hatte nicht im Sinne, zu Grunde zu gehen, und konnte doch nicht den Ausgang sehen, der ja unzweifelhaft vorhanden war, da der Glaube an eine göttliche Weltordnung mir nach wie vor im 105 Blute wohnte, wenn ich mich auch in Acht nahm, abermals die Angel nach einem kleinen Gebetswunder auszuwerfen. Zuletzt begnügte ich mich mit dem Bewußtsein der unmittelbaren Sicherheit, daß ich für diesen und eine Reihe von Tagen ja zu leben habe. Ein ledernes Geldbeutelchen, das ich mir nach Art der Fuhr- und Schiffleute angeschafft, hervorziehend, überzeugte ich mich, wie der bescheidene Schatz von Silberstücken, der wohlverschnürt darin ruhte, sich zusehends vermehrte.

Bis jetzt hatte ich das Geld immer offen in der Westentasche getragen; als ein angehender Geldhamster nahm ich mir nun vor, nie mehr ohne Beutel zu wirthschaften, und setzte eifrig meine ruhmlose und zufriedene Arbeit fort. Am Abend suchte ich dann irgend ein entlegenes Gasthaus, setzte mich unter unbekanntes Volk und verzehrte ein spärliches Nachtmahl, welches ich, in meinem Beutel herumklaubend, bedächtig und vorsichtig bezahlte, als Einer der weiß woher es kommt.

Endlich war indessen der Einzugstag herangerückt. Noch in der letzten Stunde kamen einzelne ärmere oder knauserige Leute, ein Fähnchen oder zwei nach reiflichem Entschlusse zu holen, und feilschten um den Preis; dann wurde der Laden still und leer, der Alte zählte seine Einnahme und vollauf 106 damit beschäftigt forderte er mich auf, hinauszugehen, den festlichen Einzug der künftigen Herrscherin mit anzuschauen und mir gütlich zu thun.

«Sie machen sich wol nichts daraus, wie?» fügte er hinzu, als er sah, daß ich keine besondere Lust bezeigte; «sehen Sie, so wird man gesetzt und klug! Schon weiser geworden in der kurzen Zeit, bei der alten Feueresse! So muß es kommen! Aber geht dennoch ein bischen hinaus, Lieber, und wäre es nur, um die schöne Luft und die Sonne zu genießen!»

Das fand ich billig und rathsam; ich durchstrich die Stadt, die sich mit Einem Schlage ganz in Farben, Gold und grünes Laub gehüllt hatte, daß es von allen Enden flatterte und schimmerte. Durch die Straßen wogte eine ungezählte Menschenmenge, glänzende Reiterzüge, Fußvolk, Zünfte, Corporationen und Brüderschaften mit allen möglichen seltsamen Fahnen bewegten sich dem Thore zu, und außerhalb desselben, das ich mit durchschritt, ergoß sich dieses Freudenheer nach dem Weichbilde hin auf das freie Feld, in eine Volksmenge hinein, die es schon besetzt hielt, da Bauerschaften, ländliche Schulen, Schützen aus weitem Umkreise herangezogen waren. Dazwischen drängte sich eben so zahlreich das zuschauende Publikum, mit welchem ich mich schieben ließ.

107 Plötzlich ertönte Geschützdonner, Glockengeläute über der weitgedehnten Stadt; Musikchöre, Trommelschlag und der betäubende Zuruf des Volkes verkündeten, daß die erwartete Fürstin herannahe. Ich sah im Glanze der Nachmittagssonne die Schwerter der voran rasselnden Reiter blinken und darauf in einem Blumenwagen das junge Frauenwesen vorüberschweben über den Köpfen der wogenden Menge, wie in einem Schiffe, das über ein rauschendes Meer gleitet, da ich weder Pferde noch Räder sehen konnte. Erst erfreute mich das ungeheuere Geräusch, dann aber belästigte es mich als etwas Fremdes und erweckte meine republikanische Eifersucht gegen die Macht eines monarchischen Lebens, mit dem ich nichts zu schaffen hatte, an welchem ich nichts mehren und nichts mindern konnte.

«Freilich hast du geschafft und gemehrt!» rief in mir die Stimme des politischen Gewissens, «du hast seit Wochen davon gelebt und trägst sogar den Sündenlohn noch in der Tasche!»

«So hab' ich wenigstens nicht auf diese Unterthanen geschossen,» erwiderte die Selbstbeschönigung, «wie so oft die Schweizergarden im Fürstendienste gethan haben; und in diesem Augenblicke stehen noch vollzählige Regimenter am Fuße von Thronen, die schlechter sind, als der hier gefeiert wird!»

108 Die Vorstellung der Schweizerregimenter in fremden Diensten brachte wieder eine andere Phantasie hervor; ich sah im Geiste die mehreren Tausende der von mir gesprenkelten Fahnenstecken gleich einem unabsehbaren Zaune aufgestellt und mich als den Feldhauptmann der hölzernen Armee mitten vor derselben stehend, den ledernen Geldbeutel in der Hand. Der Vergleich dieses Ehrenpostens mit demjenigen eines weiland schweizerischen Marschalls im französischen oder hispanischen Heere schien zu meinen Gunsten auszufallen, da wenigstens kein Tropfen Blut daran klebte. Mein Bewußtsein erheiterte sich wieder, sprach sich frei und ich marschirte an der Spitze des Gewalthaufens meiner unsichtbaren Stangengeister durch die langsam zurückfluthenden Massen nach der Stadt zurück.

Gemächlich wandelte ich nun durch die geschmückten Straßen und besah mir alle Zierwerke und Veranstaltungen genauer; dann ging ich mit dem sinkenden Abend wieder hinaus, wo alle Trinkstätten und Tanzgärten angefüllt waren. Ich hielt mich aber nirgends auf, bis ich mit aufgehendem Monde zu einer mit hundertjährigen Silberpappeln bewachsenen Flußinsel kam, in deren Mitte ein volksthümliches Zech- und Tanzgebäude hell erleuchtet war und von Geigen, Pauken und Trompeten tönte. 109 Da suchte ich ein einsames Plätzchen unter den Bäumen und möglichst nah am Wasser, dessen fließende Wellen im Mondlichte glänzten. Andere hatten jedoch den gleichen Geschmack, und so ging ich vergeblich an manchen Tischen vorbei; zuletzt mußte ich mich entschließen, an einem Platz zu nehmen, an welchem schon Leute saßen, einige junge Frauenzimmer mit ihren Freunden oder Verwandten. Das Halbdunkel der hohen Bäume war durch eine bunte Papierlaterne etwas erhellt, aber nicht genug, daß das mondbeschienene Wasser um seine freundliche Wirkung gekommen wäre und das Gestirn matter durch die Aeste gefunkelt hätte.

Als ich, leicht den Hut rückend, mich niederließ, versicherten mich zwei der Mädchen, die zunächst saßen, mit schalkhaftem Lächeln, es sei für einen guten Bekannten und Arbeitsgenossen Raum genug vorhanden, und erst jetzt erkannte ich in ihnen zwei der Fahnennäherinnen aus Schmalhöfers Laden. Sie hatten sich gar anmuthig herausgeputzt, und ich war überrascht, so hübsche Geschöpfe in ihnen zu finden, die ich während der ganzen Zeit kaum angesehen und gegrüßt, wenn ich durch den Laden in das finstre Loch ging oder aus demselben kam. Die Aeltere von ihnen stellte mich der Gesellschaft, welche aus jungen Arbeitsleuten verschiedener Profession zu 110 bestehen schien, als Standesgenossen vor; denn sie hatten auch von dem Alten meinen Namen erfahren. Man hielt mich offenbar für einen wackeren Tünchergesellen; die jungen Männer boten mir treuherzig ihre Bierkrüge dar, ich that Bescheid, versah mich selbst mit einem Kruge, und froh nach langer Einsamkeit unter Menschen zu sein, überließ ich mich der einfachen Geselligkeit, ohne meinen etwas höheren Rang zu verrathen, was mir auch übel angestanden hätte.

Der kleine Kreis bestand aus drei Liebespaaren, an der Art kenntlich, wie sie sich unbefangen umfaßt hielten. Zwischen Hoffnung und Furcht schwebend, dauernd verbunden oder wieder getrennt zu werden, verloren sie keine Zeit, sich ihrer Gegenwart zu versichern. Ein viertes Mädchen schien überzählig zu sein; denn es saß ohne Galan zunächst an meiner Seite, vielleicht wegen zu großer Jugend, da es höchstens siebzehn Jahre alt sein mochte. Ich hatte die glänzenden Augen der Kleinen im Trödlerladen schon bemerkt, weil sie immer aufgeblickt, wenn man durch ging. Jetzt sah ich auch ihre außerordentlich feine Gestalt, in einen ziemlich feinen weißen Sonntagsshawl gehüllt; auf dem Tische lag die zierlichste kleine Hand, deren zarte Fingerspitzen freilich von unzähligen Nadelstichen eine rauhere 111 Haut bekommen hatten, und rechnete man hiezu das weiche braune Haar, das unter dem luftigen Hütchen hervorquoll, sowie das Licht des jungen Busens, wenn das helle Tuch sich einen Augenblick lüftete, so erschien hier im Schatten der Armuth ein Schatz von Reizen verborgen, wie ihn mancher Reichthum vergeblich wünschte. Selbst die Blässe des Gesichtes, deren ich mich zu erinnern glaubte, diente jetzt einem Lichtspiele zur Unterlage, indem bald der röthliche Schimmer der im Luftzuge schwankenden Papierlaterne, bald der silberbläuliche Abglanz des Flusses darüber flog und zusammen mit dem Lächeln ihres Mundes, wenn sie sprach, ein geheimnißvolles Leben und Weben bildete. Zum Ueberflusse hieß sie noch Hulda.

Ich fragte sie, ob sie wirklich so heiße oder ob sie den Namen bloß angenommen habe, wie das bei Frauenzimmern des arbeitenden und dienenden Standes, dem wir angehörten, zuweilen vorkomme?

«Nein,» erwiderte sie, «ich habe den Namen nebst vier andern von meinen Eltern bei der Taufe erhalten. Es sind arme Schustersleute gewesen, die bei meiner Taufe weder einen Schmaus auszurichten noch solche Pathen herbeizuziehen vermochten, von denen irgend ein Angebinde zu hoffen war. Weil sie nun dennoch einen gewissen vornehmen Tik 112 besaßen, so statteten sie mich dafür mit fünf Namen aus. Ich habe sie aber alle abgeschafft bis auf den kürzesten; denn da unserein's immer zu den Behörden laufen muß, um seine Beschreibung in Ordnung zu erhalten, so wurde ich von den Beamten jedesmal angefahren, ob meine Namen bald zu Ende seien, oder ob sie vielleicht einen neuen Bogen anbrechen müßten, um sie alle aufzuschreiben.»

«Und Sie haben doch den schönsten von den fünf Namen behalten?» sagte ich, von dem Ernste belustigt, mit welchem sie die Geschichte erzählte.

«Nein, nur den kürzesten! Die andern waren alle länger und prachtvoller! Aber Sie tragen ja zu viel Geld bei sich herum, das muß man nicht thun!»

Ich hatte meinen wohlgerundeten Geldbeutel auf den Tisch gestellt, um einen neuen Krug Bier zu zahlen, den man mir brachte, da ich durstig gewesen und mit dem ersten schon fertig geworden.

«Das ist mein Verdienst von den Fahnenstangen, sagte ich, ich werd's schon versorgen, wenn ich's nicht brauche!»

«Himmel! So viel haben Sie bei dem Alten verdient? Und ich hab's kaum auf vierzehn Gulden gebracht!»

«Ich hab' es vom Stück, da kann man sich an 113 den Laden legen und dem Patron die Nase lang machen!»

«Hört, Leute, der hat's vom Stück!» rief sie den Andern zu, «der verdient ein Geld! Wo stehen Sie eigentlich in Arbeit, oder sind Sie für sich?»

«Ich bin augenblicklich ohne Meister und denke es zu bleiben, so lang es geht.»

«Es wird gewiß gehen, denn fleißig sind Sie ja von früh bis spät, das haben wir gesehen und oft zu einander gesagt! Wenn er nur nicht so hochmüthig wäre, meinten die andern, aber ich hielt dafür, Sie seien eher traurig oder langweilig. Haben Sie denn schon zu Nacht gegessen?»

«Noch nicht! Und Sie?»

«Auch noch nicht! Wissen Sie was, da ich allein bin, so könnten wir zusammen legen und miteinander essen, dann stellen wir auch ein Päärlein vor!»

Ich fand diesen Vorschlag sehr angenehm und klug und wurde von einem Wohlgefühl erwärmt, unversehens so gut untergebracht zu sein. Ich lud die artige Hulda daher ein, mir das Traktament zu überlassen; allein sie that es durchaus nicht anders, als auf gemeinschaftliche Kosten, und als das bestellte Essen anlangte, holte sie ein anständig versehenes Täschchen hervor und ruhte nicht, bis ich ihren Antheil hinnahm. So spiesen wir denn vertraulich 114 und waren guter Dinge; nur wollte das anziehende Wesen nicht von den Kartoffeln nehmen, die ich zu den Carbonaden, die sie gewünscht, bestellt hatte. Vielmehr sagte sie, es scheine, daß ich noch nie einen Schatz besessen, ansonst mir bekannt wäre, daß Arbeitsmädel, wenn sie Feiertags zum Vergnügen gehen, keine Kartoffeln essen wollen. Wie ich das wissen könne, fragte ich, und was denn das für ein Geheimniß sei?

Weil sie die Woche hindurch sich fast nur von Kartoffeln nähren und davon genug bekommen! erklärte sie. Ich drückte mein Mitleid aus, ohne zu gestehen, daß ich schon schlechtere Tage gesehen; denn das hätte mir ihre Achtung schwerlich erworben, wie ich wenigstens dachte.

Inzwischen war von der übrigen Gesellschaft bald das eine, bald das andere Paar zu einem Tanze in den Saal gegangen und wieder erschienen, wodurch unser Tisch abwechselnd leer oder wieder bevölkert wurde. Unerwartet kehrten jetzt zwei Paare in höchster Aufregung zurück und setzten am Tische einen Streit fort, der im Saale ausgebrochen sein mochte. Das eine der Mädchen weinte, die andere schalt, und die dazu gehörigen jungen Männer hatten zu thun, den Sturm zu besänftigen und allerlei Angriffe von sich selbst abzuhalten.

115 «Da ist die Geschichte wieder los!» sagte Hulda; sich dicht an mich schmiegend erzählte sie mir mit gedämpfter Stimme, das sei eine Liebschaft über's Kreuz. «Die Eine hier hatte nämlich früher den Andern zum Schatz und die Andere diesen Jetzigen; dann haben sie alle vier, hast du nicht gesehen, gewechselt, und es hat diese jenen und jene diesen zum Liebsten. Aber alle Fronfasten giebts ein jammervolles Gewitter, daß beinah' die Welt untergeht. Ein so überzwerches vierspänniges Zeug thut halt nicht gut, es dürfen nur zwei bei einer Sach' sein!»

«Aber warum gehen sie denn zusammen, anstatt sich auszuweichen?»

«Das weiß Gott warum! Immer laufen's an die gleichen Orte hin und hocken beieinander, wie wenn sie behext wären!»

Ich war eben so verwundert über das Phänomen wie über die Reden meiner blutjungen Freundin. Der Streit, der sich um unverständliche, scheinbar nichtige Dinge drehte, wurde zuletzt so erregt, daß das dritte Liebespaar, welches im Frieden lebte, sich einmischte und mit Mühe einen Waffenstillstand zuweg brachte. Die Krüge, aus denen je zwei der Leutchen tranken, wurden neu gefüllt. Die streitbaren Mädchen schmollten jedoch nicht nur unter sich, sondern auch mit ihren Geliebten. Die Unparteiischen 116 schritten abermals ein, und es wurde auf Huldas Vorschlag beschlossen, die zwei Paare sollten zur gewaltsamen Bezwingung aller Eifersucht und Unfriedfertigkeit einmal wieder Jedes mit dem früheren Gesponsen tanzen, und keines dürfe dazu scheel sehen.

Das wurde denn auch ausgeführt; die ausgetauschten Paare kamen nach einem langen Tanze zurück, jedes der Mädchen am Arme seines alten Genossen; allein statt sich nun wieder zu trennen, nahmen beide neu ausgewechselten Parteien ihre Sachen zusammen und zogen ohne ein Wort zu sagen auf verschiedenen Wegen von dannen. Ganz verblüfft blickten wir Zurückbleibenden ihnen nach, bis sie verschwanden, und brachen dann in ein helles Gelächter aus. Nur Hulda schüttelte den Kopf und sagte: «das Lumpenvolk!» In der That hatten sie in dem Tanze nicht die gehoffte sittliche Ausgleichung, sondern lediglich einen neuen Anreiz ihrer Willkür gefunden und mochten sich nun beeilen, nach so langer Trennung die Lustbarkeiten einer Wiedervereinigung zu genießen.

Bevor ich mich von meinem Erstaunen über die freien Sitten dieses einfachen Völkchens erholt hatte, fühlte ich die weiche Hand des jungen Mädchens auf der Schulter, das endlich auch einen Tanz zu thun begehrte. Obgleich ich nicht daran gedacht, 117 dergleichen Belustigung zu suchen oder zu finden, mußte ich dennoch willfahren, da sie das als selbstverständlich ansah, auch Hut und Shawl schon der Freundin anvertraute, die mit ihrem Gesellen noch da war. Erst im Lichte des Tanzsaales, in der freien Bewegung sah ich vollends, wie hübsch sie war. Aber bald sah ich sie nicht mehr, sondern fühlte nur noch ihre leichte Last, weich wie eine Flaumfeder, wenn sie einem Geiste gleich dahin flog. Mußten wir aber anhalten, so sah ich bloß die wohlwollend warmen Augen und das zufriedene Lächeln ihres Mundes, während sie mir die gelockerte Halsbinde ordnete oder mich aufmerksam machte, daß am Hemde ein Knopf fehle.

Ein heißes Leben schien in dem zartgegliederten Geschöpfe zu athmen und sich als hingebende Güte zu äußern für Alles, was ihm nahe trat. Eine mir räthselhafte Zärtlichkeit begann das Wesen von den Augen bis in alle Fingerspitzen zu überwallen, ohne mit einer Spur von falscher Schmeichelei oder gar Gemeinheit vermischt zu sein; vielmehr war ihr Regen und Bewegen bei alledem so in anmuthige Bescheidenheit gehüllt, daß in dem Gedränge der Tanzenden keine Seele etwas davon wahrnahm. Und doch schien sie nicht der mindesten Vorsicht oder Selbstbeherrschung zu bedürfen.

118 Als durch das Ungeschick einiger Leute der Tanz in's Stocken gerieth und Hulda hart an mich gedrückt wurde, verspürte sie meine klopfenden Pulse, legte die Hand an meine Brust, nickte mit großer Freundlichkeit und sagte: «Lassen's schau'n, haben's wirklich ein Herz?»

«Ich glaube ja!» antwortete ich und sah das liebreizende, ganz nahe Gesicht mit offenem Munde an. Sie nickte nochmals und wir wollten in dem wieder gelösten Tanzwirbel dahin fahren, als Huldas Freundin uns fand, anhielt und ihr Hut und Tuch mit der Ankündigung übergab, sie wolle jetzt heim gehen, da sie in der Frühe wieder zur Arbeit müsse.

«Auch ich muß um sieben Uhr dahinter sein!» rief Hulda lachend; «denn ich habe wegen der Fahnenschneiderei meine gewohnte Kundschaft vertröstet und solls nun nachholen! Aber ich mag doch nicht gleich jetzt nach Hause!»

«Nun, du kannst ja noch ein Weilchen bleiben,» sagte die Andere, «unser guter Bekannter und Freund geleitet dich nachher schon sicher heim, nicht wahr, Sie sind so gut, Herr Stangenmacher?»

Ich versprach gern, den Dienst zu übernehmen, worauf das letzte der Liebespaare sich verabschiedete, Hulda dagegen mit mir an den verlassenen Tisch zurückkehrte. Wir saßen nun allein unter den Silberpappeln; 119 der Mond stand hoch am Himmel, uns daher nur noch durch den grauen Schimmer bemerkbar, der in den obersten Gewölben der Baumkronen lagerte; unten war es ziemlich dunkel, denn auch der Fluß glänzte nicht mehr an jener Stelle und die Laterne war erloschen.

«Da wollen wir noch ein klein wenig ausruhen und dann auch gehen!» sagte sie und lehnte sich ohne Bedenken in meinen Arm, den ich um ihre Hüften legte! Ich zog indessen den Arm zurück, um ein Glas Punsch oder heißen Wein herbei zu schaffen. Allein sie verhinderte mich und stellte selbst die alte Lage wieder her.

«Nicht trinken!» sagte sie leis, «die Lieb' ist eine ernstliche Sach' und will nicht betrunken sein, auch wenn sie nur Scherz ist!»

«Was wissen Sie denn schon so viel von Liebe, schönstes Kind, das ja in der That fast noch ein Kind ist?»

«Ich? Gerade siebzehn Jahre bin ich! Seit fünf Jahren steh' ich ganz einzig in der Welt und habe mich jeden Tag, vom zwölften Jahr an, mit Arbeit ehrlich erhalten und viel erfahren. Darum lieb' ich die Arbeit, sie ist mir Vater und Mutter! Und nur Eines giebt's, das ich eben so lieb habe, nämlich die Liebe. Eher sterben, als nicht lieben!»

120 «Ei, du süßes Zuckerbrot!» sagte ich und suchte den rosigen Mund zu erkennen, welcher solche Worte hervorbrachte.

«Bin ich?» flüsterte Hulda; «glaubten Sie, ich sei von dem Holz, aus welchem man Essig macht? Schon zwei Liebhaber sind in diesem Herzen gewesen!»

«Himmel, schon zwei! Wo sind sie hin?»

«Nun, der erste war noch zu jung und hier in der Fremde; der mußte weiter wandern und hat mir dann geschrieben, daß er in der Heimat ein Liebchen habe, das er einst heirathen werde. Da gab's Thränen; aber das konnte mir nicht helfen. Dann kam der zweite, der wollte aber nicht arbeiten und ich mußt' ihn beinah' ganz erhalten; das ging nicht auf die Dauer, auch schämt' ich mich für ihn und ließ ihn laufen! Denn wer nicht arbeitet, soll nicht nur nicht essen, sondern braucht auch nicht zu lieben!»

«Und läuft dieser hier in der Stadt herum?»

«Leider nicht, denn er ist eingesperrt, weil er etwas Schlechtes verübt hat, als ich ihm nichts mehr gab. Darüber hab' ich mich so geschämt und gegrämt, daß ich ein halbes Jahr lang Niemand anzusehen wagte!»

«Aber jetzt kann's wieder angehen?»

121«Gewiß! wer wollte sonst leben?»

Ich wurde immer verwirrter, das jugendliche Geschöpf mit solchem Bewußtsein, solcher Bestimmtheit und Leichtfertigkeit sprechen zu hören, eine so zarte, zerbrechliche Existenz sich erklären zu hören, daß sie in Arbeit und Liebe aufgehe und sonst nichts von der Welt begehre. Und doch war es wiederum wie eine Erscheinung aus der alten Fabelwelt, die ihr eigenes Sittengesetz einer fremden Blume gleich in der Hand trug. Es wurde mir zu Muth, als ob eine wirkliche Huldin sich aus der Luft verdichtet hätte und mit warmem Blute in meinen Armen läge.

Unser Reden war bereits ein leises Kosen geworden; nach einem Weilchen flüsterte sie mir zu: «Und wie steht es denn mit Ihnen? Sind Sie frei?»

«Leider ganz und gar seit Jahren!»

«Nun denn, so lassen Sie uns ganz still und gemächlich eine Bekanntschaft anfangen und ruhig sehen, wohin sie uns führt!»

Diese prosaisch gemeinen Gewohnheitsworte sagte sie aber mit der Stimme und dem Ausdrucke eines Mägdleins, das sein erstes Geständniß preisgiebt, oder gewissermaßen mit dem Tone eines jener unsterblichen Wesen, das die Gestalt einer armen Dienstmagd angenommen hat, um in ewiger Jugend 122 und Neuheit einen Liebeshandel zu eröffnen. Freilich lag hierin auch die Sicherheit, daß sie über meinen Verlust eben so unbeschädigt zur Tagesordnung gehen würde, wie über jeden andern. Das fühlte ich deutlich und suchte dennoch ihre kleine Hand und ihren Mund, der mir mit ambrosischer Frische entgegen kam, so rein und duftig wie eine aufgehende Rose.

«Nun wollen wir gehen!» sagte sie; «wenn Sie so gut sein wollen, mich bis zu meiner Wohnung zu begleiten, so sehen Sie das Haus. Sonnabends kommen Sie so um die neun Uhr vor dasselbe und wir reden alsdann ab, was wir Sonntags beginnen wollen. Die Woche durch aber schaffen wir still und zufrieden drauf los! O wie lieb ist die Arbeit, wenn man dabei an was Liebes zu denken hat und sicher ist, am Sonntag mit ihm zusammen zu sein. Und wenn wir erst so weit sind, daß wir im Stübchen bleiben und uns zusammen thun, so mag es regnen und stürmen, wir sitzen ruhig und lachen den Himmel aus!»

«Aber woher weißt du denn, du gutes liebes Kind, daß alles so erwünscht ausfallen und gehen wird, was mich betrifft? Woher kennst du mich denn?»

«Da sei ohne Sorge, ich kenne dich schon so 123 ein wenig, und etwas wagen muß das Herz und früh auf sein, wenn es leben will! Wenn du wüßtest, was ich schon gesehen und erfahren habe! Und wenn es dir an Arbeit fehlen sollte, so kann ich sie dir verschaffen, ich komme weit herum und höre und sehe mehr als mancher glaubt!»

Sie hatte sich an meinen Arm gehängt und ging fest und munter neben mir her, ein kleines Liebeslied summend und immer dasselbe wiederholend. Ich traute meinen Sinnen kaum, mitten in der Noth und Bedrängniß, in die ich gerathen war, auf der vermeintlich dunkelsten Tiefe des Daseins so urplötzlich vor einem Quell klarster Lebenswonne, einem reichen Schatze goldenen Reizes zu stehen, der wie unter Schutt und dürrem Moose verborgen hervor blinkte und schimmerte!

Den Teufel auch! dachte ich, das Völklein hat ja wahre Hörselberge unter sich eingerichtet, wo der prächtigste Ritter keine Vorstellung davon hat; wie es scheint, muß man selbst arm werden, um die Herrlichkeit zu finden!

«Was studieren Sie denn so fleißig?» sagte Hulda, ihr Liedchen unterbrechend.

«Nun, ich betrachte mir eben das schöne Glück, das ich so unverhofft gefunden habe! Darüber darf man doch ein bischen erstaunt sein?»

124 «Ei, was sind das für aufgeputzte Worte! Wie aus einem Lesebuch! Aber wenn ich es bedenke, so hab' ich schon ein par Mal gemeint, du redest und thätest nicht wie ein richtiger Arbeitsgesell. Du hast vielleicht schon bessere Zeit gehabt und eigentlich nicht ein Handwerker werden sollen?»

«Ja, es ist so was! Aber nun bin ich zufrieden, besonders heut!»

«Komm, komm!» sagte sie, umhalste mich und küßte mich mit süßester Innigkeit, daß ich wie im Rausche weiter mit ihr ging; denn unser Weg war lang. Ich hatte aber meine vorhinigen Worte nicht gelogen, sondern setzte sie in Gedanken fort:

«Warum sollst du nicht untertauchen in diese glückselige Verborgenheit, allem ideal- und ruhmsüchtigen Treiben entsagend? Warum solltest du nicht gleich Morgen wieder solcher Arbeit nachgehen, wie du seit Wochen verrichtet hast, ein Arbeiter unter Arbeitern sein, deines bescheidenen Brotes jeden Tag gewiß und jeden Abend deine stille Ruhe findend an diesem zarten Busen, der einer so langen Jugend entgegenblüht? Schlichte Arbeit, goldene Liebe bei zufriedenem Brot, was willst du mehr! Und kann am Ende nicht noch etwas Besseres dabei herauskommen, insofern es irgend zu wünschen ist?»

125 Als wir endlich vor der Hausthüre der Hulda anlangten, war ich überzeugt, ein echtes und glückhaftes Abenteuer erlebt zu haben, und versprach, am nächsten Samstag Abend unfehlbar da zu sein. Andere spät Heimkehrende verhinderten eine letzte Abschiedszärtlichkeit, und sie schlüpfte nach einigen höflichen Dankesworten für die Begleitung rasch neben Jenen hinein.

Der Mond näherte sich seinem Untergange. Ein starker Wind bewegte die Tausende von Fahnen in den still gewordenen Straßen, daß es überall, in der Tiefe und auf der Höhe der Häuser und Thürme wallte und flatterte, wie von Geisterhänden bewegt. Aber auch in meinem Innern, durch alle Adern wogte und rauschte erst jetzt die erwachte Leidenschaft, wild und sanft, süß und frech zugleich, die Hoffnung, ja Gewißheit, in wenigen Tagen von einem Schatze geheimer Glücksgüter Besitz zu nehmen, die ich mir vor Stunden noch nicht hätte träumen lassen.

So kehrte ich in meine verödete Wohnung zurück, die ich seit der letzten Morgenfrühe nicht mehr betreten hatte.

 


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