Der Tod war in dem Hause eingekehrt, in welchem ich wohnte; ich mußte ihm so zu sagen auf der Treppe begegnet sein. 397 Am Nachmittage war die Wirthin in die Wochen gekommen, und nun lag sie mit zerstörtem Leben in der matt erleuchteten Stube neben einem todten Kinde. Ich mußte an der offenen Thüre vorübergehen; eine Wehmutter und eine Nachbarin räumten auf und beschwichtigten die weinenden Kinder, die aus ihrer Schlafkammer hervorgebrochen waren. Auf einem Stuhle saß der kurz vor mir heimgekehrte Mann, der seit dem Mittage den Aufzügen und Lustbarkeiten nachgegangen und erst kurz vor mir angekommen, da man ihn an den gewohnten Orten nirgends hatte finden können. Er übte seinen Beruf außer dem Hause auf mir unbekannte Art, und was er verdiente brauchte er zum größten Theil für sich allein. Die todte Frau war der Eckstein und die Erhalterin der Familie gewesen.
127 Nun saß der Mann wortlos, rathlos und bleich mitten in dem Jammer; denn die Röthe der herumschweifenden Heiterkeit war gründlich aus seinem Gesichte gewichen, und statt den Schlaf suchen zu können, mußte er wach bleiben, ohne zu nützen oder zu helfen. Er betrachtete mit scheuem Blicke das in ein Tüchlein gewickelte undeutliche Wesen, welches in einem Getümmel von Schmerzen und Leiden vergangen war, noch eh' es den Tag gesehen. Er schüttelte schaudernd den Kopf und schaute auf die Mutter; die lag starr und theilnahmlos, wie es einer erfahrenen Todten geziemt; weder Mann, noch Kinder, noch Nachbaren rührten sie; selbst das Kleine an ihrer Seite ging sie nichts an, trotzdem sie vor Kurzem noch ihr Leben für dasselbe geopfert hatte.
Die Kinder, welche während der Todesnoth eingesperrt und vernachlässigt worden, hungerten und schrieen mitten in ihren erbärmlichen Klagen um die Mutter nach Nahrung, bis der Mann sich aufraffte und mit gelähmten Gliedern herumtastete, wo die Frau die letzte Speise mochte besorgt oder gelassen haben. Er sah sich unfreiwillig nach ihr um, als ob sie rufen müßte: dort geh' hin, da steht die Milch, dort liegt das Brot, in der Mühle steckt noch der Kaffe! Sie sagte aber nichts.
Erschüttert trat ich dem Jammer näher und 128 fragte, ob ich irgend etwas thun könne. Eine der Frauen sagte, die Aerzte hätten die sofortige Ueberführung nach dem Leichenhause anbefohlen; es wäre gut, wenn die Leichen gleich in der Frühe geholt würden, allein Niemand sei da, wenn der Mann nicht hingehe, die Bestellung zu machen. Ich anerbot mich, die Sache zu verrichten, und zog zehn Minuten später die Glocke an der Wachstube des Todes. Nachdem ich dem Wächter das Nöthige mitgetheilt, blickte ich durch eine Glasthüre in den Saal, wo sie von allen Ständen und Lebensaltern ausgestreckt lagen, wie Marktleute, die den Morgen erwarten, oder Auswanderer, die am Hafenplatz auf ihren Siebensachen schlafen. Darunter sah ich auch ein junges Mädchen auf Blumen ruhen. Die kaum erblühte Brust warf zwei blasse Schatten auf das Todtenhemd; da erinnerte ich mich dessen, was ich in dieser Nacht schon erlebt und mir vorgenommen und eilte voll Zweifel und Unruhe, Schrecken und Müdigkeit, den Schlaf zu finden.
Derselbe war aber stürmisch bewegt und unerquicklich. Bald von den traurigen Vorgängen im Hause geweckt, bald von halbwachen Traumbildern umfangen, in denen Lebendiges und Grabfertiges, buhlende Liebesworte und Todtenklagen sich unablässig vermischten, athmete ich auf, als es Tag 129 wurde und ich wenigstens meine Gedanken sammeln konnte.
Sie geriethen jedoch sofort mit einander in Streit; denn als ich mich aufrichtete und die Hand an der Stirne mich besann, was eigentlich geschehen und was ich zunächst thun wollte, schwankte ich, ob ich vor den ernsten Todesschatten, die mich gewarnt, zurückweichen oder dem Liebesbild dennoch folgen solle, das mich in Gestalt der arbeitenden Armuth lockte. Die Verlockung blieb siegreich; es schien mir gerade das Beste zu sein, an dem weichen Busen eines jungen Lebens Trost und Vertrauen und mich selbst wieder zu finden, und je ernster das Gewissen warnte, in solcher Lage den Liebeshandel anzufangen und ein so bedenkliches Bündniß einzugehen, desto reichlicher flossen die Gründe des Worthaltens, der Ehre und Tapferkeit für die Ausführung des Vorsatzes.
Ich beschloß sogar, das reizvolle Geschöpf schon am nächsten Abend aufzusuchen, statt erst zu Ende der Woche, vorher aber den alten Trödler zu berathen, ob er mir ferner dergleichen anspruchlose Beschäftigung zuzuwenden wisse, wie neulich.
So schritt ich mit lebensdurstigen Augen und Lippen aus der Trauerwohnung hinweg, aus welcher schon vor Stunden die Leiche der Mutter und 130 ihres letzten Kindes fortgebracht worden. Ich achtete nicht der verlassenen Kleinen, die bei offener Thüre still an einem Häuflein saßen. • Wie ich dann aus dem Hause trat und die Straße hinunter eilte, stieß ich auf einen jungen Mann, der ein hübsches Frauenzimmer am Arme führte. Beide waren wohl gekleidet in sauberer Reisetracht, augenscheinlich bemüht eine Hausnummer zu finden, die sie auf einem Zettelchen vor sich hatten. Der Mann kam mir bekannt vor, ohne daß ich in meiner Zerstreutheit etwas dabei dachte; indem ich aber ausweichen wollte, sah er mich genauer an und sagte in den Lauten des Heimatdialektes: «Da ist er ja! Sind Sie nicht der Herr Heinrich Lee, den wir eben suchen?»
Erfreut und erschrocken zugleich erkannte ich einen benachbarten Handwerksmann unserer Stadt, der vor Jahren ungefähr um die gleiche Zeit mit mir in die Fremde gewandert, längst zurückgekehrt und Meister geworden, sein väterliches Geschäft übernommen und ausgedehnt hatte und jetzt auf der Hochzeitsreise begriffen war. Die machte er aber nicht ohne klügliche Nebenzwecke, da die wohlhabende Bürgerstochter, die er als Gattin am Arme führte, ihm die Mittel für alle ersprießlichen Unternehmungen zugebracht.
• Er richtete mir nun die Grüße meiner Mutter 131 aus, die er zu diesem Zwecke vor der Abreise besucht hatte. Sie war mit einiger Beschämung gezwungen gewesen, dem Nachbaren zu gestehen, daß sie nicht einmal bestimmt wisse, wo ich sei oder ob ich noch am alten Orte wohne; doch wünschte sie um so sehnlicher Nachricht zu erhalten. Ich aber war eben so verlegen, viel nach ihr zu fragen, weil ich dadurch verrieth, daß ich nichts von ihr wisse; doch widerstand ich dem Bedürfnisse nicht lang und fragte fleißig, was mich zu erfahren verlangte.
«Nun, wir sprechen noch von Allem,» sagte der Landsmann, indem er mich aufmerksamer betrachtete. «Ihr habt Euch aber doch ziemlich verändert, nicht wahr, Frau? Du hast doch den Herrn Heinrich früher auch gekannt?»
«Ich glaube mich zu erinnern, obgleich ich damals noch ein Schulkind war!» erwiderte sie, während mir ihre ausgewachsene Fraulichkeit als vollkommen fremd erschien. • Indessen fühlte ich, wie ihr Auge die geringe Pracht meines Anzuges überlief, der allerdings weder neu noch wohl gehalten war; zum ersten Mal fühlte ich die Demüthigung, schlecht gekleidet dazustehen, und noch verlegener ward ich, als der Landsmann fragte, ob wir nicht in meine Wohnung hinaufsteigen wollten? Glücklicher Weise diente mir der Todesfall zum Vorwand, daß es 132 jetzt dort nicht wirthlich aussehe und ich selbst deswegen ausgegangen sei.
«So dürfen wir Sie einladen, den Tag mit uns zuzubringen? Wir sind schon gestern angekommen; da hab' ich aber Geschäfte besorgt. Morgen früh reisen wir weiter, so werden Sie mit uns nicht eben viel Zeit verlieren; denn wir möchten Sie in Ihren Arbeiten keineswegs aufhalten!»
Der gute Landsmann ahnte nicht, wie schmerzlich mich diese Rede traf; ich versicherte ihn jedoch, es habe keine Gefahr und ich sei nicht so übermäßig fleißig. Nachdem ich sodann das Reisepaar während einiger Stunden herumgeführt, ging ich mit den Leutchen in das bürgerlich bescheidene Gasthaus, in welchem sie Quartier genommen, und theilte mit ihnen das Mittagsmahl. Die langentbehrte Gewohnheit, in der Mundart des Heimatlandes und von altvertrauten Dingen zu reden, ließ mich die Gegenwart um so leichter vergessen, als eine Flasche guten Rheinweines ihren Duft verbreitete. Das ruhig freundliche Benehmen des Paares, das durch keinerlei lästige Zärtlichkeiten seinen neuen Ehestand verrieth, vermehrte das Behagen, welches mich wie ein flüchtiger Sonnenblick überkam aus schwül bewegtem Wolkenhimmel.
Als nun der Landsmann eine zweite Flasche bestellte 133 und die übrigen Gäste die Wirthstafel verlassen hatten, zog sich die junge Frau in ihr Zimmer zurück, um sich ein wenig auszuruhen, wie sie sagte. Wir Andern wurden um so gesprächiger, bis der gute Nachbar sich selbst unterbrach und nach wohlgemeinten Worten suchend begann:
• «Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr Lee, daß Ihre Mutter sehr Ihrer Rückkunft bedarf, und ich würde Ihnen rathen, sobald als möglich heim zu kommen; denn während die brave Frau den tiefsten Kummer und die Sehnsucht nach Ihnen zu verbergen sucht, sehen wir wohl, wie sie sich darin aufzehrt und Tag und Nacht nichts anderes denkt. Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber es will mir fast scheinen, es stehe nicht zum Besten mit Ihnen, und erachte ich, daß Sie in dem Stadium sind, wo die Herren Künstler allerlei durchmachen müssen, um endlich mit stattlichem Ansehen aus dem Kampfe hervorzugehen. Allein es hat alles sein Maß! Sie sollten eine Unterbrechung machen und einmal die Heimat wieder sehen, auch wenn Sie nicht als ein Sieger kommen. Die Dinge lassen sich da öfter von einer neuen Seite betrachten und anpacken.»
Er ergriff sein Glas und stieß mit mir auf das Wohl von Heimat und Mutter an, besann sich ein Weniges und fuhr fort:
134• «Vorlaute und unverständige Weibsen und auch eben solche Männer in unserer Stadt, wo es ruchbar geworden, daß Ihre Mutter gewisse Summen an Sie gewendet und ihr eigenes Auskommen bedeutend dadurch geschmälert hat, ließen es sich einfallen, dieselbe hinter ihrem Rücken hart zu tadeln und auch ungefragt ihr in's Gesicht zu sagen, daß sie unrecht gethan und sowol ihrem Sohne schlecht gedient, als sich selbst überhoben habe. Jeder, der die Frau kennt, weiß daß alles eher als dieses der Fall ist; aber das unverständige Geschwätz hat sie vollends eingeschüchtert, daß sie fast mit niemand zusammenkommt und so in Einsamkeit und Selbstverläugnung dahinlebt.
• «Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt; sie spinnt Jahr aus und ein, als ob sie sieben Töchter auszusteuern hätte, damit doch mittlerweile etwas angesammelt würde, wie sie sagt, und wenigstens der Sohn für sein Leben lang und für sein ganzes Haus genug Leinwand finde. Wie es scheint, glaubt sie durch diesen Vorrath weißen Tuches, das sie jedes Jahr weben läßt, Ihr Glück herbei zu locken, gleichsam wie in ein aufgespanntes Netz, damit es durch einen tüchtigen Hausstand ausgefüllt werde, wie die Gelehrten und Schriftsteller etwan durch ein Buch weißes Papier gereizt werden 135 sollen, ein gutes Werk darauf zu schreiben, oder die Maler durch eine ausgespannte Leinwand, ein Bild darauf zu malen.»
Bei diesem letztern Vergleich des wackern Redners konnte ich mich eines bittern Lächelns nicht enthalten. Das schien ihm wol die Richtigkeit seiner Vermuthungen zu bestätigen, und er fuhr fort:
• «Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und blickt unverwandt in das Feld hinaus, über die Dächer weg, oder in die Wolken; wenn es aber dämmert, so läßt sie das Rad still stehen und bleibt so im Dunkeln sitzen, ohne Licht anzuzünden, und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt, so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen, wie sie immer gleicher Weise in's Weite schaut.
• «Wahrhaft melancholisch aber ist es anzusehen, wenn sie die Betten sonnt; anstatt sie mit Hülfe Anderer auf unseren Platz hin zu tragen, wo der große Brunnen steht, schleppt sie dieselben auf das hohe schwarze Dach Eueres Hauses, breitet sie dort an der Sonnenseite aus, geht emsig auf dem abschüssigen Dache umher, ohne Schuhe zwar, aber bis an den Rand hin, klopft die Kissen und Pfühle aus, kehrt sie, schüttelt sie und hantiert so seelenallein in der Höhe unter dem offenen Himmel, daß 136 es höchst verwegen und sonderbar anzusehen ist, zumal wenn sie innehaltend die Hand über die Augen hält und droben in der Sonne stehend nach der Ferne hinaus blickt. Ich konnt' es einst nicht länger ansehen von meinem Hofe aus, wo ich bei den Gesellen stand; ich ging hinüber, stieg bis unter das Dach hinauf und hielt unter der Luke eine Anrede an sie, indem ich ihr die Gefahr ihres Thuns vorstellte. Sie lächelte aber nur und bedankte sich für die gute Meinung. • Es ist daher meine Ansicht, daß Sie nach Haus reisen sollten je eher, je lieber! Kommen Sie gleich mit uns!»
Ich schüttelte aber den Kopf; denn ich konnte mich nicht entschließen, meinen Schiffbruch kund zu thun und so aus der Schule zu laufen. Ich gedachte das Uebel allein zu verwinden und mit geklärtem Schicksal, so oder anders, zur geeigneten Zeit zurückkehren. Mit unbestimmten Reden, in denen ich weder ein zu großes Selbstvertrauen heuchelte, noch meine wirkliche Lage eingestand, behalf ich mir den übrigen Theil des Tages, bis ich am späten Abend von den Landsleuten Abschied nahm, die am frühen Morgen wegreisen wollten.
• Dennoch hatte das Bild der in die Ferne schauenden Mutter ein starkes Gefühl von Heimweh wachgerufen, das mich bisher nur im Schlafe besuchte. 137 Seit ich nämlich die Phantasie und ihr angewöhntes Gestaltungsvermögen nicht mehr am Tage beschäftigte, regten sich ihre Werkleute während des Schlafes mit selbständigem Gebaren und schufen mit anscheinender Vernunft und Folgerichtigkeit ein Traumgetümmel in den glühendsten Farben und buntesten Formen. Ganz wie es wiederum jener irrsinnige Meister und erfahrene Lehrer mir vorausgesagt, sah ich nun im Traume bald die Vaterstadt, bald das Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert, ohne je hineingelangen zu können, oder wenn ich endlich dort war, mit einem plötzlichen freudelosen Erwachen. Ich durchreiste die schönsten Gegenden des Vaterlandes, die ich in Wirklichkeit nie gesehen, schaute Gebirge, Thäler und Ströme mit unerhörten und doch wohlbekannten Namen, die wie Musik klangen und doch etwas Lächerliches an sich hatten.
• Ueber den Mittheilungen des Landsmannes waren mir das Mädchen Hulda von gestern Abend und die heutigen Morgenpläne aus dem Gedächtnisse geschwunden; ermüdet eilte ich den Schlaf zu suchen und verfiel auch gleich wieder dem geschäftigen Traumleben. Ich näherte mich der Stadt, worin das Vaterhaus lag, auf merkwürdigen Wegen, am Rande breiter Ströme, auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock trug, so daß das 138 Wasser kaum durch den ziehenden Rosenwald funkelte. Am Ufer pflügte ein Landmann mit milchweißen Ochsen und goldenem Pfluge, unter deren Tritten große Kornblumen sproßten. Die Furche füllte sich mit goldenen Körnern, welche der Bauer, indem er mit der einen Hand den Pflug lenkte, mit der andern aufschöpfte und weithin in die Luft warf, worauf sie als ein goldener Regen auf mich niederfielen. Ich fing ihrer mit dem Hute auf so viel ich konnte und sah mit Vergnügen, daß sie sich in lauter goldene Schaumünzen verwandelten, auf welchen ein alter Schweizer mit langem Barte und zweihändigem Schwerte geprägt war. Ich zählte sie eifrig und konnte sie doch nicht auszählen, füllte aber alle Taschen damit; die ich nicht mehr hineinbrachte, warf ich wieder in die Luft. Da verwandelte sich der Goldregen in einen prächtigen Goldfuchs, der wiehernd an der Erde scharrte, aus welcher dann der schönste Hafer hervorquoll, den das Pferd muthwillig verschmähte. Jedes Haferkorn war ein süßer Mandelkern, eine Rosine und ein neuer Pfennig, die zusammen in rothe Seide gewickelt und mit einem Endchen Schweinsborste eingebunden waren, welches das Pferd angenehm kitzelte, als es sich darin wälzte, so daß es rief: der Hafer sticht mich!
139• Ich jagte aber den Goldfuchs auf, bestieg ihn, da er schön gesattelt war, ritt beschaulich am Ufer hin und sah, wie der Bauersmann in die schwimmenden Rosen hinein pflügte und mit seinem Gespann darin versank. Die Rosen nahmen ein Ende, zogen sich zu dichten Schaaren zusammen und schwammen in die Ferne, am Horizonte eine Röthe ausbreitend; der Fluß aber erschien jetzt als ein unermeßliches Band fließenden blauen Stahles. Der Pflug des Landmannes hatte sich inzwischen in ein Schiff verwandelt; darin fuhr derselbe, steuerte mit der goldenen Pflugschaar, und sang: «Das Alpenglühen rückt aus und geht um das Vaterland herum!» Hierauf bohrte er ein Loch in den Schiffsboden; darein steckte er das Mundstück einer Posaune, sog kräftig daran, worauf es mächtig erklang gleich einem Harsthorn und einen glänzenden Wasserstrahl ausstieß, der den herrlichsten Springbrunnen in dem fahrenden Schifflein bildete. Der Bauer nahm den Strahl, setzte sich auf den Rand des Schiffes und schmiedete auf seinen Knieen und mit der rechten Faust ein mächtiges Schwert daraus, daß die Funken stoben. Als das Schwert fertig war, prüfte er dessen Schärfe an einem ausgerissenen Barthaare und überreichte es höflich sich selbst, indem er sich plötzlich in den Wilhelm Tell verwandelte, 140 welchen jener beleibte Wirth im Tellenspiel vorgestellt hatte, zur Zeit meiner frühern Jugend. Dieser nahm das Schwert, schwang es und sang mächtig:
• Heio, Heio! bin auch noch do
Und immer meines Schießens froh!
Heio, Heio! die Zeit ist weit,
Der Pfeil des Tellen fliegt noch heut!Wo guckt ihr hin? Seht ihr ihn nicht?
Dort oben tanzt er hoch im Licht!
Man weiß nicht, wo er stecken bleibt,
Heio, s' ist immer, wie man's treibt!
• Dann hieb der dicke Tell mit dem Schwerte von der Schiffswand, die nun eine Speckseite war, einen tüchtigen Span herunter und trat mit demselben feierlich in die Kajüte, einen Imbiß zu halten.
• Indessen ritt ich auf dem Goldfuchs weiter und befand mich unversehens mitten in dem Dorfe, darin der Oheim gewohnt. Ich erkannte es kaum wieder, da fast alle Häuser neu gebaut waren. Die Bewohner saßen alle hinter den hellen Fenstern um die Tische herum und aßen und Niemand blickte auf die menschenleere Straße. Dessen war ich aber höchlich froh; denn erst jetzt entdeckte ich, daß ich auf meinem glänzenden Pferde in alten anbrüchigen 141 Kleidern saß. Ich bestrebte mich daher, ferner ungesehen hinter das Haus des Oheims zu gelangen, das ich fast nicht finden konnte. Zuletzt erkannte ich es, wie es über und über mit Epheu bewachsen und außerdem von den alten Nußbäumen überhangen, so daß weder Stein noch Ziegel zu sehen war und nur hie und da ein handgroßes Stückchen Fensterscheibe durch das Grüne blinkte. Ich sah, daß sich etwas dahinter bewegte, konnte aber nichts Deutliches wahrnehmen. Der Garten war von einer Wildniß wuchernder Feldblumen bedeckt, aus denen die aufgeschossenen Gartengewächse baumhoch emporragten, Rosmarin und Fenchelstauden, Sonnenblumen, Kürbisse und Johannisbeeren. Schwärme wildgewordener Bienen brausten auf der Blumenwildniß umher; im Bienenhause aber lag der alte Liebesbrief, den der Wind einst dahin getragen, verwittert und offen, ohne daß ihn die Jahre her jemand gefunden. Ich nahm ihn und wollte ihn einstecken, da wurde er mir aus der Hand gerissen, und als ich mich umsah, huschte Judith damit lachend hinter das Bienenhaus und küßte mich dabei durch die Luft, daß ich es auf meinem Munde fühlte. Der Kuß war aber eigentlich ein Stück Apfelkuchen, welches ich begierig aß. Da es jedoch den Hunger, den ich im Schlafe empfand, nicht stillte, überlegte 142 ich, daß ich wahrscheinlich träume und daß der Kuchen wol von den Aepfeln herrühre, die ich einst küssend mit der Judith zusammen gegessen. Ich fand es also um so gerathener, in das Haus zu gehen, wo gewiß eine Mahlzeit bereit sein würde. Ich packte einen schweren Mantelsack aus, der sich plötzlich auf dem Pferde zeigte, als ich es an den zerfallenden Gartenzaun band. Aus dem Mantelsack rollten die schönsten Kleider hervor und ein feines neues Hemde, dessen Brust mit einer Stickerei von Weinträubchen und Maiglöckchen verziert war. Wie ich aber dies Staatshemd auseinander faltete, wurden zweie daraus, aus den zweien vier, aus den vieren acht, kurz eine Menge der schönsten Leibwäsche breitete sich aus, welche wieder in den Mantelsack zu schieben ich mich vergeblich abmühte. Immer wurden es mehr Hemden und Kleidungsstücke und bedeckten den Boden umher; ich empfand die größte Angst, von meinen Verwandten bei dem sonderbaren Geschäft überrascht zu werden. In der Verzweiflung ergriff ich endlich eines von den Hemden, um es anzuziehen, und stellte mich schamhaft hinter einen Nußbaum; allein man konnte aus dem Hause an diese Stelle sehen und ich schlüpfte beschämt hinter einen andern, und so immer fort von einem Baume zum andern, bis ich dicht an das Haus und in den 143 Epheu hinein gedrückt in Verwirrung und Eile den Anzug wechselte, die schönen Kleider anzog und doch fast nicht fertig werden konnte, und als ich es endlich war, befand ich mich wieder in größter Noth, wo ich das traurige Bündel der alten Kleider bergen solle. Wohin ich es auch trug, immer fiel ein zerlumptes Stück auf die Erde; zuletzt gelang es mit saurer Mühe, das Zeug in den Bach zu werfen, wo es aber durchaus nicht weiter schwimmen wollte, sondern sich auf der gleichen Stelle gemächlich herumdrehte. Ich erwischte eine vermorschte Bohnenstange und quälte mich, die dämonischen Fetzen in die Strömung zu stoßen; aber die Stange brach und brach immer wieder bis auf das letzte Stümpfchen.
• Da berührte ein Hauch meine Wangen, und Anna stand vor mir und führte mich in das Haus. Ich stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der Oheim, die Tante, die Basen und Vettern sämmtlich versammelt waren. Aufathmend sah ich mich um; die alte Stube war sonntäglich geputzt und so sonnenhell, daß ich nicht begriff, wo all das Licht durch den dichten Epheu hindurch herkomme. Oheim und Tante waren in ihren besten Jahren, die Bäschen und Vettern blühender als je, der Schulmeister ebenfalls ein schöner Mann und aufgeräumt wie ein Jüngling, 144 und Anna sah ich als Mädchen von vierzehn Jahren im rothgeblümten Kleide mit der lieblichen Halskrause.
• Was aber sehr sonderbar war, Alle, Anna nicht ausgenommen, trugen lange irdene Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Tabak, und ich desgleichen. Dabei standen sie, die Verstorbenen und die Lebendigen, keinen Augenblick still, sondern gingen mit freundlich frohen Mienen unablässig die Stube auf und nieder, hin und her, und dazwischen niedrig am Boden hin die Jagdhunde, das Reh, der zahme Marder, Falken und Tauben in friedlicher Eintracht, nur daß die Thiere den entgegengesetzten Strich der Menschen verfolgten und so ein wunderbares Gewebe durcheinander lief.
• Der schwere Nußbaumtisch auf seinen gewundenen Füßen war mit einem weißen Damasttuche gedeckt und mit einem aufgerüsteten duftenden Hochzeitessen besetzt. Mir wässerte der Mund und ich sagte zum alten Oheim: «Ei, Ihr scheint Euch da recht wohl sein zu lassen!» «Versteht sich!» erwiderte er und Alle wiederholten «Versteht sich!» mit angenehm klingenden Stimmen. • Plötzlich befahl der Oheim, daß man zu Tische sitze; Alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden, je drei und drei, wie Soldaten ihre Gewehre. Darauf 145 schienen sie schon wieder zu vergessen, daß sie essen gewollt; denn sie gingen zu meinem Verdrusse nach wie vor umher und fingen allmälig an zu singen:
• Weiber und Männer sangen mit rührender Harmonie und Lust, und das Halloh stimmte der Oheim mit gewaltiger Stimme an, daß die ganze Schaar mit verstärktem Gesange darein tönte und rauschte und zugleich blaß und blässer werdend sich in einen wirren Nebel auflöste, während ich bitterlich weinte und schluchzte. Ich erwachte in Thränen gebadet und auch das Kopfkissen war davon benetzt. Als ich mich mit Mühe gesammelt, war das Erste, dessen ich mich erinnerte, der wohlgedeckte Tisch; denn ich hatte nach den Eröffnungen des Landsmannes am Abend nichts mehr essen können und war erst im Schlafe wieder hungrig geworden. Wie ich nun die 146 Gier bedachte, mit welcher ich trotz des Schmuckes der unbeherrschten Phantasie gezwungen war, schließlich immer nur von Gold und Gut, Kleidern und Essen zu träumen, brach ich über diese Erniedrigung neuerdings in Thränen aus, bis ich abermals einschlief.• Wir träumen, wir träumen,
Wir träumen und wir säumen,
Wir eilen und wir weilen,
Wir weilen und wir eilen,
Sind da und sind doch dort,
Wir gehen bleibend fort,
Wem convenirt es nicht?
Wie schön ist dies Gedicht!
Halloh, halloh!
Es lebe was auf Erden stolziert in grüner Tracht,
Die Wälder und die Felder, die Jäger und die Jagd!