(403) • Dies traf auch ein, obgleich noch auf andere Weise, als ich es gehofft hatte. Wir waren noch nicht weit aus dem Thore, als der gastliche Schulmeister sein Wägelchen schon mit drei alten Leutchen beladen hatte und in lustigem Trabe vorausfuhr, der angenommenen hohlen Gasse zu. Still ritten wir nun im Schritte dahin und grüßten sehr beflissen die fröhlichen Leute, denen wir begegneten, links und rechts, bis wir in die Nähe der wogenden und summenden Menge kamen und dieselbe beinah erreichten. Da stießen wir auf den Philosophen, dessen schönes Gesichtchen vor Muthwillen glühte und den tollen Spuk verkündigte, welchen er schon ausgeübt. Er war in gewöhnlicher Kleidung und trug ein Buch in der Hand, da er nebst einem anderen Lehrer das Amt eines Einbläsers übernommen, um überall zur Hand zu sein, wenn einen Helden die Erinnerung verlassen sollte. Doch erzählte er jetzt, wie 404 die Leute gar Nichts mehr hören wollten und Alles von selber seinen ziemlich wilden Gang ginge; er habe daher, rief er, nun die schönste Muße, uns Beiden zu der Jagdscene zu souffliren, die wir ohne Zweifel aufzuführen so einsam ausgezogen wären; es sei auch die höchste Zeit dazu und wir wollten uns ungesäumt an's Werk machen!
• Ich wurde roth und trieb die Pferde an; aber der Philosoph fiel uns in die Zügel; Anna fragte, was denn das wäre mit der Jagdscene, worauf er lachend ausrief: er werde uns doch nicht sagen müssen, was alle Welt belustige und uns ohne Zweifel mehr, als alle Welt! Anna wurde nun auch roth und verlangte standhaft zu wissen, was er meine. Da reichte er ihr das aufgeschlagene Buch, und während mein Brauner und ihr Schimmel behaglich sich beschnupperten, ich aber wie auf Kohlen saß, las sie, das Buch auf dem rechten Knie haltend, aufmerksam die Scene, wo Rudenz und Bertha ihr schönes Bündniß schließen, von Anfang bis zu Ende, mehr und mehr erröthend. Die Schlinge kam nun an den Tag, 405 welche ich ihr so harmlos gelegt, der Philosoph rüstete sich sichtbar zu endlosem Unfuge, als Anna plötzlich das Buch zuschlug, es hinwarf, und höchst entschieden erklärte, sie wolle sogleich nach Hause. Zugleich wandte sie ihr Pferd und begann feldein zu reiten auf einem schmalen Fahrwege, ungefähr in der Richtung nach unserm Dorfe. Verlegen und unentschlossen sah ich ihr eine Weile nach; doch faßte ich mir ein Herz und trabte bald hinter ihr her, da sie doch einen Begleiter haben mußte; während ich sie erreichte, sang uns der Philosoph ein loses Lied nach, welches jedoch immer schwächer hinter uns verklang, und zuletzt hörten wir nichts mehr als die muntere, aber ferne Hochzeitsmusik aus der hohlen Gasse und vereinzelte Freudenrufe und Jauchzer an verschiedenen Punkten der Landschaft. Diese erschien aber durch die Unterbrechungen nur um so stiller und lag mit Feldern und Wäldern friedevoll und doch so freudenvoll im Glanze der Nachmittagssonne, wie im reinsten Golde. Wir ritten nun auf einer gestreckten Höhe, ich hielt mein Pferd immer noch um eine Kopflänge hinter dem ihrigen 406 zurück und wagte nicht, ein Wort zu sagen. Da gab Anna dem Schimmel einen kecken Schlag mit der Gerte und setzte ihn in Galop, ich that das Gleiche; ein lauer Wind wehte uns entgegen, und als ich auf einmal sah, daß sie, ganz geröthet die balsamische Luft einathmend und während ihr Haar wie ein leuchtender Streif wagrecht schwebte, langhin flatternd: daß sie so ganz vergnügt vor sich hin lächelte, den Kopf hoch aufgehalten mit dem funkelnden Krönchen, da schloß ich mich dicht an ihre Seite, und so jagten wir wohl fünf Minuten lang über die einsame Höhe dahin. Aber diese fünf Minuten, kurz wie ein Augenblick, schienen doch eine Ewigkeit von Glück zu sein, es war ein Stück Dasein, an welchem die Zeit ihr Maß verlor, welches einer Blume vollkommen glich, einer Blume, von der man keine Frucht zu verlangen braucht, weil die bloße Erinnerung ihrer Blüthezeit ein volles Genügen und ein Schutzbrief ist für alle Zukunft. Der Weg war noch halb feucht und doch fest, rechts unter uns zog der Fluß, wir sahen seine glänzende Länge hinauf, jenseits erhob 407 sich das steile Ufer mit dunklem Walde und darüber hin sahen wir über viele Höhenzüge weg im Nordosten ein paar schwäbische Berge, einsame Pyramiden, in unendlicher Stille und Ferne. Im Südwesten lagen die Alpen weit herum, noch tief herunter mit Schnee bedeckt, und über ihnen lagerte ein wunderschönes mächtiges Wolkengebirge im gleichen Glanze, Licht und Schatten ganz von gleicher Farbe, wie die Berge, ein Meer von leuchtendem Weiß und tiefem Blau, aber in tausend Formen gegossen, von denen eine die andere überthürmte, Gletscherhäupter und Wolken durcheinander geworfen. Das Ganze war eine senkrecht aufgerichtete glänzende und wunderbare Wildniß, gewaltig und nah an das Gemüth rückend und doch so lautlos, unbeweglich und fern. Wir sahen Alles zugleich, ohne daß wir besonders hinblickten; wie ein unendlicher Kranz schien sich die weite Welt um uns zu drehen, bis sie sich verengte, als wir allmälig bergab jagten, dem Flusse zu. Aber es war uns nur, als ob wir im Traume in einen geträumten Traum träten, als wir auf einer Fähre über den Fluß fuhren, 408 die durchsichtig grünen Wellen sich rauschend am Schiff brachen und unter uns wegzogen, während wir doch auf Pferden saßen und uns in einem schönen Halbbogen über die Strömung weg bewegten. Und wieder glaubten wir uns in einen andern Traum versetzt, als wir, am andern Ufer angekommen, langsam einen dunklen Hohlweg emporklommen, in welchem schmelzender Schnee lag. Hier war es kalt, feucht und schauerlich; von den dunklen Büschen tropfte es und fielen zahlreiche Schneeklumpen, wir befanden uns ganz in einer kräftig braunen Dunkelheit, in deren Schatten der alte Schnee traurig schimmerte, nur hoch über uns glänzte der goldene Himmel. Auch hatten wir den Weg nun verloren und wußten nicht recht, wo wir waren, als es mit einem Male grün und trocken um uns wurde. Wir kamen auf die Höhe und befanden uns in einem hohen Tannenwald, dessen Stämme drei bis vier Schritte aus einander standen, dessen Boden dicht mit trockenem Moose bezogen war und dessen Aeste hoch oben ein dunkelgrünes Dach bildeten, so daß wir vom Himmel fast Nichts 409 mehr sehen konnten. Ein warmer Hauch empfing uns hier, goldene Lichter streiften hier und da über das Moos und an den Stämmen, der Tritt der Pferde war unhörbar, wir ritten gemächlich zwischen durch, um die Tannen herum, bald trennten wir uns und bald drängten wir uns nahe zusammen zwischen zwei Säulen durch, wie durch eine Himmelspforte. Eine solche Pforte fanden wir aber gesperrt durch den quergezogenen Faden einer frühen Spinne; derselbe blitzte in einem Streiflichte in allen Farben, blau, grün und roth, wie ein Diamantstrahl. Wir bückten uns einmüthig darunter weg und in diesem Augenblicke kamen sich unsere Gesichter so nah, daß wir uns unwillkürlich küßten. Wir hatten schon im Hohlweg zu sprechen angefangen und plauderten nun eine Weile ganz glückselig, bis wir uns darauf besannen, daß wir uns geküßt, und sahen, daß wir roth wurden, wenn wir uns anblickten. Da wurden wir wieder still. Der Wald senkte sich nun auf die andere Seite hin und stand wieder im tiefen Schatten. In der Tiefe sahen wir ein Wasser glänzen und die gegenüberstehende Berghalde, 410 ganz nah, leuchtete mit Felsen und Fichten im hellen Sonnenscheine durch die dunklen Stämme, unter denen wir zogen, und warf ein wunderbares Zwielicht in die schattigen Hallen unseres Tannenwaldes. Der Boden wurde jetzt so abschüssig, daß wir absteigen mußten. Als ich Anna vom Pferde hob, küßten wir uns zum zweiten Male, sie sprang aber sogleich weg und wandelte vor mir über den weichen grünen Teppich hinunter, während ich die beiden Thiere führte. Wie ich die reizende, fast mährchenhafte Gestalt so durch die Tannen gehen sah, glaubte ich wieder zu träumen und hatte die größte Mühe, die Pferde nicht fahren zu lassen, um mich von der Wirklichkeit zu überzeugen, indem ich ihr nachstürzte und sie in die Arme schloß. So kamen wir endlich an das Wasser und sahen nun, daß wir uns bei der Heidenstube befanden, in einem wohlbekannten Bezirke. Hier war es wo möglich noch stiller, als in dem Tannenwalde, und am allerheimlichsten; die besonnte Felswand spiegelte sich in dem reinen Wasser, über ihr kreisten drei große Weihen in der Luft, sich unaufhörlich 411 begegnend, und das Braun auf ihren Schwingen und das Weiß an der inneren Seite wechselten und blitzten mit dem Flügelschlage und den Schwenkungen im Sonnenscheine, während wir unten im Schatten waren. Ich sah dies Alles in meinem Glücke, indessen ich den guten Gäulen, welche nach dem Wasser begehrten, die Zäume abnahm. Anna erblickte ein weißes Blümchen, ich weiß nicht was für eines, brach es und trat auf mich zu, es auf meinen Hut zu stecken; ich sah und hörte jetzt Nichts mehr, als wir uns zum dritten Male küßten. Zugleich umschlang ich sie mit den Armen, drückte sie mit Heftigkeit an mich und fing an, sie mit Küssen zu bedecken. Erst hielt sie zitternd einen Augenblick still, dann legte sie ihre Arme um meinen Hals und küßte mich wieder; aber bei dem fünften oder sechsten Kusse wurde sie todtenbleich und suchte sich loszumachen, indessen ich ebenfalls eine sonderbare Verwandlung fühlte. Die Küsse erloschen wie von selbst, es war mir, als ob ich einen urfremden, wesenlosen Gegenstand im Arme hielte, wir sahen uns fremd und erschreckt in's Gesicht, unentschlossen hielt ich 412 meine Arme immer noch um sie geschlungen und wagte sie weder loszulassen, noch fester an mich zu ziehen. Mich dünkte, ich müßte sie in eine grundlose Tiefe fallen lassen, wenn ich sie los ließe, und tödten, wenn ich sie ferner gefangen hielt; eine große Angst und Traurigkeit senkte sich auf unsere kindischen Herzen. Endlich wurden mir die Arme locker und fielen auseinander, beschämt und niedergeschlagen standen wir da und blickten auf den Boden. Dann setzte sich Anna auf einen Stein, dicht an dem klaren tiefen Wasser und fing bitterlich an zu weinen. Erst als ich dies sah, konnte ich mich wieder mit ihr beschäftigen, so sehr war ich in meine eigene Verwirrung und in die eisige Kälte versunken, die uns überfallen hatte. Ich näherte mich dem schönen, trauernden Mädchen und suchte eine Hand zu fassen, indem ich zaghaft ihren Namen nannte. Aber sie hüllte ihr Gesicht fest in die Falten des langen grünen Kleides, fortwährend reichliche Thränen vergießend. Endlich erholte sie sich ein wenig und sagte bloß: «O es war so schön! wir waren so glücklich bis jetzt!» Ich glaubte sie zu 413 verstehen, weil ich ziemlich das Gleiche fühlte, nur nicht so tief und fein wie sie; daher erwiederte ich Nichts, sondern setzte mich still neben sie, sie lehnte sich auf meine Schulter und so blickten wir mit düsterem Schweigen in das feuchte Element, von dessen Grund unser Spiegelbild, Haupt neben Haupt, zu uns herauf sah.
Nicht nur unsere Neigung, sondern unsere ganze gegenseitige Art, war zu ernst und zu tief, als daß ein so frühzeitiges unbeschränktes Liebkosen, Herzen und Küssen derselben hätte entsprechen können; wir waren keine Kinder mehr und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor uns, deren allmälige Blüthen voraus zu brechen unsere Natur zu stolz war. Meine Phantasie war zwar schon seit geraumer Zeit, eigentlich von jeher wach; allein abgesehen davon, daß zwischen Phantasie und Wirklichkeit eine jähe Kluft liegt, hatte ich, wenn mich verlangte, schöne Frauen zu liebkosen, immer mir sonst gleichgültige, meist nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu sein und sie mein eigen zu wissen mein einziger 414 Wunsch war. Um wie viel mehr mußte sie betroffen sein, welche ein Mädchen und dazu tausendmal feiner, reiner und stolzer war, als alle Anderen! • Indem ich sie so gewaltsam an mich drückte und küßte und sie in der Verwirrung dies erwiederte, neigten wir den Becher unserer unschuldigen Lust zu sehr; sein Trank überschüttete uns mit plötzlicher Kälte und das fast feindliche Fühlen des Körpers riß uns vollends aus dem Himmel. Diese Folgen einer so unschuldigen und herzlichen Aufwallung zwischen zwei jungen Leutchen, welche als Kinder schon genau dasselbe gethan ohne alle Bekümmerniß, mögen Vielen närrisch vorkommen; uns aber dünkte die Sache gar nicht spaßhaft, und wir saßen mit wirklichem Grame an dem Wasser, das um keinen Grad reiner war, als Anna's Seele. Unsere Lage war um so peinlicher, als wir uns diese Rechenschaft darüber damals nicht zu geben vermochten. Ich meinerseits befand mich in der völligsten Verwirrung. Daß wir etwas Unrechtes gethan, konnte mir nicht einfallen; ich glaubte daher, daß der Vorfall irgend etwas Fremdes, 415 Unheimliches zwischen uns an's Licht geführt, gar gezeigt hätte, daß Eines von uns das Andere nicht liebe; und doch fühlte ich wahrer als je meine Liebe und wagte auch nicht zu denken, daß Anna mich nicht lieben sollte. Den wahren Grund der schreckhaften Begebenheit ahnte ich gar nicht; denn ich hatte keine Ahnung davon, daß in jenem Alter das rothe Blut weiser sei, als der Geist, und sich von selbst zurückdämme, wenn es in ungehörige Wellen geschlagen worden. Anna hingegen mochte sich hauptsächlich vorwerfen, daß sie nun doch für ihr Nachgeben, dem Feste beizuwohnen, bestraft und ihre eigene Art und Weise, unser Verhältniß nach ihrem freien und zarten Fühlen sich entwickeln zu lassen, gewaltsam gestört worden sei. Wäre ich ein paar Jahre älter gewesen als sie, so hätte ich ein gewisses Recht und damit auch die Kraft und Sicherheit gehabt, ihre Sprödigkeit zu überwinden und zu beruhigen; so aber vermehrte meine eigene Rathlosigkeit die Vorwürfe, die sie sich machte, während doch alle Schuld auf mir lag. Ja, es schien nun ausgemacht, daß eigentlich mein Plan, daß sie heute 416 die Brunneckerin vorstellen sollte, während ich den Rudenz machte, das Ereigniß herbeigeführt und daß unsere Küsse in den seltsamen Kleidern wohnten, welche wir anhatten. Jedenfalls hätte ich ohne diesen Umstand noch lange warten können, bis uns eine solche Vertraulichkeit widerfahren wäre.
• Ein gewaltiges Rauschen in den Baumkronen rings um uns weckte uns aus der melancholischen Versenkung, die eigentlich schon wieder an eine andere Art von schönem Glück streifte; denn meiner Erinnerung sind die letzten Augenblicke, ehe uns der starke Südwind wach rauschte, nicht weniger lieb und kostbar, als jener Ritt auf der Höhe und durch den Tannenwald. Auch Anna schien sich zufriedener zu fühlen; als wir uns erhoben, lächelte sie flüchtig gegen unser verschwindendes Bild im Wasser, doch schienen ihre anmuthig entschiedenen Bewegungen zugleich zu sagen: Wage es ferner nicht, uns berührend zu begegnen, bis die rechte Stunde gekommen!
• Die Pferde hatten längst zu trinken aufgehört und standen verwundert in der engen Wildniß, 417 wo sie zwischen Steinen und Wasser keinen Raum fanden, zu stampfen oder zu scharren; ich legte ihnen das Gebiß an, hob Anna auf den Schimmel und denselben führend, suchte ich auf dem schmalen, oft vom Flüßchen beeinträchtigten Pfade so gut als möglich vorwärts zu dringen, während der Braune geduldig und treulich nachfolgte. Wir gelangten auch wohlbehalten auf die Wiesen und endlich unter die Bäume vor dem alten Pfarrhause. Kein Mensch war daheim, selbst der Oheim und seine Frau waren auf den Abend fortgegangen und Alles still um das Haus. Derweil Anna sogleich hinein eilte, zog ich den Schimmel in den Stall, sattelte ihn ab und steckte ihm sein Heu vor. Dann ging ich hinauf, um für den Braunen etwas Brot zu holen, da ich auf ihm noch dem Schauspiele zuzueilen gedachte. Auch forderte mich Anna gleich dazu auf, als ich in die Stube kam. Sie war schon umgekleidet und flocht eben ihr Haar etwas hastig in seine gewohnten Zöpfe; über dieser Beschäftigung von mir betroffen, erröthete sie auf's Neue und ward verlegen. «Reut dich denn,» sagte ich, «dieser 418 Tag so ganz und gar?» – «O nein!» erwiederte sie, auf ihr Costüm deutend, welches schon zusammengelegt auf dem Tische lag, die Krone oben auf, «ich will auch diese Sachen aufbewahren und sie sollen nie mehr getragen werden!»
• Ich ging hinab, den Braunen zu füttern, und während ich ihm das Brot vorschnitt und ein Stück um das andere in das Maul steckte, stand Anna an dem offenen Fenster, ihr Haar vollends aufbindend, und schaute mir zu. Die gemächliche Beschäftigung unserer Hände in der Stille, die über dem Gehöfte lagerte, erfüllte uns mit einer tiefen und von Grund aus glücklichen Ruhe, und wir hätten Jahre lang so verharren mögen; manchmal biß ich selbst ein Stück von dem Brote, ehe ich es dem Pferde gab, worauf sich Anna ebenfalls Brot aus dem Schranke holte und am Fenster aß. Darüber mußten wir lachen, und wie uns das trockene Brot so wohl schmeckte nach dem festlichen und geräuschvollen Mahle, so schien auch die jetzige Art unseres Zusammenlebens das rechte Fahrwasser zu sein, in welches wir nach dem kleinen Sturme eingelaufen 419 und in welchem wir bleiben sollten. Anna gab ihre Zufriedenheit auch dadurch zu erkennen, daß sie das Fenster nicht verließ, bis ich weggeritten war, und mir noch ein liebevoll schalkhaftes Adieu nachrief.
• Gleich vor dem Dorfe kam der Schulmeister heim gefahren mit dem oheimlichen Ehepaar, denen ich sagte, daß Anna schon zu Hause sei, und ein Stück weiter stieß ich auf des Müllers Knecht, welcher dessen Pferd nach Hause führte. Da ich vernahm, daß schon Alles bei dem Zwinguri versammelt und dort ein großes Halloh sei, auch der Weg dahin nicht mehr weit war, gab ich meinen Gaul auch dem Knecht und eilte zu Fuß weiter. Zum Zwinguri hatte man eine verfallene Burgruine bestimmt, welche auf dem höchsten Punkte einer Bergallmende steht und eine weite Aussicht in's Gebirge hinüber gewährt. Die Trümmer waren durch einiges Stangen- und Brettergerüst so bekleidet, als ob sie eben im Aufbau statt im Verfalle wären, und mit den Kränzen der triumphirenden Tyrannei behangen. Die Sonne ging eben unter, als ich ankam und 420 sah, wie das Volk das Gerüste zusammen brach und mit den Kränzen auf einen gewaltigen Holz- und Reisighaufen warf und diesen anzündete. Hier ging auch die Verherrlichung des Tell vor sich, statt vor seinem Hause, doch nicht mehr nach der geschriebenen Ordnung, sondern in Folge einer allgemeinen Erfindungslust, wie der Augenblick sie in den tausend Köpfen erweckte, und der Schluß der Handlung ging unbestimmt in eine rauschende Freudenfeier über. Die weggejagten Zwingherren mit ihrem Trosse waren wieder herangeschlichen und gingen um unter dem Volke als vergnügte Gespenster; sie stellten die harmloseste Reaction vor. Auf allen Hügeln und Bergen sahen wir jetzt die Fastnachtsfeuer brennen; das unsrige flammte bereits in großem Umfange, wir standen in einem Kreise hundertweise darum und Tell, der Schütz, zeigte sich jetzt auch als einen guten Sänger, sogar als einen Propheten, indem er ein kräftiges Volkslied von der Sempacherschlacht vorsang, dessen Chorzeilen von Allen wiederholt wurden. Wein war in Menge vorhanden, es bildeten sich mehrere Liederchöre, 421 schlichte, einstimmige, welche alte Lieder sangen, wie vierstimmige Männerchöre mit neuen Liedern, gemischte Singschulen von Mädchen und Jünglingen, Kinderschaaren, Alles sang, klang und wogte durcheinander auf der Allmende, über welche das Feuer einen röthlichen Schein verbreitete. Vom Gebirge herüber wehte immer stärker und wärmer der Föhn und wälzte große Wolkenzüge über den Himmel; je dunkler die Luft wurde, desto lauter ward die Freude, welche, zunächst um Burgtrümmer und Feuer in einem großen Körper lagernd, weiterhin die Halde hinab sich in viele Gruppen und Einzelne vertheilte, die bald noch im röthlichen Scheine streiften, bald in der Dunkelheit jauchzten. Noch weiterhin summte die Lust aus den dunklen Gefilden und wiederglänzte zuletzt wieder sichtbar in den zahlreichen Flammen am Horizonte. Der uralte gewaltige Frühlingshauch dieses Landes, obschon er Gefahr und Noth bringen konnte, weckte ein altes, trotzig frohes Naturgefühl, und indem er in die Gesichter und in die wilden Flammen wehte, ging die Ahnung zurück vom Feuerzeichen des politischen 422 Bewußtseins, über die Christenfeuer des Mittelalters zu dem Frühlingsfeuer der Heidenzeit, das vielleicht zur selben Stunde, auf derselben Stelle gebrannt. In den dunklen Wolkenlagern schienen Heerzüge verschwundener Geschlechter vorüberzuziehen, manchmal anzuhalten über dem nächtlich singenden und tönenden Volkshaufen, als ob sie Lust hätten herabzusteigen und sich unter die zu mischen, welche ihre Spanne Zeit am Feuer vergaßen. Es war aber auch eine köstliche Stelle, diese Allmende; der bräunliche Boden, vom ersten Anflug des ergrünenden wilden Grases überschossen, dünkte uns weicher und elastischer als Sammetpolster, und vor der fränkischen Zeit schon war er für die Bewohner der Gegend dasselbe gewesen, was heute.
• Die Stimmen der Weiber waren mit der Nacht lauter geworden; während die älteren schon fortgegangen und die verheiratheten Männer sich zusammenthaten, um vertraute Zechstuben aufzusuchen, begannen die Mädchen ihre Herrschaft unbefangener auszuüben, erst in lachenden Kreisen, bis zuletzt Alles bei einander war, was zusammengehörte, 423 und jedes Paar auf seine Weise sich zeigte oder verbarg. Doch als das Feuer zusammenfiel, lösten sich die verschlungenen Menschenkränze und begannen in großen und kleinen Gruppen dem Städtchen zuzuziehen, wo auf dem Rathhause, sowie in einigen Gasthäusern Pfeifen und Geigen sie erwarteten. Ich hatte mich in dem Gedränge unstät herumgetrieben; denn wo es die Geschlechter mit einander zu thun haben, wird auf den Vereinzelten keine Rücksicht genommen, und Jeder ist nur mit dem Gegenstande seiner Neigung beschäftigt, das Errungene festhaltend oder das noch nicht Errungene mit seinen Wünschen verfolgend. So war ich achtlos zurückgeblieben und vergnügte mich an der verlöschenden Gluth, um welche außer einigen Knaben nur noch jene Fratzgestalten herumtanzten, weil das für sie Nichts kostete. Sie sahen in den flatternden Hemden und mit den hohen Papiermützen aus wie Gespenster, die dem grauen Gemäuer entstiegen. Einige zählten auch die Münzen, welche sie etwa erhascht, Andere suchten aus dem Feuer noch ein verkohltes Holzscheit zu ziehen, und besonders 424 sah ich Einen, welcher sich zu den tollsten Sprüngen angestrengt, und den ich für einen jungen Taugenichts gehalten, nunmehr nach der Entlarvung als ein eisgraues Männchen zum Vorschein kommen und sich hastig mit einem rauchenden Fichtenklotze abquälen.
• Ich wandte mich endlich hinweg und ging langsam davon, unschlüssig, ob ich nach Hause gehen oder dem Städtchen zusteuern sollte. Mein Mantel, der Degen und die Armbrust waren mir längst hinderlich; ich nahm Alles zusammen unter dem Arm, und indem ich rascher von der Allmende herunter schritt, fühlte ich mich so munter und lebenslustig, wie am frühen Morgen, und je länger ich ging, desto stärker erwachte mir ein unbändiger Durst, einmal die Nacht zu durchschwärmen, und zugleich ein mächtiger Zorn, daß ich Anna so leichten Kaufes entlassen. Ich bildete mir ein, ganz der Mann dazu zu sein, in hohem Liebesglücke ein Liebchen eine festliche Nacht entlang zu führen, unter Tanz, Becherklang, Scherz und Kuß. Ich machte mir die bittersten Vorwürfe, den einzigen Tag so ungeschickt 425 und schwachmüthig verpfuscht zu haben, und stellte mir zugleich voll Eitelkeit vor, daß es Anna eben so ergehe und sie vielleicht schlaflos auf ihrem Lager sich nach mir sehne; denn es mochte schon zehn Uhr vorüber sein. • Unversehens war ich in dem Flecken angelangt, welcher von Musik ertönte, und als ich in einen übervollen Saal trat, in welchem die blühenden Paare sich drehten, da klopfte mein Blut immer unwilliger und heißer; ich bedachte nicht, daß wir die einzigen sechszehnjährigen Leutchen gewesen wären, die sich im offenkundigen Vereine zeigten, noch weniger, daß unsere heutigen Erlebnisse zehnmal schöner und bedeutsamer waren, als Alles, was diese lärmende Jugend hier genießen konnte, und daß ich mich in der Erinnerung derselben reich und glücklich genug hätte fühlen sollen. Ich sah nur die Freude der Zwanzigjährigen, der Verlobten und Selbständigen, und maßte mir ihr Recht an, ohne im Mindesten zu ahnen, daß mein prahlerisches Blut, sobald ich Anna wirklich zur Seite gehabt hätte, augenblicklich wieder zahm und sittig geworden wäre. Es gereicht mir auch nicht 426 zur Ehre, daß es ihrer leibhaften Gegenwart bedurft hätte, zur Bescheidenheit zurückzukehren. Doch als ich von meinen Vettern und Bekannten als ein verloren Geglaubter tapfer begrüßt und in den Strudel gezogen wurde, blendete mich das Licht der Freude, daß ich mich und meinen Aerger vergaß und der Reihe nach mit meinen drei Basen tanzte. Nach diesen tanzte ich mit einem fremden zierlichen Mädchen; allein ich erhitzte mich immer mehr, ohne zufrieden zu sein; die Lust, welche im Ganzen so viel Geräusch machte, ging mir im Einzelnen viel zu langsam und nüchtern vor sich. So freudestrahlend alle die jungen Leute drein blickten, schien es mir doch nur ein matter Schimmer zu sein gegen den Glanz, der in meiner Phantasie wach geworden. Unruhig streifte ich durch einige Trinkstuben, die neben dem Saale waren, und wurde von einer Gesellschaft junger Burschen angehalten, welche purpurrothen Wein tranken und dazu sangen. Hier schien meine Sehnsucht endlich ein Ziel zu finden, ich trank von dem kühlen Wein, dessen schöne Farbe meinen Augen sehr wohl gefiel, und 427 fing leidenschaftlich an zu singen. Kaum hatte ein Lied geendet, so begann ich ein anderes, schlug ein rascheres Tempo an und erhob bei ausdrucksvollen Stellen die Stimme, daß sie bald die Anderen übertönte. Verwundert, daß der Duckmäuser aus der Stadt noch besser trinken und lärmen könne, als sie, wollten die Burschen nicht zurückbleiben, wir feuerten uns gegenseitig an, ich sang und sang immer zu und bemerkte erst bei einem Rundgesange, wo ich eine Weile schweigen mußte, daß sämmtliche Bäschen durch die Thüre guckten und mich mit vergnügtem Erstaunen in meiner Gloria sitzen sahen. Sie lachten mir zu, winkten mir drohend, weil ich ihr Panier verlassen, und forderten mich auf, wieder zu tanzen. Aber ich war nun ein gemachter und angesehener Mann unter meinen Gesellen, ganz wie einst als Knabe, wo ich eine Zeit lang den Renommisten gespielt, und als einige davon sich wieder nach Mädchen umsahen, brach ich mit zwei wilden Jünglingen auf, das Städtchen zu durchziehen. Arm in Arm stürmte ich mit den gesunden Bauerssöhnen über die Straße, wir gaben uns die lustigsten 428 Redensarten zum Besten, sangen und empfanden das reine und edle Vergnügen, welches entsteht, wenn Ungleiches sich eint und zu Gefallen lebt. • Doch schon im nächsten Tanzhause, in welches wir traten, verlor ich einen um den anderen meiner neuen Freunde, indem sie hier fanden, was sie wahrscheinlich gesucht hatten, und ich setzte allein, aber rastlos, meinen Streifzug fort. Hie und da schaute ich einen Augenblick zu, trank bei Bekannten ein Glas, erwiederte ungesäumt und etwas gesalzen die Späße, die man an mich richtete, bis ich in eine Stube kam, wo an einem großen runden Tische noch vier von den barmherzigen Brüdern saßen. Zwei waren schon abgefallen und verschwunden; die hier saßen, hatten bereits ihren dritten Rausch hinter sich und befanden sich nun in jenem lässigen Zustande, in welchem erfahrene Zechbrüder einen lustigen Tag austönen lassen, wohlgeschliffene Witze machen und ihren Wein so trinken, als ob sie nicht mehr viel darum gäben, sich aber wohl hüten, schließlich einen Tropfen stehen zu lassen. • Etwas entfernt von ihnen saß am gleichen Tische 429 die Judith, welcher die Brüder der Sitte gemäß ein Glas geboten. Sie schien sich ganz allein bei dem Feste umgesehen zu haben und sich nun am besten zu gefallen, die Witze und Verfänglichkeiten dieser Herren schlagfertig zurückzugeben und sie in Respect zu halten, wozu es keiner geringen Gewandtheit und Kraft bedurfte. Sie saß eben so lässig da, zurückgelehnt und halb abgewandt und warf ihre Erwiederungen gleichmüthig hin. Die Mönche hatten ihre Flachsbärte abgelegt und die gefärbten Nasen gewaschen; nur der Aelteste, welcher einen angehenden Kahlkopf und eine natürliche Feuernase besaß, prangte noch mit dem hohen Roth derselben. Dies war der Unnützeste und rief mir zu, als ich vorübergehen wollte: «Heda, Grünspecht! wo hinaus?» Ich stand still und erwiederte: «Guter Freund! ihr habt vergessen, den Zinnober von eurer Nase zu wischen, wie die anderen Herren doch gethan! Ich mache euch hiermit aufmerksam, damit ihr nicht etwa euer Kopfkissen roth macht.»
• Das Gelächter der Uebrigen nahm mich sogleich in den holden Bund auf; ich mußte mich 430 setzen und ein Glas annehmen, worauf sie sagten: «Und dennoch, könnt ihr glauben, daß dieser Kerl es noch für nöthig befunden hat, heut seine Nase zu schminken?» – «Das war freilich,» erwiederte ich, «ebenso thöricht, als wenn man eine Rose schminken wollte!»
• «Und dazu viel gefährlicher,» versetzte ein Anderer, «denn eine Rose schminken, heißt ein Werk Gottes verbessern wollen, und der liebe Gott verzeiht! Aber eine rothe Nase schminken, heißt den Teufel verhöhnen, und der verzeiht nicht!»
• So ging es fort; sie verhandelten nun seinen Kahlkopf, wobei ich aber bald weit zurückblieb, indem sie über diesen Gegenstand allein wohl zwanzig verschiedene Witze machten, welche in der Phantasie die lächerlichsten Vorstellungen erregten, und von denen einer den andern an Neuheit und Kühnheit der Bilder überbot. Judith lachte, als die Taugenichtse über sich selbst herfuhren, und als der Angegriffene dies sah, suchte er sich aus dem Feuer zu retten, indem er sich gegen sie wendete. Sie saß da in einem schlichten braunen Kleide, die Brust mit einem weißen Halstuche 431 bedeckt, welches ein wenig ihren prächtigen Hals sehen ließ; um diesen lag eine feine Goldkette und verlor sich im Halstuche, sonst trug sie keinen Putz, als ihr schönes braunes Haar. Der Kahlkopf blinzelte mit den Augen und sang:
«Mein Schatz, um deinen weißen Hals
Geht eine Schnur von Katzengold,
Die führt an deinem Busam
Teuf in dein falsches Herz!»
• Judith erwiederte schnell: «Damit ihr meinen weißen Hals einmal vergeßt, will ich euch auch ein Lied von etwas Weißem berichten!» und sie sang nicht, sondern sagte einfach wohlklingend:
«Es ist eine üble Zeit!
Luna, die weiland keusche Maid,
Liebäugelt auf den Köpfen alter Sünder
Am hellen Tag und höhnt uns arme Kinder.
Schäm' dich, Mondschein!Ich that das Fenster auf
In dunkler Nacht und suchte Luna's Lauf;
Da glänzt sie frech an meines Hauses Schwelle, Wild goß ich Wasser auf die weiße Stelle.
Schäm' dich, Mondschein!»¨
• Ihre Mutter war gestorben, auch hatte sie 432 seither in einer ausländischen Lotterie mehrere Tausend Gulden gewonnen, da sie aus langer Weile sich mit dergleichen Dingen befaßte. So schien sie nun mehr als je für schwere und leichte Schnapphähne ein guter Fang und der Kahle glaubte sie, nachdem er verschiedene Anleihen bei ihr gemacht, welche sie ihm lachend gewährte, im Sturme nehmen zu können, ward aber eben so lachend abgewiesen. Das obige Liedchen aber schien sogar auf ein schlimmes Abenteuer zu deuten, welches er auf seiner Freite bestanden. Denn mit einer ganz heillosen Discretion sahen sich die drei Uebrigen an, mit funkelnden Augen und mühsam verhaltenem Munde, indem sie anfingen, halblaut zu summen:
hm! hm! – hm! hm! hm!
hm! hm! hm! – hm! hm! hm!¨
• Der Rhythmus dieses Gesummes war so verführerisch, daß ich mit einstimmte und eine stolze Glückseligkeit empfand, mit den Spöttern singen zu dürfen: hm hm hm! hm hm hm! – es war still und feierlich in der nur noch schwach erleuchteten Stube und mit feierlicher Behaglichkeit setzten 433 wir die seltsamen Takte fort. Judith lachte hell auf und rief: «O ihr Kindsköpfe!» Da brachen wir laut aus: Ha ha ha! – ha ha ha! • Der Gehöhnte aber spähte umher, zog unversehens dem lautesten Spötter ein hervorguckendes Blatt aus der Kutte und las dessen Ueberschrift: «Christliche Wochenbötin, ein conservatives Volksblättlein.» Der Spott entlud sich nun auf den Ueberraschten, dessen schwache Seite sein Conservatismus war, den er weder genugsam zu erklären noch zu vertheidigen vermochte. Diese Benennung war erst seit einiger Zeit im Umlauf und fing einige Leute, welche vorher im Nebelhaften geschwebt. Der Kahle forderte den Conservativen auf, er solle einmal sagen, was er sich eigentlich darunter denke, wenn er behaupte, conservativ zu sein. Dieser wollte thun, als ob er hierüber keinen Spaß verstehe und wünschte mit wichtigem Gesicht, nicht zu politisiren! Doch ein Anderer rief: «Die Erklärung ist schon im Paradies zu suchen! Als Adam den Thieren ihren Namen gab, war Eines darunter, das wedelte gar bedächtig mit den Ohren und sagte, es sei conservativ; 434 es konnte aber keinen Grund hiefür angeben und Adam sagte: du sollst Esel heißen!» Erbost rückte dieser nun mit seinem innersten und eigentlichen Grunde, der seine fixe Idee war, heraus und warf dem Radicalismus vor, daß er den Wein versäuert und vertheuert hätte. Wenn man noch ein süßes und billiges Glas trinken wolle, so sei dieses einzig in den abgelegenen altväterischen Wirthschaften zu finden, wo die alten Zöpfe hinkröchen, sich vor der Welt zu verbergen. «Sauft,» schrie er, «den radicalen Rachenputzer eurer berühmten politischen Wirthe! Ich halt' es mit den Zöpfen!» Da allerdings etwas Wahres in diesem Vorwurfe lag, so entbrannten die drei Uebrigen ihrerseits im Zorne, schalten den Conservativen einen Verleumder und suchten ihm zu beweisen, daß er ohne den Radicalismus gar keinen Wein zu riechen bekäme, weder guten, noch schlechten, daß er selbst als conservativer Parteibedienter völlig überflüssig wäre und von seinen Zöpfen den Schuh unter den Rücken erhielte statt des stärkenden Weinchens der Proselytenbelohnung. Dies 435 führte zu einem hitzigen Gefechte, worin die Herren gegenseitig ihre Grundsätze, Thatsachen und Parteichefs herunter machten und das in Ausdrücken, Vergleichungen und Wendungen, Schlag auf Schlag, wie sie kein dramatischer Dichter für seine Volksscenen treffender und eigenthümlicher erfinden könnte; nicht einmal nachzuschreiben wären sie, so leicht und blitzähnlich entsprangen die Witze aus den Voraussetzungen, welche bald scharf zutreffend, bald böslich ersonnen, doch immer sich auf die Verhältnisse und Personen gründeten und zu immer neuen Gruppen verschlangen. Ein Leitartikel oder eine Rede wäre zwar aus diesem Turnier nicht zu schöpfen gewesen; doch konnte man sehen, welch' eine ganz vertracte Kritik das Volk auf seine Weise führt, und wie sehr sich derjenige trügt, welcher, von der Tribüne herunter zu zweifelhaften Zwecken das «biedere, gute Volk» anrufend, irgend ein wohlwollendes und naives Pathos voraussetzt. Selbst Aeußerlichkeiten, Angewöhnungen und körperliche Gebrechen wurden in einen solchen Zusammenhang mit den Worten und Handlungen 436 hervorragender Männer gebracht, daß die letzten nur eine nothwendige Folge der ersten zu sein schienen und man glaubte, in den ungelehrten, aber phantasiereichen Volksherren die doctrinärsten Physiognomisten vor sich zu sehen. Mancher angesehene Mann ward hier zu einem lächerlichen oder unheimlichen Popanz umgeschaffen, daß er leibhaft zu sehen war, und selbst die Vertheidigung desselben hätte etwas Demüthigendes für ihn gehabt, wenn er sie gehört hätte. • Wie in einer ganz anderen Welt war ich hier, als bei dem Schulmeister; und doch fühlte ich mich gleich zu Hause und schlürfte die starken und rücksichtslosen Redensarten, die spöttischen und wilden Einfälle ebenso andächtig ein, wie die gewählten ruhigen Worte von Anna's Vater, ohne deswegen den Verkehr mit diesem zu verachten. Ich schien mir dort ein Anderer und hier ein Anderer und doch immer der Gleiche zu sein. Ich freute mich, daß mein Leben eine Seite um die andere vor mir aufthat, und war stolz darauf, indem ich mir einbildete, daß diese lustigen Männer mich ihrer Gesellschaft würdig hielten und 437 ihre Witze vor mir nicht zurückhielten. Mit Vergnügen dachte ich an den Schulmeister und wie ich fürder ernsthaft und anständig mit ihm disputiren wolle, während ich doch noch von was Anderem wüßte; denn es schien mir nun darauf anzukommen, nirgends ausgeschlossen zu sein und Alles zu übersehen, in welchem Vorsatze ich mir unendlich klug vorkam und nicht bemerkte, daß meine Einsicht bereits hintergangen war und ich als ein rechter Knabe in den Schlingen der schönen Judith saß; denn ihrer Anwesenheit war ein guter Theil meiner Behaglichkeit zuzuschreiben.
• Die barmherzigen Brüder waren durch die Politik wieder rüstig und munter geworden und hatten die Flaschen wieder füllen lassen, obgleich Mitternacht lange vorüber, als Judith plötzlich aufbrach und sagte: Frauen und junge Knaben gehören nun nach Hause! Wollt ihr nicht mitkommen, Vetter, da wir den gleichen Weg haben? Ich sagte Ja, doch müßte ich erst nach meinen Verwandten sehen, welche wahrscheinlich auch mitkommen würden. «Die werden wohl schon fort 438 sein,» erwiederte sie, «denn es ist spät; wenn ich nicht darauf gerechnet hätte, daß ich mit euch gehen könnte, so wäre ich auch längst fort.» «Oho!» riefen die Zecher, «als ob wir nicht auch da wären! Wir Alle begleiten euch! Das soll nicht gesagt sein, daß die Judith nicht Begleiter zur Auswahl habe!» brachen auf und sorgten, noch den frischen Wein unterzubringen, während Judith mir winkte und auf dem Flur angekommen sagte: «Diese vier Heiden wollen wir schön anführen!» Auf der Straße sah ich, daß der Saal, wo meine Vettern und Basen sich aufgehalten, schon dunkel war, und mehrere Leute bestätigten ihre Heimkehr. So mußte ich der Judith folgen, als sie mich durch ein dunkles Seitengäßchen in's Freie und durch einige Feldwege auf die Landstraße führte, daß wir einen Vorsprung gewannen und die vier Männer hinter uns rufen hörten. Indem wir eilend weiter schritten, gingen wir um einige Spannen entfernt neben einander her; ich hielt mich spröde zurück, während mein Ohr keinen Ton ihres festen und doch leichten Schrittes verlor und begierig das leise Rauschen 439 ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel, aber das Frauenhafte, Sichere und die Fülle ihres Wesens wirkte aus allen Umrissen ihrer Gestalt wie berauschend auf mich, daß ich alle Augenblicke hinüberschielen mußte, gleich einem angstvollen Wanderer, dem ein Feldgespenst zur Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in seiner Angst sein christliches Bewußtsein wach ruft zum Schutze gegen den unheimlichen Begleiter, trug ich während des verlockenden Ganges einen geistlichen Hochmuth der Sprödigkeit und der Unfehlbarkeit in mir. Judith sprach von den Männern und lachte über sie, erzählte mir unbefangen die Dummheiten, die der Eine ihr gemacht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte Mondgöttin wäre? Wenigstens habe sie das immer vermuthet, wenn sie jenes Lied in einem alten Buche gelesen; es habe auch gut für den Schlingel gepaßt. Dann fragte sie mich plötzlich, warum ich so stolz geworden sei und sie seit Jahren nie mehr angesehen, viel weniger besucht habe? Ich wollte mich damit entschuldigen, daß sie keinen Verkehr mit dem Hause meines Oheims 440 pflege und ich daher schicklicher Weise nicht allein sie besuchen könne. • «Ach was!» sagte sie, «ihr seid ja auch noch mein Vetter und könnt mich von Rechtswegen wohl heimsuchen, wenn ihr wollt! Damals, wo ihr so jung gewesen, habt ihr mich so gern gehabt und ihr seid mir immer ein wenig lieb; aber jetzt habt ihr ein Schätzchen, in welches ihr verliebt seid, und meint, keine andere Frau mehr ansehen zu dürfen!» – • «Ich ein Schätzchen?» erwiederte ich und als sie diese Behauptung wiederholte und Anna nannte, läugnete ich die Sache auf das Bestimmteste. Wir waren unversehens beim Dorfe angekommen, in welchem noch viele Stimmen laut wurden und die jungen Leute über die Straße gingen; Judith wünschte ihnen aus dem Wege zu gehen, und obgleich ich nun füglich meine Straße hätte ziehen können, leistete ich doch keinen Widerstand und folgte ihr unwillkürlich, als sie mich bei der Hand nahm und zwischen Hecken und Mauern durch ein dunkles Wirrsal führte, um ungesehen in ihr Haus zu gelangen. Sie hatte ihre Aecker verkauft und nur einen schönen Baumgarten 441 nächst dem Hause behalten, in welchem sie ganz allein wohnte. Der genossene Wein erhöhte die Aufregung, in welcher ich mich befand, wie wir so durch die engen Wege hinschlüpften, und als bei dem Hause angekommen Judith sagte: «Kommt herein, ich will noch einen Kaffee kochen!» und ich hineinging und sie die Hausthüre fest hinter uns verriegelte, da klopfte mir das Herz wie mit Hämmern, während ich mich übermüthig des Abenteuers freute und mich vermaß, dasselbe zu meiner Ehre, aber verwegen zu bestehen. An Anna dachte ich gar nicht, mein wallendes Blut verfinsterte ihr Bild und ließ nur den Stern meiner Eitelkeit durchschimmern; denn, genau erwogen, wollte ich nur um meiner selbst willen meine Standhaftigkeit erproben. So stark ist die Selbstsucht, daß sie selbst da noch leuchtet, wo die reinste Liebe untergeht, und mit trügerischen Vorspiegelungen den Willen zu gängeln weiß. Doch darf ich mir gestehen, daß es im Grunde eine Art romantischen Pflichtgefühls war, welches mich unbefangen antrieb, keiner merkwürdigen Erfahrung auszuweichen. Auch verlor 442 sich die unheimliche Aufregung, sobald Judith Licht angezündet und ein helles Feuer entflammt hatte. Ich saß auf dem Herde und plauderte ganz vergnüglich mit ihr, und indem ich fortwährend in ihr vom Feuer beglänztes Gesicht sah, glaubte ich stolz mit der Gefahr spielen zu können und träumte mich in die Lage der Dinge zurück, wie ich vor zwei Jahren noch ihr Haar auf- und zugeflochten hatte. Während der Kaffee singend kochte, ging sie in die Stube, um ihr Halstuch abzulegen und ihr Sonntagskleid auszuziehen, und kam im weißen Untergewande zurück, mit bloßen Armen, und aus der schneeweißen Leinwand enthüllten sich mit blendender Schönheit ihre Schultern. Sogleich ward ich wieder verwirrt und erst allmälig, indem ich unverwandt sie anschaute, entwirrte sich mein flimmernder Blick an der ruhigen Klarheit dieser Formen. Ich hatte sie schon als Knabe ein oder zwei Mal so gesehen, wenn sie beim Ankleiden nicht sehr auf mich achtete, und obgleich ich jetzt anders sah, als damals, schien doch die gleiche Vorwurfslosigkeit auf diesem Schnee zu ruhen, 443 auch bewegte sich Judith so sicher und frei, daß diese Sicherheit auch auf mich überging. Sie trug den fertigen Kaffee in die Stube, setzte sich neben mich und indem sie das herbeigeholte Kirchenbuch aufschlug, sagte sie: «Seht, ich habe alle die Bildchen noch, die ihr mir gezeichnet habt!» Wir betrachteten die komischen Dinger, eins um's andere, und die unsicheren Striche von damals kamen mir höchst seltsam vor, wie vergessene Zeichen einer unabsehbar entschwundenen Zeit. Ich erstaunte vor diesen Abgründen der Vergessenheit, die zwischen den kurzen Jugendjahren liegen, und betrachtete die Blättchen sehr nachdenklich; auch die Handschrift, womit ich die Sprüche hineingeschrieben, war eine ganz andere und noch diejenige aus der Schule. Die ängstlichen Züge sahen mich traurig an; Judith sah auch eine Zeitlang still auf das gleiche Bildchen mit mir, dann sah sie mir plötzlich dicht in die Augen, indem sie ihre Arme um meinen Hals legte, und sagte: «Du bist immer noch der Gleiche! An was denkst du jetzt?» – «Ich weiß nicht,» erwiederte ich; «weißt du, fuhr sie fort, 444 daß ich dich gleich fressen möchte, wenn du so studirst, in's Blaue hinaus!» und sie drückte mich enger an sich, während ich sagte: «Warum denn?» – «Ich weiß selbst nicht recht; aber es ist so langweilig unter den Leuten, daß man oft froh ist, wenn man an etwas Anderes denken kann; ich möchte dies auch gern, aber ich weiß nicht viel und denke immer das Gleiche, obschon mir etwas Unbekanntes im Kopfe herumgeht; wenn ich dich nun so staunen sehe, so ist es mir, als ob du gerade an das denkst, woran ich auch gern sinnen möchte, ich meine immer, es müßte Einem so wohl sein, wenn man mit deinen geheimen Gedanken so in die Weite spazieren könnte! O, es muß Einem da so still und klug, so traurig und glückselig zu Muthe sein!» So etwas hatte ich noch niemals zu hören bekommen; obgleich ich wohl einsah, daß die Judith sich allzusehr zu meinen Gunsten täuschte, was meine inneren Gedanken betraf, und ich tief beschämt erröthete, daß ich glaubte, die Röthe meiner brennenden Wange müsse ihre weiße Schulter anglühen, an welcher sie lag: so sog ich doch Wort für Wort 445 dieser süßesten Schmeichelei begierig ein, und meine Augen ruhten dabei auf der Höhe der Brust, welche still und groß aus dem frischen Linnen emporstieg und in unmittelbarster Nähe vor meinem Blicke glänzte wie die ewige Heimath des Glückes. Judith wußte nicht, oder wenigstens nicht recht, daß es jetzt an ihrer eigenen Brust still und klug, traurig und doch glückselig zu sein war. Es dünkt mich, die Ruhe an der Brust einer schönen Frau sei der einzige und wahre irdische Lohn für die Mühe des Helden jeder Art und für alles Dulden des Mannes, und mehr werth, als Gold, Lorbeer und Wein zusammen. Nun war ich zwar sechszehn Jahr alt und weder ein Held noch Mann, der was gethan hatte; doch fühlte ich mich ganz außer der Zeit, wir waren gleich alt oder gleich jung in diesem Augenblicke und mir ging es durch das Herz, als ob ich jetzt jene schöne Ruhe vorausnähme für alles Leid und alle Mühe, die noch kommen sollten. Ja dieser Augenblick schien so sehr seine Rechtfertigung in sich selbst zu tragen, daß ich nicht einmal aufschreckte, als Judith, in 446 dem Gesangbuch blätternd, ein zusammengefaltetes Blatt hervorzog, es aufmachte, mir vorhielt und ich nach langem Sinnen jenes beschriebene und an Anna gerichtete Liebesbriefchen erkannte, das ich vor Jahren einst den Wellen übergeben hatte. «Läugnest du noch, daß dies gute Kind dein Schätzchen sei?» sagte sie, und ich läugnete es aus Muthwillen zum zweiten Male, das Blatt als eine vergessene Kinderei erklärend. • In diesem Augenblicke riefen Stimmen vor dem Hause, welche wir als diejenigen der vier Männer erkannten. Sogleich löschte sie das Licht aus, daß wir im Dunkeln saßen; doch die unten begehrten nichts desto minder Einlaß, indem sie riefen: «So macht doch auf, schöne Judith, und wartet uns mit einer Tasse heißem Kaffee auf! wir wollen uns ehrbar benehmen und noch ein vernünftiges Wort sprechen! Aber macht auf, zum Lohn dafür, daß ihr uns so angeführt habt; es ist Fastnacht und ihr dürft ohne Gefährde einmal die vier ruhmwürdigsten Cumpane des Landes bewirthen!» • Wir hielten uns aber ganz still; schwere Regentropfen schlugen an die Scheiben, es wetterleuchtete 447 sogar und in der Ferne donnerte es, daß es klang, als wäre es Mai oder Juni; um Judith kirre zu machen, sangen die Männer mit heuchlerischer Sorgfalt ein vierstimmiges Lied, so schön sie konnten, und ihr überwachter Zustand gab ihren Stimmen wirklich etwas gerührt Vibrirendes. Als dies Alles nichts half, fingen sie an zu fluchen, und Einer kletterte am Spalier zum Fenster empor, um in die dunkle Stube zu sehen. Wir bemerkten wohl seine spitzige Kapuze, die er über den Kopf gezogen hatte; da erhellte mit einem Mal ein Blitz die Stube, und der Späher konnte Judith ihres weißen Zeuges wegen erkennen. • «Die verwünschte Hexe sitzt ganz aufrecht und munter am Tisch!» rief er gedämpft hinunter; ein Anderer sagte: «Laß mich einmal sehen!» Doch während sie sich ablösten und die Stube wieder finster war, huschte Judith schnell zu ihrem Bett, nahm die weiße Decke desselben und warf sie über den Stuhl, worauf sie mich leis nach dem Bett hinzog, welches man vom Fenster aus nicht sehen konnte. Als jetzt ein zweiter, noch stärkerer Blitz die Stube ganz klar 448 machte, sagte der Mann, welcher die Augen wie eine Doppelbüchse auf den Stuhl gerichtet hatte: «Es ist sie nicht, es ist nur ein weißes Tuch; das Kaffeegeschirr steht auf dem Tisch und das Kirchenbuch liegt dabei. Der Himmelteufel ist am Ende frömmer, als man glaubt!» Judith aber flüsterte mir in's Ohr: «Der Schelm hätte dich jetzt ganz gewiß erblickt, wenn wir sitzen geblieben wären!» • Doch die gewaltigen Regengüsse, Blitz und Donner, die nun hereinbrachen, vertrieben den Späher vom Fenster; wir hörten, wie sie ihre Kutten schüttelten und auseinander sprangen, um im Dorfe ein Unterkommen zu suchen, da sie alle weit von Hause waren. Als wir Nichts mehr von ihnen hörten, saßen wir noch eine Weile ganz still auf dem Bette und lauschten auf das Gewitter, welches das Häuschen erzittern machte, so daß ich mein eigenes leises Zittern nicht recht davon unterscheiden konnte. Ich umfaßte Judith, um nur dies beklemmende Zittern zu unterbrechen, und küßte sie auf den Mund; sie küßte mich wieder, fest und warm; doch dann löste sie meine Arme von ihrem 449 Hals und sagte: «Glück ist Glück und es giebt nur Ein Glück; aber ich kann dich nicht länger hier behalten, wenn du mir nicht gestehen willst, daß du und des Schulmeisters Tochter einander gern habt! Denn nur das Lügen macht Alles schlimm!»
• Ohne Rückhalt begann ich nun, ihr die ganze Geschichte zu erzählen von Anfang bis zu Ende, Alles, was je zwischen Anna vorgefallen, und verband die beredte Schilderung ihres Wesens mit derjenigen der Gefühle, die ich für sie empfand. Ich erzählte auch genau die Geschichte des heutigen Tages und klagte der Judith meine Pein in Betreff der Sprödigkeit und Scheue, welche immer wieder zwischen uns traten. Nachdem ich lange so erzählt und geklagt, antwortete sie auf meine Klagen nicht, sondern fragte mich: «Und was denkst du dir jetzt eigentlich darunter, daß du bei mir bist?» Ganz verwirrt und beschämt schwieg ich und suchte ein Wort; dann sagte ich endlich zaghaft: «du hast mich ja mitgenommen!» – «Ja», erwiederte sie, «aber wärest du mit jeder anderen hübschen Frau ebenso gegangen, 450 die dich gelockt hätte? Besinne dich einmal hierauf!» Ich besann mich in der That und sagte dann ganz entschieden: «Nein, mit gar keiner!» «Also bist du mir auch ein Bischen gut?» fuhr sie fort. Jetzt gerieth ich in die größte Verlegenheit; denn die Frage zu bejahen, fühlte ich nun deutlich, würde die erste eigentliche Untreue gewesen sein und doch, indem es mich trieb, ehrlich nachzudenken, konnte ich noch weniger ein Nein hervorbringen. Endlich konnte ich doch nicht anders und sagte: «Ja – aber doch nicht so, wie der Anna!» – «Wie denn?» Ich umschlang sie ungestüm und indem ich sie streichelte und ihr auf alle Weise schmeichelte, fuhr ich fort: «Siehst du! für die Anna möchte ich alles Mögliche ertragen und jedem Winke gehorchen; ich möchte für sie ein braver und ehrenvoller Mann werden, an welchem Alles durch und durch rein und klar ist, daß sie mich durchschauen dürfte wie einen Krystall, Nichts thun, ohne ihrer zu gedenken und in alle Ewigkeit mit ihrer Seele leben, auch wenn ich von heute an sie nicht mehr sehen würde! Dies Alles könnte ich für dich nicht 451 thun! Und doch liebe ich dich von ganzem Herzen und wenn du zum Beweis dafür verlangtest, ich sollte mir von dir ein Messer in die Brust stoßen lassen, so würde ich in diesem Augenblicke ganz still dazu halten und mein Blut ruhig auf deinen Schooß fließen lassen!» • Ich erschrak sogleich über diesen Worten und entdeckte zugleich, daß sie nichts weniger als übertrieben, sondern ganz der Empfindung gemäß waren, die ich von jeher für Judith unbewußt getragen. • Mit meinen Liebkosungen plötzlich inne haltend, ließ ich die Hand auf ihrer Wange liegen und in diesem Augenblicke fühlte ich eine Thräne darauf fallen. Zugleich seufzte sie und sagte: «Was thue ich mit deinem Blute! – O! nie hat ein Mann gewünscht, brav, klar und lauter vor mir zu erscheinen und doch liebe ich die Wahrheit wie mich selbst!» • Betrübt sagte ich: «Aber ich könnte doch nicht dein ernsthafter Liebhaber oder gar dein Mann sein?» – «O das weiß ich wohl und fällt mir auch gar nicht ein!» erwiederte sie, «ich will dir auch sagen, was du von mir zu denken hast! Ich habe dich zu mir gelockt, erstens, weil 452 ich wieder einmal ein wenig küssen wollte, was ich auch gleich hernach thun will, du bist mir dazu gerade recht! Zweitens wollte ich dich als ein hochmüthiges Bürschchen ein wenig in die Schule nehmen, und drittens macht es mir Vergnügen, in Ermangelung eines Anderen, den Mann zu lieben, der noch in dir verborgen ist, wie ich dich schon als Kind gern gesehen habe.» Mit diesen Worten packte sie mich und fing an mich zu küssen, daß es mir glutheiß wurde und ich nur, um die Gluth zu kühlen, ihre feuchten Lippen festhalten und wieder küssen mußte. Als ich Anna geküßt, war es gewesen, als ob mein Mund eine wirkliche Rose berührt hätte; jetzt aber küßte ich eben einen heißen, leibhaften Mund und der geheimnißvolle balsamische Athem aus dem Inneren eines schönen und starken Weibes strömte in vollen Zügen in mich über. Dieser Unterschied fiel mir so auf, daß mitten im heftigen Küssen Anna's Stern aufging, eben als Judith mehr wie für sich flüsterte: «Denkst du nun auch an dein Schätzchen?» – «Ja,» erwiederte ich, «und ich geh' nun!» und wollte mich losmachen. «So 453 geh'!» sagte sie lächelnd, doch löste sie ihre weichen nackten Arme auf eine so sonderbare Weise aus einander, daß es mir schneidend weh that, mich frei zu fühlen, und eben wieder im Begriffe war, in dieselben zu sinken, als sie aufsprang, mich noch einmal küßte und dann von sich stieß, indem sie leise sagte: «Nun pack' dich, es ist jetzt Zeit, daß du heim kommst!» Beschämt suchte ich meinen Hut und eilte davon, daß sie laut lachte und mir kaum nachkommen konnte, um mir die Hausthüre aufzumachen. «Halt,» flüsterte sie, als ich davon laufen wollte, «geh' da oben durch den Baumgarten hinaus und ein wenig um's Dorf herum!» und sie kam mit mir durch den Garten in ihrem leichten Gewande, obgleich es regnete und stürmte, was vom Himmel herunter mochte. Am Gatter stand sie still und sagte: «Hör' einmal! ich sehe nie einen Mann in meinem Hause und du bist der Erste, den ich seit langer Zeit geküßt! Ich habe Lust, dir nun erst recht treu zu bleiben, frage mich nicht warum, ich muß etwas probiren für die lange Zeit und es macht mir Spaß. Dafür verlange ich aber, daß du jedesmal 454 zu mir kommst, wenn du im Dorfe bist, in der Nacht und heimlich; am Tage und vor den Leuten wollen wir thun, als ob wir uns kaum ansehen möchten. Ich verspreche dir, daß es dich nie gereuen soll. Es wird in der Welt nicht so gehen, wie du es denkst und vielleicht auch mit Anna nicht; das Alles wirst du schon sehen; ich sage dir nur, daß du später froh sein sollst, wenn du zu mir gekommen bist!» – «Nie komme ich wieder!» rief ich etwas heftig – «Bst! nicht so laut,» sagte sie; dann sah sie mir ernsthaft in die Augen, daß ich trotz Sturm und Dunkelheit die ihrigen glänzen sah, und fuhr fort: «Wenn du mir nicht heilig und auf deine Ehre versprichst, daß du wieder kommen willst, so nehm' ich dich sogleich wieder mit, nehme dich zu mir in's Bett und du mußt bei mir schlafen! Das schwöre ich bei Gott!» • Es kam mir gar nicht in den Sinn, über diese Drohung zu lachen oder dieselbe zu verachten; vielmehr versprach ich, so schnell ich konnte, in Judith's Hand, daß ich wieder kommen wollte, und eilte davon. • Ich lief darauf zu, ohne zu wissen wohin; denn der strömende 455 Regen that mir wohl; so war ich bald aus dem Dorfe und auf eine Höhe gekommen, auf welcher ich weiter ging. Der Morgen graute und warf ein schwaches Licht in das Unwetter; ich machte mir die bittersten Vorwürfe und fühlte mich ganz zerknirscht, und als ich plötzlich zu meinen Füßen den kleinen See und des Schulmeisters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den grauen Schleier des Regens und der Dämmerung, da sank ich erschöpft auf den Boden und brach gar jämmerlich in Thränen aus. • Es regnete immerfort auf mich nieder, die Windstöße fuhren und pfiffen durch die Luft und heulten erbärmlich in den Bäumen, ich weinte dazu, was nur die Augen fassen mochten; seltsamer Weise machte ich Niemandem Vorwürfe, als mir selbst, und dachte nicht daran, der Judith irgend eine Schuld beizumessen. Ich fühlte mein Wesen in zwei Theile gespalten und hätte mich vor Anna bei der Judith und vor Judith bei der Anna verbergen mögen. Ich gelobte aber, nie wieder zur Judith zu gehen und mein Versprechen zu brechen; denn ich empfand ein gränzenloses Mitleid mit Anna, 456 die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen Füßen jetzt so still schlafend wußte. Endlich raffte ich mich auf und stieg wieder in's Dorf hinunter; der Rauch stieg aus den Schornsteinen und kroch in wunderlichen Fetzen durch den Regen, ich sann etwas gefaßter darüber nach, was ich im Hause meines Oheims über mein nächtliches Ausbleiben vorgeben wolle. Ich wollte sagen, ich hätte mich verirrt und sei die ganze Nacht umhergestreift. Dies war seit den kritischen Knabenjahren das erste Mal, wo ich zu einem eigennützigen Zwecke wieder lügen mußte; mehrere Jahre hindurch hatte ich nicht mehr gewußt, was lügen sei, und diese Entdeckung machte mir vollends zu Muthe, als ob ich aus einem schönen Garten hinaus gestoßen würde, in welchem ich eine Zeit lang zu Gast gewesen.