GHA 1.05

125 Fünftes Kapitel.

Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für seine Wittwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge. Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und erforderte weitläufige Verhandlungen, um sie ins Reine zu bringen. Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen, Unternehmungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche einzuziehen an allen Ecken und Enden, Vorräthe von Baustoffen mußten mit Verlust verkauft werden und es war zweifelhaft, ob bei der augenblicklichen Lage der Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig bleiben würde, wovon die bekümmerte Frau leben sollte. Gerichtsmänner kamen, legten Siegel an und lösten sie wieder; die Freunde des Verstorbenen 126 und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu, halfen und ordneten; es wurde durchgesehen, gerechnet, abgesondert, gesteigert. Käufer und neue Unternehmer meldeten sich, suchten die Summen herunterzudrücken oder mehr in Beschlag zu nehmen als ihnen gebührte, es war ein Geräusch und eine Spannung, daß meine Mutter, welche immer mit wachsamen Augen dabei stand, zuletzt nicht mehr wußte, wie sie sich helfen sollte. Allmälig klärte sich die Verwirrung auf, ein Geschäft um das andere war abgethan, alle Verbindlichkeiten gelöst und die Forderungen gesichert, und es zeigte sich nun, daß das Haus, in welchem wir zuletzt wohnten, als einziges Vermögen übrig blieb. Es war ein altes hohes Gebäude, mit vielen Räumen und von unten bis oben bewohnt, wie ein Bienenkorb. Der Vater hatte es gekauft in der Absicht, ein neues an dessen Stelle zu setzen; da es aber von alterthümlicher Bauart war und an Thüren und Fenstern viele schöne Ueberbleibsel künstlicher Arbeit trug, so konnte er sich schwer entschließen, es einzureißen und bewohnte es indessen nebst einer Anzahl von 127 Miethsleuten. Auf diesem Hause blieben zwar noch einige fremde Kapitalien ruhen, jedoch hatte es der rührige Mann in der Schnelligkeit so gut eingerichtet und vermiethet, daß ein jährlicher Ueberschuß an Miethgeldern meiner Mutter ein bescheidenes Auskommen sicherte. Die alte Wohnung ist seither unverändert geblieben, wie er sie verlassen hat, und wir haben darin gelebt bis auf diesen Tag, und eine einzige Geschäftsidee des früh Verstorbenen hat hingereicht, seinen Hinterlassenen das Brot zu verschaffen, dessen sie bis jetzt bedurften.

Das erste, was meine Mutter begann, war eine gänzliche Einschränkung und Abschaffung alles Ueberflüssigen, wozu voraus jede Art von dienstbaren Händen gehörte. In der Stille dieses Wittwenthumes fand ich mein erstes deutliches Bewußtsein, welches seinen Inhaber zur Uebung treppauf und ab im Innern des Hauses umherführte. Die untern Stockwerke sind dunkel, sowohl in den Gemächern wegen der Enge der Gassen, als auf den Treppenräumen und Fluren, weil alle Fenster für die Zimmer benutzt 128 wurden. Einige Vertiefungen und Seitengänge gaben dem Raume ein düsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu entdeckende Geheimnisse für mich; je höher man aber steigt, desto freundlicher und heller wird es, indem der oberste Stock, den wir bewohnen, die Nachbarhäuser überragt. Ein hohes Fenster wirft reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs, welcher einen heitern Gegensatz zu den kühlen Finsternissen der Tiefe bildet. Die Fenster unserer Wohnstube gehen auf eine Menge kleiner Höfe hinaus, wie sie oft von einem Häuserviertel umschlossen werden und ein verborgenes behagliches Gesumme enthalten, welches man auf der Straße nicht ahnt. Den Tag über betrachtete ich stundenlang das innere häusliche Leben in diesen Höfen; die grünen Gärtchen in denselben schienen mir kleine Paradiese zu sein, wenn die Nachmittagssonne sie beleuchtete und die weiße Wäsche in denselben wehte, und wunderfremd und doch bekannt kamen mir die Leute vor, welche ich darin gesehen hatte, wenn sie plötzlich einmal 129 in unsrer Stube standen und mit der Mutter plauderten. Unser eigenes Höfchen enthält zwischen hohen Mauern ein ganz kleines Stückchen Rasen mit zwei Vogelbeerbäumchen; ein nimmermüdes Brünnchen ergießt sich mit ewigem Geplätscher in ein ganz grün gewordenes Sandsteinbecken und der ganze Winkel ist kühl und fast schauerlich, ausgenommen im Sommer, wo die Sonne gegen Abend einige Stunden lang darin ruht. Alsdann schimmert das verborgene Grün durch den dunkeln Hausgang so kokett auf die Gasse, wenn die Hausthür aufgeht, daß den Vorübergehenden immer eine Sehnsucht nach dem Freien befällt. Im Herbste werden diese Sonnenblicke immer kürzer und milder, und wenn dann die Blätter an den zwei Bäumchen gelb und die Beeren brennend roth werden, die alten Mauern so wehmüthig vergoldet sind und das Wässerchen einigen Silberglanz dazu gibt, so hat dieser kleine abgeschiedene Raum einen so wunderbar melancholischen Reiz, daß ich später noch oft aus der schönsten offenen Landschaft nach Hause gelaufen bin, wenn ich wußte, daß die Sonne 130 jetzt in den Hof schien. Gegen Sonnenuntergang jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an den Häusern in die Höhe und immer höher, je mehr sich das Meer von Dächern, das ich von unserm Fenster aus übersah, röthete und vom schönsten Farbenglanze belebt wurde. Hinter diesen Dächern war für einmal meine Welt zu Ende; denn den duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hinter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist, hielt ich, da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah, lange Zeit für Eins mit den Wolken. Als ich später zum erstenmale rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen, ungeheuerlichen Daches saß und die ganze ausgebreitete Pracht des See's übersah, aus welchem die Berge in festen Gestalten, mit grünen Füßen aufstiegen, da kannte ich freilich ihre Natur schon von ausgedehnteren Streifzügen im Freien; für jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große Berge und mächtige Zeugen von Gottes Allmacht, ich konnte und mochte sie darum nicht von den Wolken unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte, 131 deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war, wie das Wort Berg. Da die fernen Schneekuppen bald verhüllt, bald heller oder dunkler, weiß oder roth sichtbar waren, so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges, Wunderbares und Mächtiges, wie die Wolken, und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen, wenn sie mir Achtung und Neugierde einflößten. So nannte ich, ich höre das Wort noch schwach in meinen Ohren klingen und man hat es mir nachher oft erzählt, die erste weibliche Gestalt, welche mir wohlgefiel und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war, die weiße Wolke, von dem ersten Eindrucke, den sie in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte. Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise ein langes hohes Kirchendach, das mächtig über alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten, wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen, und diese schiefe, rothglühende Ebene über der dunkeln Stadt 132 war für mich recht eigentlich das, was die Phantasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden versteht. Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Thürmchen, in welchem eine kleine Glocke hing, und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: Was ist Gott? ist es ein Mann? und sie antwortete: Nein, Gott ist ein Geist! Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Thürmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei. Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten, welche ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte. Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam, in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich dasitzend abgebildet war, ging meine Vorstellung von Gott allmälig auf diesen über, ohne daß ich jedoch, so wenig wie vom Hahne, je eine 133 Meinung darüber äußerte. Es waren ganz innerliche Anschauungen, und nur wenn der Name Gottes genannt wurde, so schwebte mir erst der glänzende Vogel und nachher der schöne Tiger vor. Allmälig mischte sich zwar nicht ein klareres Bild, aber ein edlerer Begriff in meine Gedanken. Ich betete mein Vaterunser, dessen vollendet schöne Eintheilung und Abrundung mir das Einprägen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Uebung gemacht hatte, mit großer Meisterschaft und vielen Variationen, indem ich diesen oder jenen Theil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann rückwärts betete und mit den Anfangsworten Vater unser schloß. Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen, daß Gott ein Wesen sein müsse, mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort sprechen ließe, eher, als mit jenen Thiergestalten.

So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem höchsten Wesen, ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit, kein 134 Recht und kein Unrecht, und ließ Gott einen herzlich guten Mann sein, wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde.

Ich fand aber bald Veranlassung, in ein bewußteres Verhältniß zu ihm zu treten und zum ersten Mal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben, als ich, sechs Jahre alt, mich eines schönen Morgens in einen großen, melancholischen Saal versetzt sah, in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und Mädchen unterrichtet wurden. In einem Halbkreise mit sieben andern Kindern um eine Tafel herum stehend, auf welcher riesige Buchstaben gemalt waren, war ich sehr still und gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten. Da wir sämmtlich Neulinge waren, so hatte der Oberschulmeister, ein ältlicher Mann mit einem großen groben Kopfe, die erste Leitung selbst übernommen für eine Stunde und forderte uns auf, abwechselnd die sonderbaren Figuren zu benennen. Ich hatte schon seit geraumer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehört, und es gefiel mir ungemein, nur wußte ich durchaus keine leibliche Form dafür zu finden und 135 Niemand konnte mir eine Auskunft geben, weil die Sache, welche diesen Namen führt, einige hundert Stunden weit zu Hause war. Nun sollte ich plötzlich das große P benennen, welches mir in seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch vorkam, und es ward in meiner Seele klar und ich sprach mit Entschiedenheit: Dieses ist der Pumpernickel! Ich hegte keinen Zweifel, weder an der Welt, noch an mir, noch am Pumpernickel, und war froh in meinem Herzen; aber je ernsthafter und selbstzufriedener mein Gesicht in diesem Augenblicke war, desto mehr hielt mich der Schulmeister für einen durchtriebenen und frechen Schalk, dessen Bosheit sofort gebrochen werden müßte, und er fiel über mich her und schüttelte mich an den Haaren eine Minute lang so wild hin und her, daß mir Hören und Sehen verging. Dieser Ueberfall kam mir seiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein böser Traum vor und ich machte augenblicklich nichts daraus, als daß ich, stumm und thränenlos, aber voll innerer Beklemmung den Mann ansah. Die Kinder haben mich von je her geärgert, welche, 136 wenn sie gefehlt haben oder sonst in Conflict gerathen, bei der leisesten Berührung oder schon bei deren Annäherung in ein abscheuliches Zetergeschrei ausbrechen, das Einem die Ohren zerreißt; und wenn solche Kinder gerade dieses Geschreies wegen oft doppelte Schläge bekommen, so litt ich am entgegengesetzten Extrem und verschlimmerte meine Händel stets dadurch, daß ich nicht im Stande war, eine einzige Thräne zu vergießen vor meinen Richtern. Als daher der Schulmeister sah, daß ich nur erstaunt nach meinem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch einmal über mich her, um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gründlich auszutreiben. Ich litt nun wirklich; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male in mir klar und ich rief flehendlich in meiner Angst: Sondern erlöse uns von dem Bösen! und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir so oft gesagt hatte, daß er dem Bedrängten ein hülfreicher Vater sei. Für den guten Lehrer aber war dies zu stark, der Fall war nun zum außerordentlichen Ereignisse gediehen, und er ließ mich 137 daher straks los, mit aufrichtiger Bekümmerniß darüber nachdenkend, welche Behandlungsart hier angemessen sei. Wir wurden für den Vormittag entlassen, der Mann brachte mich selbst nach Hause. Erst dort brach ich heimlich in Thränen aus, indem ich abgewandt am Fenster stand und die ausgerissenen Haare aus der Stirn wischte, während ich anhörte, wie der Mann, der mir im Heiligthum unserer Stube doppelt fremd und feindlich erschien, eine ernsthafte Unterredung mit der Mutter führte und versichern wollte, daß ich schon durch irgend ein böses Element verdorben sein müßte. Sie war nicht minder erstaunt, als wir beiden Andern, indem ich, wie sie sagte, ein durchaus stilles Kind wäre, welches bisher noch nie aus ihren Augen gekommen sei und keine groben Unarten gezeigt hätte. Allerlei seltsame Einfälle hätte ich allerdings bisweilen; aber sie schienen nicht aus einem schlimmen Gemüthe zu kommen, und meinte sie ganz vernünftig, ich müßte mich wohl erst ein wenig an die Schule und ihre Bedeutung gewöhnen. Der Lehrer gab sich zufrieden, doch mit Kopfschütteln, und war innerlich 138 überzeugt, wie sich aus wiederholten Fällen ergab, daß ich gefährliche Anlagen zeige. Er sagte auch sehr bedeutsam beim Abschiede, daß stille Wasser gewöhnlich tief wären. Dieses Wort habe ich seither in meinem Leben öfter hören müssen und es hat mich immer gekränkt, weil es keinen größeren Plauderer gibt, als mich, wenn ich mit Jemand zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt, daß viele Menschen, welche immer das große Wort führen, aus denen nie klug werden, welche ihretwegen nie zu Worte kommen. Sie pflegen dann plötzlich einmal sich über das Schweigen zu verwundern und zur Theilnahme aufzufordern; ehe aber diese laut werden kann, haben sie schon wieder das Wort genommen und auf ein anderes Gebiet geführt, und wenn sie einmal einer Antwort Raum geben, so verstehen sie die einfache und kurze Logik nicht, an welche sich der Schweigende bei seinem Zuhören gewöhnt hat. Die meisten Gesellschaften lassen in ihrem Gespräche nicht so viel Raum für ein einzuschaltendes Wort, daß man mit einer Nähnadel dazwischen stechen könnte. Es gibt keinen Menschen, welcher nicht 139 das Bedürfniß der Mittheilung empfände; nur muß man sich so weit entäußern können, zuweilen in seine Weise einzugehen und ihm die Fesseln zu lösen. Unter den Erwachsenen ist der Mangel dieser Kunst kein so großer Uebelstand, und die an's Schweigen Gewiesenen befinden sich manchmal nur um so gemüthlicher dabei. Im Umgange mit stillen Kindern aber kann es ein wahres Unglück werden, wenn die großen Schwätzer sich nicht anders zu helfen wissen, als mit dem elenden Gemeinplatze: Stille Wasser sind tief!

Am Nachmittage wurde ich wieder in die Schule geschickt und ich trat mit großem Mißtrauen in die gefährlichen Hallen, welche die Verwirklichung seltsamer und beängstigender Träume zu sein schienen. Ich bekam aber den bösen Schulmann nicht zu Gesicht; er hielt sich in einem Verschlage auf, welcher eine Art Bureau vorstellte und ihm zur Einnahme von kleinen Collationen diente. An der Thüre dieses Verschlages befand sich ein rundes Fensterchen, durch welches der Tyrann öfters den Kopf zu stecken pflegte, wenn draußen ein Geräusch entstand. Die Glasscheibe 140 dieses Fensterchens fehlte seit geraumer Zeit, so daß er durch den leeren Rahmen sein Haupt weit in die Schulstube hineinstrecken konnte zur sattsamen Umsicht. An diesem verhängnißvollen Tage nun hatte der Hausmeister gerade während der Mittagszeit die fehlende Scheibe ersetzen lassen und ich schielte eben ängstlich nach derselben, als sie mit hellem Klirren zersprang und der umfangreiche Kopf meines Widersachers hindurch fuhr. Die erste Bewegung in mir war ein Aufjauchzen der herzlichsten Freude, und erst, als ich sah, daß er übel zugerichtet war und blutete, da wurde ich betreten und es ward zum dritten Male klar in meiner Seele und ich verstand die Worte: Und vergieb uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern! So hatte ich an diesem ersten Tage schon viel gelernt; zwar nicht, was der Pumpernickel sei, wohl aber, daß man in der Noth einen Gott anrufen müsse, daß derselbe gerecht sei und uns zu gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache in uns zu tragen. Aus dem Gebote, seinen Beleidigern zu vergeben, entsteht, wenn es befolgt 141 wird, von selbst die Kraft, auch seine Feinde zu lieben; denn für die Mühe, welche uns jene Ueberwindung kostet, fordern wir einen Lohn und dieser liegt zunächst und am natürlichsten in dem Wohlwollen, welches wir dem Feinde schenken, da er uns einmal nicht gleichgültig bleiben kann. Wohlwollen und Liebe können nicht gehegt werden, ohne den Träger selbst zu veredeln, und sie thun dieses am glänzendsten, wenn sie dem gelten, was man einen Feind oder Widersacher nennt. Diese eigenthümlichste Hauptlehre des Christenthums fand eine große Empfänglichkeit in mir vor, da ich, leicht verletzt und aufgebracht, immer ebenso schnell bereit war, zu vergessen und zu vergeben, und es hat mich später, als mein Sinn sich der Offenbarungslehre zu verschließen anfing, lebhaft beschäftigt, zu ermitteln, inwiefern jenes Gesetz nur der Ausdruck eines schon in der Menschheit vorhandenen und erkannten Bedürfnisses sei; denn ich sah, daß es nur von einem bestimmten Theile der Menschen rein und uneigennützig befolgt wurde, von denjenigen nämlich, welche ihre natürlichen Gemüthsanlagen dazu 142 trieben. Die Andern, welche ihr ursprüngliches Rachegefühl überwanden und auf das Vergeltungsrecht mit Mühe verzichteten, schienen mir oft dadurch mehr Vortheil über ihren Feind zu gewinnen, als sich mit dem Begriffe der reinen Selbstentäußerung vertrug; weil zufolge der tiefen Vernunft und Klugheit, die zugleich im Verzeihen liegt, der Widersacher allein es ist, welcher sich in seiner unfruchtbaren Wuth aufreibt und vernichtet. Dies Verzeihen ist es auch, was in großen geschichtlichen Kämpfen die Ueberlegenheit des Siegers, nachdem er einen Handel männlich ausgefochten hat, vermehrt und beurkundet, daß dieselbe auch moralisch eine reif gewordene ist. So ist das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweisheit und vor der Einführung des Christenthums wohl so oft zur Geltung gekommen, als nach derselben verläugnet worden; das eigentliche Lieben aber des Feindes in voller Blüthe und so lange er uns Schaden zufügt, habe ich nirgends gesehen, weil ich auch bei einigen armen und ungebildeten Sectirern, welche in ihrem heißen Bestreben, 143 das Evangelium ganz wörtlich zu nehmen, neben andern verpöntern Dingen auch diese Tugend übten, das aufrichtige Wesen nicht sattsam von dem ängstlichen Scheine unterscheiden konnte.

Im Verlaufe meiner ersten Schuljahre fand ich nun häufige Gelegenheit, meinen Verkehr mit Gott zu erweitern, da die kleinen Erlebnisse sich vermehrten. Ich hatte mich bald in den Weltlauf ergeben und that, wie die andern Kinder, was ich nicht lassen konnte. Dadurch war ich abwechselnd zufrieden und gerieth in Bedrängniß, wie es das Wohlverhalten oder die Vernachlässigung meiner Pflichten nebst allerhand kindischem Unfuge mit sich brachten. In jeder übeln Lage aber rief ich Gott an und betete in meinem Innern in wenigen wohlgesetzten Worten, wenn die Krisis zu reifen begann, um eine günstige Entscheidung und um Rettung aus der Gefahr, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich immer entweder das Unmögliche oder das Ungerechte verlangte. Oft war es der Fall, daß meine 144 Sünden übersehen wurden; und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen, welche um so vergnüglicher waren, als mir der Sinn für die Verdientheit der Strafe so lange verschlossen blieb, bis ich bewußte Fehler beging. So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung; das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechnenexempels oder daß der Vorgesetzte für einen Tintenklex in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde, das andere Mal, ein zweiter Josua, um Stillstand der Sonne, wenn ich mich zu verspäten drohte, oder auch um Erlangung eines fremden reizenden Backwerkes. Als die Jungfrau, welche ich die weiße Wolke nannte, einst für lange Zeit verreiste und eines Abends bei uns Abschied nahm, während ich schon in meinem Bettchen lag, jedoch Alles hörte, bat ich meinen himmlischen Vater in sehnlichen Ausdrücken, er möchte bewirken, daß sie mich hinter meinen Vorhängen nicht vergesse und noch einmal tüchtig küsse. Ich schlief über der steten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes 145 endlich ein und weiß zur Stunde noch nicht, ob mein Bitte in Erfüllung gegangen ist.

Eines Tages wurde ich zur Strafe über die Mittagszeit in der Schule zurückbehalten und eingeschlossen, so daß ich erst auf den Abend etwas zu essen bekam. Das war das erste Mal, wo ich den Hunger kennen und zugleich die Ermahnungen meiner Mutter verstehen lernte, welche mir Gott vorzüglich als den Erhalter und Ernährer jeglicher Creatur anpries und als den Schöpfer unsers schmackhaften Hausbrotes darstellte, der Bitte gemäß: Gib uns heut unser tägliches Brot! welches nie fehlen dürfe, wenn die Sache nicht schief gehen sollte. Ueberhaupt gewann ich für Essen und Trinken ein großes Interesse und manche Einsicht in die Beschaffenheit derselben, indem ich fast ausschließlich den Verkehr von Frauen mit ansah, dessen Hauptinhalt der Erwerb und die Besprechung von Lebensmitteln war, und die Wichtigkeit, welche ich diesem Verkehre beilegen sah, trug sich mir auch auf meine Bitte um das tägliche Brot über. Auf meinen Wanderungen durch das Haus drang ich allmälig 146 tiefer in den Haushalt der Mitbewohner ein und ließ mich oft aus ihren Schüsseln bewirthen, und undankbarer Weise schmeckten mir die Speisen überall besser, als bei meiner Mutter. Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Recepte ganz die gleichen sind, doch ihren Speisen durch die Zubereitung einen besondern Geschmack, welcher ihrem Charakter entspricht. Durch eine kleine Bevorzugung eines Gewürzes oder eines Krautes, durch größere Fettigkeit oder Trockenheit, Weichheit oder Härte, bekommen alle ihre Speisen einen bestimmten Charakter, welcher das genäschige oder nüchterne, weichliche oder spröde, hitzige oder kalte, das verschwenderische oder geizige Wesen der Köchin ausspricht, und man erkennt sicher die Hausfrau aus den wichtigsten Speisen des Bürgerstandes, nämlich dem Rindfleisch und dem Gemüse, dem Braten und dem Salate; ich meinerseits, als ein junger frühzeitiger Kenner, habe aus einer bloßen Fleischbrühe den Instinkt geschöpft, wie ich mich zu der Meisterin derselben zu verhalten habe. Die Speisen meiner Mutter hingegen ermangelten, so zu sagen, aller 147 und jeder Individualität. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager, der Caffe nicht stark und nicht schwach, sie verschwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt, sie kochte schlecht und recht, ohne Manierirtheit, wie die Künstler sagen, in den reinsten Verhältnissen; man konnte von ihren Speisen eine große Menge genießen, ohne sich den Magen zu verderben. Sie schien mit ihrer weisen und maßvollen Hand, am Herde stehend, täglich das Sprüchwort zu verkörpern: Der Mensch ißt, um zu leben, und lebt nicht, um zu essen! Nie und in keiner Weise war ein Ueberfluß zu bemerken und ebenso wenig ein Mangel. Diese nüchterne Mittelstraße langweilte mich, der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte, und ich begann, über ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu üben, sobald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt war. Da ich mit meiner Mutter immer allein bei Tische saß und sie lieber auf Gespräch und Unterhaltung dachte, als auf ein genaues Erziehungssystem, so wies sie mich nicht kurz und strafend zur Ruhe, sondern widerlegte mich mit 148 Beredtsamkeit und stellte mir hauptsächlich vor auf Menschenschicksale und Lebensläufe übergehend, wie ich vielleicht eines Tages froh sein würde, an ihrem Tische zu sitzen und zu essen; dann werde sie aber nicht mehr da sein. Obgleich ich dazumal nicht recht einsah, wie das zugehen sollte, so wurde ich doch jedesmal gerührt und von einem geheimen Grauen ergriffen, und so für einmal geschlagen. Machte sie alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerksam, welche ich gegen Gott beging, indem ich seine guten Gaben tadelte, so hütete ich mich mit einer heiligen Scheu, den allmächtigen Geber ferner zu beleidigen und versank in Nachdenken über seine trefflichen und wunderbaren Eigenschaften.

Nun geschah es aber, daß in dem Maße, als ich ihn deutlicher erfaßte und sein Wesen mir unentbehrlicher und ersprießlicher wurde, mein Umgang mit Gott sich verschämt zu verschleiern begann, und als meine Gebete einen vernünftigen Sinn erhielten, mich eine wachsende Scheu beschlich, sie laut herzusagen. Meine Mutter ist eines einfachen und nüchternen Gemüthes und 149 nichts weniger, als das, was man eine warm andächtige Frau nennt, sondern schlechthin gottesfürchtig. Ihr Gott war dazumal schon nicht der Befriediger und Erfüller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbedürfnisse, sondern klar und einfach der versorgende und erhaltende Vater, die Vorsehung. Ihr gewöhnliches Wort war: Wer Gott vergißt, den vergißt er auch; von der inbrünstigen Gottesliebe dagegen hörte ich sie nie reden, und ich selbst habe eine Stimmung dieser Art erst später empfunden, als das Wesen Gottes mir endlich meiner reifern Empfänglichkeit und Erkenntniß entsprechend sich ausgebildet hatte. Desto eifriger aber hielt sie darauf, und es ward ihr in unserer Verlassenheit für die lange und dunkle Zukunft eine Hauptsache, daß Gott der Ernährer und Beschützer mir immer vor Augen sei, und sie legte mit andauernder Sorge den Grund zu einem unwandelbaren Gottvertrauen in mich. In Folge dieses rührenden Bestrebens wollte sie eines Sonntags, als wir uns eben zu Tische gesetzt hatten, das Tischgebet einführen, welches bis dahin nicht üblich gewesen in unserm 150 Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein kleines altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und nicht weiter konnte! – Das Essen dampfte auf dem Tische, es war ganz still in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut hervor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen, und sie ließ es für diesmal bewenden, da sie mein Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte: «Warum willst Du nicht beten? Schämst Du Dich?» Das war nun zwar der Fall, ich vermochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es gethan, es doch nicht wahr gewesen wäre in dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem solchen noch nichts wußte, und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Ceremonie, 151 welche mir alsobald unbesieglich widerstand. Es war nicht Scham vor der Welt, wie es der Priester zu nennen pflegt; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war? Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten.

«Nun sollst Du nicht essen, bis Du gebetet hast!» sagte die Mutter, und ich stand auf und ging vom Tische weg in eine Ecke, wo ich in große Traurigkeit verfiel, mit einigem Trotze vermischt. Meine Mutter aber blieb sitzen und that so, als ob sie essen würde, obgleich sie es nicht konnte, und es trat eine Art düstrer Spannung zwischen uns ein, wie ich sie noch nie gefühlt hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie ging schweigend ab und zu und räumte den Tisch ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Stäubchen darin wäre, wieder herein und sagte: 152 «Da kannst Du essen, Du eigensinniges Kind!» worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Thränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ, sobald die heftige Bewegung nachließ. Auf dem Wege zur Schule ließ ich es nicht an einem vergnügten Dankseufzer fehlen für die glückliche Befreiung und Versöhnung.

Als ich in späteren Jahren im Heimathdorfe auf Besuch war, wurde ich an das Ereigniß lebhaft erinnert durch eine Geschichte, welche sich vor mehr als hundert Jahren mit einem Kinde dort zugetragen hatte und einen tiefen Eindruck auf mich machte. In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel eingelassen, welche nichts als ein halbverwittertes Wappen und die Jahrzahl 1713 trug. Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes und erzählten allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von demselben, wie es ein vornehmes Kind aus der Stadt, aber in das Pfarrhaus, in welchem dazumal ein gottesfürchtiger und strenger Mann wohnte, verbannt gewesen sei, um von seiner 153 Gottlosigkeit und unbegreiflich frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden. Dieses sei aber nicht gelungen; vorzüglich habe es nie dazu gebracht werden können, die drei höchsten Namen der Dreieinigkeit auszusprechen, und sei in dieser gottlosen Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstorben. Es sei ein außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem zarten Alter von sieben Jahren und dessenungeachtet die allerärgste Hexe gewesen. Besonders hätte es erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angethan, wenn es sie nur angeblickt, daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen böse Händel angefangen hätten. Sodann hätte es seinen Unfug mit dem Geflügel getrieben und insbesondere alle Tauben des Dorfes auf den Pfarrhof gelockt und selbst den frommen Herrn verhext, daß er dieselben öfters inbehalten, gebraten und zu seinem Schaden gespeist habe. Selbst die Fische im Wasser habe es gebannt, indem es Tagelang am Ufer saß und die alten klugen Forellen verblendete, daß sie bei ihm verweilten und in großer Eitelkeit vor ihm herumschwänzelten, 154 sich in der Sonne spiegelnd. Die alten Frauen pflegten diese Sage als Schreckmännchen für die Kinder zu gebrauchen, wenn sie nicht fromm waren, und fügten noch viele seltsame und phantastische Züge hinzu. Im Pfarrhause hingegen hing wirklich ein altes dunkles Oelgemälde, das Bildniß dieses merkwürdigen Kindes enthaltend. Es war ein außerordentlich zartgebautes Mädchen in einem blaßgrünen Damastkleide, dessen Saum in einem weiten Kreise starrte und die Füßchen nicht sehen ließ. Um den schlanken feinen Leib war eine goldene Kette geschlungen und hing vorn bis auf den Boden herab. Auf dem Haupte trug es einen kronenartigen Kopfputz aus flimmernden Gold- und Silberblättchen, von seidenen Schnüren und Perlen durchflochten. In seinen Händen hielt das Kind den Todtenschädel eines andern Kindes und eine weiße Rose. Noch nie habe ich aber ein so schönes, liebliches und geistreiches Kinderantlitz gesehen, wie das blasse Gesicht dieses Mädchens; es war eher schmal als rund, eine tiefe Trauer lag darin, die glänzenden dunkeln Augen sahen voll Schwermuth 155 und wie um Hülfe flehend auf den Beschauer, während um den geschlossenen Mund eine leise Spur von Schalkheit oder lächelnder Bitterkeit schwebte. Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkürliche Sehnsucht, das lebendige Kind zu sehen, ihm schmeicheln und es küssen zu dürfen. Es war auch der Erinnerung des alten Dorfes unbewußt lieb und werth, und in den Erzählungen und Sagen von ihm war eben so viel unwillkürliche Theilnahme als Abscheu zu bemerken.

Die eigentliche Geschichte war nun die, daß das kleine Mädchen, einer adeligen, stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig, eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbücher zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke hüllte, wenn man ihm vorbetete, und kläglich zu schreien anfing, wenn man es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab. 156 Es war ein Kind aus einer unglücklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des Anstoßes sein. So beschloß man, als es durch keine Mittel von der unerklärlichen Unart abgebracht werden konnte, das Kind jenem wegen seiner Frömmigkeit und Strenggläubigkeit berühmten Pfarrherrn versuchsweise in Pflege zu geben. Wenn schon die Familie die Sache als ein befremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes Unglück auffaßte, so betrachtete der dumpfe, harte Mann dieselbe vollends als eine unheilvolle infernalische Erscheinung, welcher mit aller Kraft entgegen zu treten sei. Demgemäß nahm er seine Maßregeln, und ein altes vergilbtes «diarium», von ihm herrührend und im Pfarrhause aufbewahrt, enthält einige Notizen, welche über sein Verfahren, so wie das weitere Schicksal des unglücklichen Geschöpfes hinreichenden Aufschluß geben. Folgende Stellen habe ich mir ihres seltsamen Inhaltes wegen abgeschrieben und will sie diesen Blättern einverleiben und so die Erinnerung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen aufbewahren da sie sonst verloren gehen würde.

157 «Heute habe ich von der hochgebornen und gottesfürchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten, alsogleich quittiret und Bericht erstattet. Ferner der kleinen Meret (Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie nackent auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen züchtigte, nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge. Hat die Kleine zwaren jämmerlich geschrieen und de- und wehmüthig um Pardon gebeten, aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmähet, so ich ihr zum Lernen vorgehalten. Habe sie derowegen kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still geworden ist, bis sie urplötzlich zu singen und jubiliren angefangen, nicht anders, wie die drey seligen Männer im Feuerofen, und habe ich zugehöret und erkennt, daß sie die nämliche versificirten Psalmen gesungen, so sie sonsten zu lernen 158 refusirete , aber in so unnützlicher und weltlicher Weise, wie die thörichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben; so daß ich solches Gebahren für ein neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nemen gezwungen ward.»

Ferner:

«Ist ein höchst lamentables Schreiben arriviret von Madame , welche in Wahrheit eine fürtreffliche und rechtgläubige Person ist. Sie hat besagten Brief mit ihren Thränen benetzet und mir auch die große Bekümmerniß des Herren Gemahls vermeldet, daß es mit der kleinen Meret nicht besser gehen will. Und ist dieses gewißlich eine große Calamität , so diesem hochansehnlichen und berühmten Geschlecht passiret und möchte man der Meinung sein, mit Respect zu sagen, daß sich die Sünden des Herren Großpapa väterlicher Seits, welches ein gottloser Wütherich und schlimmer Cavalier ware, an diesem armseligen Geschöpflein vermerken lassen und rechen. Habe mein Tractament mit der Kleinen changiret und will nunmehr die Hungerkur probiren . Auch hab ich ein Röcklein von grobem 159 Sacktuch durch meine Ehefrau selbsten anfertigen lassen und verbothen, der Meret ein ander Habit anzulegen, sintemal diese Bußkleidung ihr am besten conveniret. Verstocktheit auf dem gleichen Puncto

«Sahe mich heute gezwungen, die kleine Demoiselle von allem Verkehr und Unterhalt mit denen Baurenkindern abzusperren, weill sie mit selbigen in das Holz gelauffen, allda gebadet im Holzweiher, das Bußhemdlein, so ich ihr ordoniret , an ein Baumast gehenkt hat und nackent davor gesprungen und getanzt und auch ihre Gespanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizet. Beträchtliche Correction

«Heut ein großer Spectakel und Verdruß. Kame ein großer, starker Schlingel, der junge Müllerhans, und richtete mir Händel an von wegen der Meret, welche er alltäglich schreien und heulen zu hören vorgegeben, und disputirte ich mit demselben, als auch der junge Schulmeister, der Tropf, herankam und drohete, mich zu verklagen, und fiel über die schlimme Creatur her, herzete und küssete sie etc. etc. Ließ den Schulmeister 160 alsogleich arretiren und zum Landvogt führen. Dem Müllerhans muß ich auch noch beikommen, obgleich selbiger reich und gewaltthätig ist. Möchte bald selber glauben, was die Bauersleute sagen, daß das Kind eine Hexe sei, wenn diese Opinion nicht der Vernunft widerspräche. Jeden Falls steckt der Teufel in ihr und habe ich ein schlimmes Stück Arbeit übernommen.»

«Diese ganze Woche habe ich einen Maler im Hause tractiret , so mir Madame übersendet, damit er das Portrait der kleinen Fräulein anfertige. Die bedrängte Familie will das Geschöpf nicht mehr zu sich nemen und allein zum traurigen Angedenken und zur bußfertigen Anschauung, auch von wegen der großen Schönheit des Kindes, ein Conterfey behalten. Insbesundere will der Herr nicht von dieser Idee lassen. Meine Ehefrau verabreicht dem Maler alltäglich zwei Schoppen Wein, woran er nicht genug zu haben scheinet, da er allabendlich in den rothen Löwen gehet und dorten mit dem Chirurgo spielet. Ist ein hochfahrendes Subject und setze ihm daher öfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor, welches 161 in dem Quartal Conto der Madame zu vermerken ist. Wollte anfenglich mit der Kleinen sein Wesen und Freundlichkeit treiben und hat sie sich sogleich an ihn attachiret , daher ich ihme bedeutet habe, mir in meinem Process nicht zu interveniren . Wie man der Kleinen ihr verwahrte Habit und Sonntagsstaat herfürgeholt und angelegt benebst der Schapell und der Gürtlen, so hat sie großen Plaisir gezeiget und zu tanzen begonnen. Diese ihre Freude ist aber bald verbittert worden, als ich nach dem Befelch der Frau Mama 1 Todtenschedel hohlen ließe und in die Hand zu tragen gab, welchen sie partout nicht nemen wollen und hernachmalen weinend und zitternd in der Hand gehalten, wie wenn es ein feurig Eisen wär. Zwaren hat der Maler behauptet, er könne den Schedel außwendig malen, weill solcher zu denen allerersten Elementen seiner Kunst gehöre, habe es aber nicht zugegeben, sintemal Madame geschrieben hat: «Was das Kind leidet, das leiden auch wir, und ist uns in seinem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben, so wir für ihn's thun können; derohalb brechen 162 Ew. Wohlehrwürden in Nichts ab, Euere Fürsorge und Education betreffend. Wenn das Töchterlein dereinst, wie ich zum allmächtigen und barmherzigen Gott verhoffe, hier oder dort erleuchtet und gerettet sein wird, so wird es ohnzweifelhaft sich höchlich erfreuen, ein gutes Theil seiner Buße schon mit seiner Verstocktheit abgethan zu haben, welche über ihn's zu verhängen, der unerforschliche Meister beliebt hat!» Diese tapferen Worte vor Augen, habe ich auch diese Gelegenheit für dienlich erachtet, der Kleinen mit dem Schedel eine ernsthafte Buße anzuthun. Man hat übrigens einen kleinen leichten Kindsschedel gebrauchet, dieweill der Mahler sich beschwehret, daß der große Mannsschedel zu unförmlich seye für die kleinen Händlein, in Betracht seiner Kunst-Regula und hat sie denselben nachher lieber gehalten; auch hat ihr der Mahler ein weißes Röslein dazugesteckt, was ich wohl leiden mochte, weil es als ein gutes Symbolum gelten kann.»

«Habe heut plötzlich ein Contreorder erhalten in Betreff des Tableau und soll nun selbiges 163 nicht nach der Stadt spediren , sondern hier behalten. Es ist Schad um die brave Arbeit, so der Mahler gemacht hat, weil er ganz charmiret war von der Anmuth des Kinds. Hätt' ich es früher gewußt, so hätt' der Mann für diesen Kostenaufwand mein eigen Conterfey auf das Tuch mahlen können, wenn die schönen Victualien nebst Lohn einmal drauff gehen sollen.

Es ist mir fernerer Befelch zu Handen gekommen, mit aller weltlichen Instruction abzubrechen, besonders mit dem Französischen, da solches nicht mehr nöthig erachtet werde, so wie auch meine Gemahlin mit dem Unterricht auf dem Spinett aufhören solle, was der Kleinen leid zu thun scheinet. Vielmehr soll ich sie fortan als ein einfaches Pflegekind tractiren und allein fürsorgen, daß sie kein öffentlich Aergerniß gebe.»

«Vorgestern ist uns die kleine Meret desertiret und haben wir große Angst empfunden, bis daß sie heute Mittag um 12 Uhr zu obrist auf dem Buchberge ausgespüret wurde, wo sie entkleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne saß und sich baß wärmete. Sie hatte ihr Haar ganz 164 aufgeflochten und ein Kränzlein von Buchenlaub darauff gesetzet, so wie ein dito Scherpen um den Leib gehenkt, auch ein Quantum schöner Erdbeeren vor sich liegen gehabt, von denen sie ganz voll und rundlich gegessen war. Als sie unser ansichtig ward, wollte sie wiederum Reißaus nemen, schämete sich aber ihrer Blöße und wollte ihr Habitlein überziehen, dahero wir sie glücklich attrapirten . Sie ist nun krank und scheinet confuse zu sein, da sie keine vernünftige Antwort gibt.»

«Mit dem Meretlein gehet es wiederum besser, jedoch ist sie mehr und mehr verändert und wird des Gänzlichen dumm und stumm. Die Consultation des herbeygeruffenen Medicus verlautet dahin, daß sie irr- oder blödsinnig werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey; er offerirte sich auch zu derselbigen und hat verheißen, das Kind wieder auf die Beine zu bringen, wenn es in seinem Hause placiret würde. Ich merke aber schon, daß es dem Monsieur Chirurgo nur um die gute Pension benebst denen Präsenten von Madame zu 165 thun seye, und berichtete derohalb, was ich für gut befunden, nemlich daß der Herr seinen Plan nunmehr an ein Ende zu führen scheine mit seiner Creatur und daß Menschenhände hieran Nichts changiren möchten und dürften, wie es in Wirklichkeit auch ist.»

Nach Ueberschlagung von fünf bis sechs Monaten heißt es weiter:

«Es scheinet dieses Kind in seinem blöden Zustande einer trefflichen Gesundheit zu genießen und hat ganz muntere rothe Backen bekommen. Hält sich nun den ganzen Tag in den Bohnen auf, wo man sie nicht siehet und weiter nicht um sie bekümbert, zumalen sie weiter kein Aergernuß gibet.»

«Das Meretlein hat sich in Mitten des Bohnenplätz ein kleinen Salon arrangiret , so man entdecket, und hat dorten artliche Visiten acceptiret von denen Baurenkindern, welche ihme Obst und andere Victualia zugeschleppet, so sie gar zierlich vergraben und in Vorrath gehalten hat. Daselbst hat man auch jenen kleinen Kindsschedel begraben gefunden, welcher längst abhanden gekommen 166 und dahero dem Custos nicht restituiret werden konnte. Dergleichen auch die Spatzen und andere Vögel herbeygezogen und zahm gemacht, daß die den Bohnen viel Abbruch gethan und ich jedoch nicht mehr in die Bohnenstauden schießen können, von wegen der kleinen Insaß. Item hat sie mit einer giftigen Schlangen ihr Spiel gehabt, welche durch den Hag gebrochen und sich bei ihr eingenistet; in summa , man hat sie wieder ins Haus nemen und inne behalten müssen.»

«Die rothen Backen sind wiederum von ihr gewichen und behauptet der Chirurgus , sie werde es nicht mehr lang prästiren . Habe auch schon an die Eltern geschrieben.»

«Heut vor Tag schon muß das arme Meretlein aus seinem Bettlein entkommen, in die Bohnen hinauß geschlichen und dort verschieden sein; denn wir haben sie alldort für todt gefunden in einem Grüblein, so sie in den Erdboden hinein gewühlet, als ob sie hineinschlüpfen wollte. Sie ist ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr Hemdlein feucht und schwer vom Thau, als welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren fast 167 röthlichen Wänglein gelegen, nicht anders, denn auf einem Apfelblust. Und haben wir einen heftigen Schrecken bekommen und bin ich in große Verlegenheit und Confusion gerathen den heutigen Tag, dieweill die Herrschaft aus der Stadt angelanget, just wie meine Ehefrau verreiset ist nach K., um allda einiges Confect und Provision einzukaufen, damit die Herrschaften höflichst zu regaliren. Wußte derohalb nicht, wo mir der Kopf gestanden und war ein großes Rennen und Laufen, und sollten die Mägde das Leichlein waschen und ankleiden, und zugleich für ein guten Imbiß sorgen. Endlich habe ich den grünen Schinken braten lassen, so meine Frau vor acht Tagen in Essig geleget, und hat der Jakob drei Stück von denen zahmen Forellen gefangen, welche noch hin und wieder an den Garten kommen, obgleich man die selige (?!) Meret nicht mehren zum Wasser hinauß gelassen. Habe zum Glück mit diesen Speißen noch ziemliche Ehre eingeleget und haben dieselbigen der Madame wohl geschmecket. Ist eine große Traurigkeit gewesen und haben wir mehr denn zwei Stunden in Gebeth 168 und Todesbetrachtungen verbracht, desgleichen in melankolischen Reden von der unglückseligen Krankhaftigkeit des verstorbenen Mägdleins, da wir nun annemen müssen zu unserem vermehrten Trost, daß selbe in einer fatalen Disposition des Bluts und Gehirns ihren Ursprung gehabt. Daneben haben wir auch von den sonstigen großen Gaben des Kinds geredet und von seinen oftmaligen klugen und anmuthigen Einfällen und Impromptus und Alles nicht zusammenreimen können in unserer irdischen Kurzsichtigkeit. Morgens am Vormittag wird man dem Kind ein Christlich Begräbniß geben und ist die Präsenz der fürnehmen Eltern dazu kommlich, ansonsten die Pauren sich widersatzen mögten.»

«Dieses ist der allerwunderbarste und schreckhafteste Tag gewesen, nicht nur allein, seit wir mit dieser unseligen Creatur zu schaffen, sondern der mir überhaupt in meiner ruhsamen Existenz aufgestoßen ist. Denn als die Stunde gekommen und es zehn Uhr geschlagen, haben wir uns hinter dem Leichlein her in Bewegung gesetzet und nach dem Gottesacker begeben, indessen der Sigrist 169 die kleine Glocken geläutet, was er aber nicht mit sehrem Fleiße gethan, dieweil es fast erbärmlich geklungen und das Geläute zur Halbpart vom starken Winde verschlungen worden, der unwirsch gewehet hat. Und war auch der Himmel ganz dunkel und schwül, sowie der Kirchhof von Menschen entblößet außer unserer kleinen Compagnie , hergegen außerhalb denen Mauren die ganze Baursame versammelt und hat neugierig die Köpfe herüber gerecket. Wie man aber so eben das Todtenbäumlein (Todtenbaum = Sarg) in das Grab hinunter senken wollen, hat man ein seltsamen Schrei gehört aus dem Todtenbäumlein hervor, so daß Wir auf das Heftigste erschrocken sind und der Todtengräber auf und davon gesprungen ist. Der Chirurgus aber, welcher sich auch herzugemachet, hat schleunigst den Deckel losgemacht und abgehebt, und hat sich das Tödlein als lebendig aufgerichtet und ist ganz behende aus dem Gräblein gekrochen und hat uns angeblicket. Und wie im selbigen Moment die Sonne seltsam und stechend durch die Wolken gedrungen, so hat es in seinem gelblichen Brokat 170 und mit dem glitzrigen Krönlein ausgesehen, wie ein Feyen- oder Koboltskind. Die Frau Mama ist alsobald in eine starke Ohnmacht verfallen und der Herr v. M. weinend zur Erde gestürzet. Ich selbst habe mich vor Verwunderung und Schrecken nicht gerühret und in diesem Moment steif an ein Hexenthum geglaubt. Das Mägdlein aber hat sich bald ermannt und ist über den Kirchhof davon und zum Dorf hinaus gesprungen, wie eine Katz, daß alle Leute voll Entsetzen heimgelaufen sind und ihre Thüren verriegelt haben. Zu selbiger Zeit ist just die Schulzeit aus gewesen und ist der Kinderhaufen auf die Gasse gekommen, und als das kleine Zeugs die Sache gesehen, hat man die Kinder nicht halten können, sondern ist eine große Schaar dem Leichlein nachgelaufen und hat es verfolget und hintendrein ist noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen. Es hat aber immer ein zwanzig Schritt Vorsprung gehabt und nicht eher Halt gemacht, als bis es auf dem Buchberg angekommen und leblos umgefallen ist, worauf die Kinder um dasselbe herumgekrabbelt und es vergeblich gestreichelt und 171 caressiret haben. Dieses Alles haben wir nach der Hand erfahren, weil wir mit großer Noth in das Pfarrhaus uns salviret und in tiefer desolation verharret sind, bis man das Leichlein wiederum gebracht hat. Man hat es auf ein Matraz gelegt und ist die Herrschaft darauf verreiset mit Hinterlassung einer kleinen Steintafell, worein Nichts als das Familienwappen und Jahrzahl gehauen ist. Nunmehr liegt das Kind wieder für todt und getrauen wir uns nicht, zu Bett zu gehen aus Furcht. Der Medicus sitzet aber bey ihm und meint nun, es sey endlich zur Ruh gekommen.»

«Heute hat der Medicus nach unterschiedlichen Experimenten erklärt, daß das Kind wirklich todt seye und ist es nun in der Stille beigesetzt worden und nichts Weiteres arrivirt u. s. f.»

 


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