GHA 1.06

172 Sechstes Kapitel.

Ich kann nicht sagen, daß, nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt eines Ernährers und Aushelfers für mich gewonnen hatte, er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Empfindungen oder höheren Gemüthsfreuden erfüllt habe, zumal er aus dem glänzenden Gewande des Abendrothes sich verloren, um in viel späterer Zeit es wieder umzunehmen. Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach, so fuhr sie fort, vorzüglich im alten Testamente zu verweilen, bei der Geschichte der Kinder Israel in der Wüste, oder bei den Kornhändeln Josephs und seiner Brüder, bei der Wittwe Oelkrug, der Aehrenleserin Ruth u. dergl. oder ausnahmsweise bei der Speisung der fünftausend Männer im neuen Testamente. Alle diese Ereignisse gefielen 173 ihr ausnehmend wohl und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor, während diese mehr einem unparteiischen und pflichtgemäß frommen Erzählen Raum gab, wenn das bewegte und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde. So sehr ich daher den lieben Gott respectirte und in allen Fällen bedachte, so blieben mir doch die Phantasie und das Gemüth leer, so lange ich keine neue Nahrung schöpfte außer den bisherigen Erfahrungen, und wenn ich keine Veranlassung hatte, irgend einen angelegentlichen Gebetvortrag abzufassen, so war mir Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person, die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbarkeiten reizte, zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor. So gereichte es mir eine Zeit lang zu nicht geringer Qual, daß ich eine krankhafte Versuchung empfand, Gott derbe Spottnamen, selbst Schimpfworte anzuhängen, wie ich sie etwa auf der Straße gehört hatte. Mit einer Art behaglicher und muthwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung, bis ich nach langem 174 Kampfe nicht mehr widerstehen konnte und im vollen Bewußtsein der Blasphemie eines jener Worte hastig ausstieß, mit der unmittelbaren Versicherung, daß es nicht gelten solle und mit der Bitte um Verzeihung; dann konnte ich nicht umhin, es noch einmal zu wiederholen, wie auch die reuevolle Genugthuung, und so fort, bis die seltsame Aufregung vorüber war. Vorzüglich vor dem Einschlafen pflegte mich diese Erscheinung zu quälen, obgleich sie nachher keine Unruhe oder Uneinigkeit in mir zurückließ. Ich habe später gedacht, daß es wohl ein unbewußtes Experiment mit der Allgegenwart Gottes gewesen sei, welche ebenfalls anfing, mich zu beschäftigen, und daß schon damals das dunkle Gefühl in mir lebendig gewesen sei: Vor Gott könne keine Minute unseres inneren Lebens verborgen und wirklich strafbar sein, so fern er das lebendige Wesen für uns sei, für das wir ihn halten.

Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlossen, welche meiner suchenden Phantasie zu Hülfe kam und mich von diesen unfruchtbaren Quälereien erlöste, indem sie, bei der Einfachheit und 175 Nüchternheit meiner Mutter, für mich das wurde, was sonst sagenreiche Großmütter und Ammen für die stoffbedürftigen Kinder sind. In dem Hause gegenüber befand sich eine offene dunkle Halle, welche ganz mit altem und neuem Trödelkram angefüllt war. Die Wände waren mit alten Seidengewändern, gewirkten Stoffen und Teppichen aller Art behangen. Rostige Waffen und Geräthschaften, schwarze zerrissene Oelgemälde bekleideten die Eingangspfosten und verbreiteten sich zu beiden Seiten an der Außenseite des Hauses; auf einer Menge altmodiger Tische und Geräthe stand wunderliches Glasgeschirr und Porcellan aufgethürmt mit allerhand hölzernen und irdenen Figuren vermischt. In den tieferen Räumen waren Berge von Betten und Hausgeräthen übereinandergeschichtet und auf den Hochebenen und Absätzen derselben, manchmal auf einem gefährlichen einsamen Grate, stand überall noch eine schnörkelhafte Uhr, ein Crucifix oder ein wächserner Engel u. dergl. mehr. Im tiefsten Hintergrunde aber saß jederzeit eine bejahrte, dicke Frau in alterthümlicher Tracht, in einem 176 trüben Helldunkel, während ein noch älteres, spitziges, eisgraues Männchen mit Hülfe einiger Untergebenen in der Halle herumhandthierte und eine zahlreiche Menge Leute abfertigte, welche fortwährend ab und zu ging. Die Seele des Geschäftes war aber die Frau und von ihr aus gingen alle Befehle und Anordnungen, ungeachtet sie sich nie von ihrem Platze bewegte und man sie noch weniger je auf einer Straße gesehen hatte. Sie trug immer bloße Arme und hatte schneeweiße Hemdsärmel, auf eine künstliche Weise gefältelt, wie man es sonst nirgends mehr sah und es vielleicht vor hundert Jahren schon so getragen wurde. Es war die originellste Frau von der Welt, welche schon vor dreißig Jahren mit ihrem Manne blutarm und unwissend in die Stadt gezogen, um da ihr Brot zu suchen. Nachdem sie mit Tagelohn und saurer Arbeit eine Reihe von mühseligen Jahren durchgekämpft hatte, gelang es ihr, einen kleinen Trödelkram zu errichten und erwarb sich mit der Zeit durch Glück und Gewandtheit in ihren Unternehmungen einen behaglichen Wohlstand, welchen sie auf die 177 eigenthümlichste Weise beherrschte. Sie konnte nur gebrochen Gedrucktes lesen, hingegen weder schreiben noch in arabischen Zahlen rechnen, welche letzteren es ihr nie zu kennen gelang; sondern ihre ganze Rechnenkunst bestand in einer römischen Eins, einer Fünf, einer Zehn und einer Hundert. Wie sie diese vier Ziffern in ihrer frühen Jugend, in einer entlegenen und vergessenen Landesgegend überkommen hatte, überliefert durch einen Jahrtausend alten Gebrauch, so handhabte sie dieselben mit einer merkwürdigen Gewandtheit. Sie führte kein Buch und besaß nichts Geschriebenes, war aber jeden Augenblick im Stande, ihren ganzen Verkehr, der sich oft auf mehrere Tausende in lauter kleinen Posten belief, zu übersehen, indem sie mit großer Schnelligkeit das Tischblatt mittelst einer Kreide, deren sie immer einige Endchen in der Tasche führte, mit mächtigen Säulen jener vier Ziffern bedeckte. Hatte sie aus ihrem Gedächtnisse alle Summen solchergestalt aufgesetzt, so erreichte sie ihren Zweck einfach dadurch, daß sie mit dem nassen Finger eine Reihe um die andere ebenso flink wieder auslöschte, 178 als sie dieselben aufgesetzt hatte, und dabei zählend die Resultate zur Seite aufzeichnete. So entstanden neue kleinere Zahlengruppen, deren Bedeutung und Benennung Niemand kannte, als sie, da es immer nur die gleichen vier nackten Ziffern waren und für Andere aussahen, wie eine altheidnische Zauberschrift. Dazu kam noch, daß es ihr nie gelingen wollte, mit Bleistift oder Feder oder auch nur mit einem Griffel auf einer Schiefertafel das gleiche Verfahren vorzunehmen, indem sie nicht nur räumlich einer ganzen Tischplatte bedurfte, sondern auch nur mittelst der weichen Kreide ihre markigen Zeichen zu bilden im Stande war. Sie beklagte oft, daß sie sich gar nichts Fixirtes aufbewahren könne, war aber gerade dadurch zu ihrem außerordentlichen Gedächtnisse gelangt, aus welchem jene wimmelnden Zahlenmassen plötzlich gestalt- und lebenvoll erschienen, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Das Verhältniß zwischen Einnahme und Ausgabe machte ihr nicht viel zu schaffen; sie bestritt alle häuslichen Bedürfnisse und sonstige Ausgaben vorweg aus dem gleichen Seckel, welcher auch 179 den Geschäftsverkehr begründete, und wenn eine überflüssige Summe Geldes bei einander war, so wechselte sie dieses sogleich in Gold um und verwahrte dasselbe in ihrer Schatztruhe, wo es für immer liegen blieb, wenn nicht ein Theil davon für eine besondere Unternehmung oder für ein ausnahmsweises Darlehen herausgenommen wurde, da sie sonst auf Zinsen kein Geld auslieh. Sie hatte besonders mit Landleuten von allen Seiten her Verkehr, welche sich ihre geräthschaftlichen Bedürfnisse bei ihr holten, und gab ihre Waaren Jedermann auf Borg, gewann oft viel dabei und verlor auch oft. So kam es, daß eine Menge von Leuten von ihr abhängig waren oder in einem verbindlichen oder feindlichen Verhältnisse zu ihr standen, und daß sie beständig von Nachsichtsuchenden oder Bezahlenden umlagert war, welche ihr, zur Beherzigung oder als Dank, die mannigfaltigsten Gaben darbrachten, nicht anders, als einem alten Landpfleger oder einer reichen Aebtissin. Feld- und Baumfrüchte jeder Art, Milch, Honig, Trauben, Schinken und Würste wurden ihr in gewichtigen Körben zugetragen, 180 und diese reichlichen Vorräthe bildeten die Grundlage zu einem stattlichen Wohlleben, welches alsobald begann, wenn das geräuschvolle Gewölbe geschlossen war und in der noch seltsameren Wohnstube das häusliche Abendleben zur Geltung kam. Dort hatte Frau Margreth diejenigen Gegenstände zusammengehäuft und als Zierrath angebracht, welche ihr in ihrem Handel und Wandel am besten gefallen hatten, und sie nahm keinen Anstand, etwas für sich aufzubewahren, wenn es ihr Interesse erweckte. An den Wänden hingen alte Heiligenbilder auf Goldgrund und in den Fenstern gemalte Scheiben, und allen diesen Dingen schrieb sie irgend eine merkwürdige Geschichte oder sogar geheime Kräfte zu, was ihr dieselben heilig und unveräußerlich machte, so sehr auch Kenner sich manchmal bemühten, die wirklich werthvollen Denkmäler ihrer Unwissenheit zu entreißen. In einer Truhe von Ebenholz bewahrte sie goldene Schaumünzen, Ketten, Becher, silberne Filigranarbeiten und andere köstliche Spielereien, für welche sie eine große Vorliebe trug und dieselben nur wieder 181 veräußerte, wenn ein besonderer Gewinn sich damit verband, was öfters der Fall war. Endlich war auf einem Wandgestelle eine beträchtliche Zahl unförmlicher alter Bücher aufgespeichert, welche sie mit großem Eifer zusammen zu suchen pflegte. Es waren verschiedene Bibeln, alte Kosmographien mit zahllosen Holzschnitten, fabelgespickte Reisebeschreibungen, vorzüglich nordische, indische und griechische Mythologien aus dem vorigen Jahrhundert mit großen zusammengefalteten Kupferstichen, welche vielfach zerknittert und zerrissen waren; sie nannte diese naiv geschriebenen Werke schlechtweg Heiden- oder auch Götzenbücher. Ferner hielt sie eine reiche Sammlung solcher Volksschriften, welche Nachricht gaben von einem fünften Evangelisten, von den Jugendjahren Jesu, noch unbekannten Abenteuern desselben in der Wüste, von einer Auffindung seines wohl erhaltenen Leichnams nebst Documenten, von der Erscheinung und den Bekenntnissen eines in der Hölle leidenden Freigeistes; einige Chroniken, Kräuterbücher und Prophezeiungen vervollständigten diese Sammlung. Für Frau Margreth 182 hatte ohne Unterschied Alles, was gedruckt war, sowohl wie die mündlichen Ueberlieferungen des Volkes, eine gewisse Wahrheit, und die ganze Welt in allen ihren Spiegelungen, das fernste sowohl wie ihr eigenes Leben, waren ihr gleich wunderbar und bedeutungsvoll; sie trug noch den lebendigen ungebrochenen Aberglauben vergangener kräftiger Zeiten an sich ohne Verfeinerung und Schliff. Mit neugieriger Liebe erfaßte sie Alles und nahm es als baare Münze, was ihrer wogenden Phantasie dargeboten wurde, und sie bekleidete es alsbald mit den sinnlich greifbaren Formen der Volksthümlichkeit, welche massiven metallenen Gefäßen gleichen, die trotz ihres hohen Alters durch den stäten Gebrauch immer glänzend geblieben sind. Alle die Götter und Götzen der alten und jetzigen heidnischen Völker beschäftigten sie durch ihre Geschichte sowohl, als durch ihr äußeres Aussehen in den Abbildungen, hauptsächlich auch daher, daß sie dieselben für wirkliche lebendige Wesen hielt, welche durch den wahren Gott bekämpft und ausgerottet würden; das Spuken und Umgehen solcher halb überwundenen 183 schlimmen Käuze war ihr eben so schauerlich anziehend, wie das grauenvolle Treiben eines Atheisten, unter welchem sie nichts Anderes verstand und verstehen konnte, als einen Menschen, welcher seiner Ueberzeugung von dem Dasein Gottes zum Trotz dasselbe hartnäckig und muthwillig läugne. Die großen Affen und Waldteufel der südlichen Zonen, von denen sie in ihren alten Reisebüchern las, die fabelhaften Meermänner und Meerweibchen waren nichts Anderes, als ganze gottlose, nun verthierte Völker oder solche einzelne Gottesläugner, welche in diesem jammervollen Zustande, halb reuevoll, halb trotzig, Zeugniß gaben von dem Zorne Gottes und sich zugleich allerlei muthwillige Neckereien mit den Menschen erlaubten.

Wenn nun am Abend das Feuer prasselte, die Töpfe dampften, der Tisch mit den soliden volksthümlichen Leckereien bedeckt wurde und Frau Margreth behaglich und ansehnlich auf ihrem zierlich eingelegten Stuhle saß, so begann sich nach und nach eine ganz andere Anhängerschaft und Gesellschaft einzufinden, als die den 184 Tag über in dem Gewölbe zu sehen war. Es waren dies arme Frauen und Männer, welche, theils durch den Duft des wohlbesetzten Tisches, theils durch die belebte Unterhaltung von höheren Dingen angezogen, hier mannigfache Erholung von den Mühen des Tages suchten und fanden. Mit Ausnahme einiger weniger heuchlerischer Schmarotzer hatten sonst Alle ein aufrichtiges Bedürfniß, sich durch Gespräche und Belehrungen über das, was ihnen nicht alltäglich war, zu erwärmen und besonders in Betreff des Religiösen und Wunderbaren eine kräftigere Nahrung zu suchen, als die öffentlichen Culturzustände ihnen darboten. Nichtbefriedigung des Gemüthes, ungelöschter Durst nach Wahrheit und Erkenntniß, erlebte Schicksale, hervorgerufen durch die versuchte Befriedigung solcher unruhigen Triebe in der sinnlichen Welt, trieben diese Leute hier zusammen und überdies noch in mancherlei seltsame Secten hinein, von deren innerem Leben und Treiben sich Frau Margreth fleißig Bericht erstatten ließ; denn sie selbst war zu weltlich und zu derb, als daß sie so weit gegangen wäre, 185 dergleichen mitzumachen. Vielmehr tadelte sie mit scharfen Worten die Kopfhänger und wurde sarkastisch und bitter, wenn sie allzu mystischen Unrath merkte. Sie bedurfte das Wunderbare und Geheimnißvolle, aber in der Sinnenwelt, in Leben und Schicksal, in der äußern wechselvollen Erscheinung; von innern Seelenwundern, bevorzugten Stimmungen, Auserwählten u. dgl. wollte sie nichts hören und kanzelte ihre Gäste tüchtig herunter, wenn sie mit solchen Dingen auftreten wollten. Außer daß Gott als der kunst- und sinnreiche Schöpfer all der wunderbaren Dinge und Vorkommnisse für sie existirte, war er ihr vorzüglich in Einer Richtung noch merk- und preiswürdig: nämlich als der treue Beiständer der klugen und rührigen Leute, welche, mit Nichts und weniger als Nichts anfangend, ihr Glück in der Welt selbst machen und es zu etwas Ordentlichem bringen. Deshalb hatte sie ihre größte Freude an jungen Leuten, welche sich aus einer dunklen dürftigen Abkunft heraus durch Talent, Fleiß, Sparsamkeit, Klugheit u. s. f. in eine gute Stellung gearbeitet hatten und wohl 186 gar hohe Protection genossen. Das Heranwachsen des Wohlstandes solcher Schützlinge war ihr wie eine eigene Sache angelegen, und wenn dieselben endlich dahin gediehen waren, einen behaglichen Aufwand mit gutem Gewissen geltend zu machen, so fühlte sie selbst die größte Genugthuung, ihrerseits reichlich beizusteuern und sich des Glanzes mitzufreuen. Sie war von Grund aus wohlthätig und gab immer mit offenen Händen, den Armen und arm Bleibenden im gewöhnlichen abgetheilten Maße, denjenigen aber, bei welchen Hab und Gut anschlug, mit wahrer Verschwendung für ihre Verhältnisse. Es lag meistens ganz in der Natur solcher Emporkömmlinge, neben ihren anderweitigen größern Beziehungen, auch die Gunst dieser seltsamen Frau sorglich zu pflegen, bis sie durch einen jüngern Nachwuchs endlich verdrängt wurden, und so fand man nicht selten diesen oder jenen fein gekleideten und vornehm aussehenden Mann unter den armen Gläubigen, der durch sein gemessenes Betragen dieselben verschüchterte und unbehaglich machte. Auch nahmen sie wohl, wenn er abwesend 187 war, Veranlassung, der Frau Weltsinn und Lust an irdischer Herrlichkeit vorzuwerfen, was dann jedesmal lebhafte Erörterungen und Streitreden hervorrief.

Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerb und emsiger Thätigkeit mochte es auch kommen, daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen waren. Die Unermüdlichkeit und stätige Aufmerksamkeit dieser Menschen, welche öfter bei ihr verkehrten und ihre schweren Lasten abstellten, volle Geldbeutel aus unscheinbarer Hülle hervorzogen und ihr zum Aufbewahren anvertrauten, ohne irgend ein Wort oder eine Schrift zu wechseln, ihre kindliche Gutmüthigkeit und neugierige Bescheidenheit neben der unberückbaren Pfiffigkeit im Handeln, ihre strengen Religionsgebräuche und biblische Abstammung, sogar ihre feindliche Stellung zum Christenthume und die groben Vergehungen ihrer Vorältern machten diese vielgeplagten und verachteten Leute der guten Frau höchst interessant und gern gesehen, wenn sie sich bei den abendlichen Zusammenkünften vorfanden, am Heerde 188 der Frau Margreth koschern Kaffe kochten oder sich einen billig erstandenen Fisch bucken. Wenn die fromm christlichen Frauen ihnen schonend vorhielten, wie es noch nicht gar zu lange her sei, seit die Juden doch schlimme Käuze gewesen, Christenkinder geraubt und getödtet und Brunnen vergiftet hätten, oder wenn Margreth behauptete, der ewige Jude Ahasverus hätte vor zwölf Jahren einmal im «rothen Bären» übernachtet, und sie hätte selbst zwei Stunden vor dem Hause gepaßt, um ihn abreisen zu sehen, jedoch vergeblich, da er schon vor Tagesanbruch weiter gewandert sei, dann lächelten die Juden gar gutmüthig und fein, und ließen sich nicht aus ihrer guten Laune bringen. Da sie jedoch ebenfalls Gott fürchteten und eine scharf ausgeprägte Religion hatten, so gehörten sie noch eher in diesen Kreis, als man zwei weitere Personen darin vermuthet hätte, welche allerdings irgend anderswo zu suchen waren, als gerade hier; und doch schienen sie eine Art unentbehrlichen Salzes für die wunderliche Mischung zu sein. Es waren dies zwei erklärte Atheisten. Der Eine, ein 189 schlichter, einsilbiger Schreinersmann, welcher schon manches Hundert Särge gefertigt und zugenagelt hatte, war ein braver Mann und erklärte dann und wann einmal mit dürren Worten, er glaube eben so wenig an ein ewiges Leben, als man von Gott etwas wissen könne. Im Uebrigen hörte man nie eine freche Rede oder ein Spottwort von ihm; er rauchte gemüthlich sein Pfeifchen und ließ es über sich ergehen, wenn die Weiber mit fließenden Bekehrungsreden über ihn herfuhren. Der Andere war ein bejahrter Schneidersmann mit grauen Haaren und muthwilligem, unnützem Herzen, der schon mehr als einen schlimmen Streich verübt haben mochte. Während Jener sich still und leidend verhielt und nur selten mit seinem dürren Glaubensbekenntnisse hervortrat, verfuhr dieser angriffsweise und machte sich ein Vergnügen daraus, die gläubigen Seelen durch derbe Zweifel und Verläugnungen, rohe Späße und Profanationen zu verletzen und zu erschrecken, als ein rechter Eulenspiegel das einfältige Wort zu verdrehen und mit dick aufgetragenem Humor in den armen Leuten eine sündhafte 190 Lachlust zu reizen. Er besaß weder großen Verstand, noch Pietät für irgend etwas, selbst für die Natur nicht, und schien einzig ein persönliches Bedürfniß zu haben, das Dasein Gottes zu läugnen oder wegzuwünschen, indessen der Schreiner sich bloß nicht viel daraus machte, hingegen auf seinen Wanderjahren die Welt aufmerksam betrachtet hatte, sich fortwährend noch unterrichtete und von allerlei merkwürdigen Dingen mit Liebe zu sprechen wußte, wenn er aufthaute. Der Schneider fand nur Gefallen an Ränken und Schwänken und lärmenden Zänkereien mit den begeisterten Weibern; auch sein Verhalten zu den Juden, gegenüber demjenigen des Sargmachers, war bezeichnend. Während Jener wohlwollend und freundlich mit ihnen verfuhr, als mit Seinesgleichen, neckte und quälte sie der Schneider, wo er nur konnte, und verfolgte sie mit ächt christlichem Uebermuthe mit allen trivialen Judenspäßen, die ihm zu Gebote standen, so daß die armen Teufel manchmal wirklich böse wurden und die Gesellschaft verließen. Frau Margreth pflegte alsdann auch 191 ungeduldig zu werden und verwies den Dämon aus dem Hause; aber er fand sich bald wieder ein und wurde immer wieder gelitten, wenn er sein altes Wesen mit etwas Vorsicht und glatten Worten wieder begann. Es war, als wenn die viel redenden und disputirenden Genossen seiner als eines lebendigen Exempels des Atheismus bedurften, wie sie ihn verstanden; denn dies war er am Ende auch, indem es sich nicht undeutlich erwies, daß er den Gedanken Gottes und der Unsterblichkeit mehr zu unterdrücken suchte, weil er ihn in einem kleinlichen und nutzlosen Treiben beschränkte und belästigte, und als er späterhin starb, that er dies so verzagt und zerknirscht, heulend und zähneklappend und nach Gebet verlangend, daß die guten Leute einen glänzenden Triumph feierten, indessen der Schreiner eben so ruhig und unangefochten seinen letzten Sarg hobelte, welchen er sich selbst bestimmte, wie einst seinen ersten.

Dieser Art war die Versammlung, welche an vielen Abenden, zumal im Winter, bei Frau Margreth zu treffen war, und ich weiß nicht, 192 wie es kam, daß ich mich plötzlich am Tage oft in dem kurzweiligen Gewölbe mitten unter den Geschäftigen und am Abend zu den Füßen der Frau sitzen fand, welche mich in große Gunst genommen hatte. Ich zeichnete mich durch meine große Aufmerksamkeit aus, wenn die wunderbarsten Dinge von der Welt zur Sprache kamen. Die theologischen und moralischen Untersuchungen verstand ich freilich in den ersten Jahren noch nicht, obschon sie oft kindlich genug waren; jedoch nahmen sie auch schon damals nicht zu viele Zeit in Anspruch, da sich die Gesellschaft immer bald genug auf das Gebiet der Begebenheiten und sinnlichen Erfahrungen, und damit auf eine Art von naturphilosophischem Feld hinüber verfügte, wo ich ebenfalls zu Hause war. Man suchte vorzüglich die Erscheinungen der Geisterwelt, so wie die Ahnungen, Träume u. s. w. in lebendigen Zusammenhang zu bringen, und drang mit neugierigem Sinne in die geheimnißvollen Localitäten des gestirnten Himmels, in die Tiefe des Meers und der feuerspeienden Berge, von denen man hörte, und Alles wurde zuletzt auf 193 die religiösen Meinungen zurückgeführt. Es wurden Bücher von Hellsehenden, Berichte über merkwürdige Reisen durch verschiedene Himmelskörper und andere ähnliche Aufschlüsse gelesen, nachdem sie der Frau Margreth zur Anschaffung empfohlen worden, und alsdann darüber gesprochen und die Phantasie mit den kühnsten Gedanken angefüllt. Der Eine oder Andere fügte dann noch aufgeschnappte Berichte aus der Wissenschaft hinzu, wie er von dem Bedienten eines Sternguckers gehört hatte, daß man durch dessen Fernrohr lebendige Wesen im Monde und feurige Schiffe in der Sonne sehen könne. Frau Margreth hatte immer die lebendigste Einbildungskraft und bei ihr ging Alles in Fleisch und Blut über. Sie pflegte mehrmals in der Nacht aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen, um nachzusehen, was in der stillen dunklen Welt vorging, und immer entdeckte sie einen verdächtigen Stern, der nicht wie gewöhnlich aussah, ein Meteor oder einen rothen Schein, welch' Allem sie gleich einen Namen zu geben wußte. Alles war ihr von Bedeutung 194 und belebt; wenn die Sonne in ein Glas Wasser schien und durch dasselbe auf den hell polirten Tisch, so waren die sieben spielenden Farben für sie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten, welche in der Sonne selbst sein sollten. Sie sagte: Seht ihr denn nicht die schönen Blumen und Kränze, die grünen Geländer und die rothen Seidentücher? diese goldenen Glöcklein und diese silbernen Brunnen? und so oft die Sonne in die Stube schien, machte sie das Experiment, um ein wenig in den Himmel zu sehen, wie sie meinte. Ihr Mann und der Schneider lachten sie dann aus, und der Erste nannte sie eine phantastische Kuh. Jedoch auf einem festeren Boden stand sie, wenn von Geistererscheinungen die Rede war, denn hier hatte sie feste und unläugbare Erfahrungen die Menge, welche sie schon Schweiß genug gekostet hatten, und fast alle Andern wußten auch davon zu erzählen. Seit sie nicht mehr aus dem Hause kam, waren freilich ihre Erlebnisse auf ein häufiges Pochen und Rumoren in alten Wandschränken und etwa auf das Umherschleichen eines schwarzen Schafes 195 in der nächtlichen Straße beschränkt, wenn sie um Mitternacht oder gegen Morgen ihre Inspectionen aus dem Fenster hielt. Ausnahmsweise begegnete es ihr noch ein Mal, daß sie ein kleines Männchen vor der Hausthür entdeckte, welches, während sie mit scharfen kritischen Augen dasselbe beobachtete, plötzlich in die Höhe wuchs bis unter ihr Fenster, daß sie dasselbe kaum noch zu schlagen und sich in's Bett flüchten konnte. Hingegen in ihrer Jugend war es lebhafter hergegangen, als sie, besonders noch auf dem Lande, bei Tag und Nacht durch Feld und Wald zu gehen hatte. Da waren kopflose Männer stundenweit ihr zur Seite gegangen und näher gerückt, je eifriger sie betete, umgehende Bauern standen auf ihren ehemaligen Grundstücken und streckten flehend die Hand nach ihr aus, Gehenkte rauschten von hohen Tannen hernieder mit schreckbarem Geheul und liefen ihr nach, um in den heilsamen Bereich einer guten Christin zu kommen, und sie schilderte mit ergreifenden Worten den peinlichen Zustand, in dem sie sich befand, wenn sie nicht unterlassen konnte, 196 die unheimlichen Gesellen von der Seite anzuschielen, während sie doch wußte, daß dieses höchst schädlich sei. Einige Male war sie auch ganz aufgeschwollen auf der Seite, wo die Gespenster gelaufen waren, und mußte den Doctor herbeirufen. Ferner erzählte sie von den Zaubereien und bösen Künsten, welche zur Zeit ihrer Jugend, gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, noch gang und gäbe waren unter den Bauern. Da waren in ihrer Heimath reiche gewaltige Bauernfamilien, welche alte Heidenbücher besaßen, mittelst deren sie den schlimmsten Unfug trieben. Daß sie mit offener Flamme Löcher durch Strohbunde brennen konnten, ohne diese zu zerstören, oder auf dem Wasser gehen, oder den Rauch aus den Schornsteinen in beliebiger Richtung aufsteigen und possierliche Figuren bilden zu lassen verstanden, gehörte nur zu den unschuldigen Scherzen. Aber gräulich war es, wenn sie ihre Feinde langsam tödteten, indem sie für dieselben drei Nägel in einen Weidenbaum schlugen unter den gehörigen Sprüchen (Margreth's Vater siechte lange Zeit in Folge 197 dieser freundschaftlichen Manipulation, bis sie entdeckt und er durch Kapuziner gerettet wurde), oder wenn sie den armen Leuten das Korn in der Aehre verbrannten, um sie nachher zu verhöhnen, wenn sie hungerten und Noth litten. Man hatte zwar die Genugthuung, daß der Teufel den Einen oder Andern mit großem Aufwand abholte, wenn er reif war; allein das gerieth den gerechten Leuten selbst wieder zum Schrecken, und es war eben nicht angenehm, den blutigen Schnee und die gelassenen Haare auf dem Platze zu sehen, wie es der Erzählerin selbst begegnet war. Solche Bauern hatten Geld genug und maßen es bei Hochzeiten und Leichenfeiern einander in Scheffeln und Wannen zu. Die Hochzeiten waren dazumal noch sehr großartig. Sie hatte selbst noch eine solche gesehen, wo sämmtliche Gäste, Männer und Weiber, beritten waren und nahe an hundert Pferde beisammen. Die Weiber trugen Kronen von Flittergold und seidene Kleider mit drei- bis vierfach umgewundenen Ketten von zusammengerollten Ducaten; aber der Teufel ritt unsichtbar mit, 198 und es ging nach dem Nachtessen nicht am ehrbarsten zu. Diese Bauern hatten während einer großen Hungersnoth in den siebziger Jahren ihren Hauptspaß daran, mit zwölf Dreschern in weit geöffneten Scheunen zu dreschen, dazu einen blinden Geiger aufspielen zu lassen, welcher auf einem großem Brote sitzen mußte, und nachher, wenn genug hungrige Bettler vor der Scheune versammelt waren, die grimmigen Hunde in den wehrlosen Haufen zu hetzen. Bemerkenswerth war es, daß der Volksglaube diese reichen Dorftyrannen vielfach die verbauerten Nachkommen der alten Zwingherren sein ließ, unter welchen man alle ehemaligen Bewohner der vielen Burgen und Thürme verstand, die im Lande zerstreut waren. Ein anderes ergiebiges Feld für abenteuerliche Kunden war der Katholicismus mit seinen hinterlassenen leeren Klosterräumen und den noch lebendigen Klöstern, welche etwa in der katholisch gebliebenen Nachbarschaft sich befanden. Dazu trugen die Ordensgeistlichen der letztern Vieles bei, besonders die Kapuziner, welche sich heute noch mit den Scharfrichtern 199 freundschaftlich in die Arbeit theilen, bei den abergläubischen reformirten Bauern Teufelsbannerei und Sympathie-Künste zu treiben. In den abgelegenen Landesgegenden herrschte damals ein bewußtloser verkommener Protestantismus; die Landleute standen nicht etwa über den katholischen, als hinwegsehend über verdummte Menschen, sondern sie glaubten alle Mährchen derselben getreulich mit, nur hielten sie den Inhalt für übel und verwerflich, und sie lachten nicht über den Katholicismus, sondern sie fürchteten sich vor demselben, als vor einer unheimlichen heidnischen Sache. Eben so wenig, als es ihnen möglich war, sich unter einem Freigeiste einen Menschen vorzustellen, welcher wirklich in seinem Innern Nichts glaube, so wenig waren sie im Stande, von Jemandem anzunehmen, daß er zu Vieles glaube; ihr Maaß bestand einzig darin, sich nur zu denjenigen geglaubten Dingen zu bekennen, welche vom Guten und nicht vom Bösen seien.

Der Mann der Frau Margreth, Vater Jakoblein genannt, von ihr schlechthin Vater, war 200 funfzehn Jahre älter als sie, und näherte sich den Achtzigen. Er besaß eine fast eben so lebhafte Einbildungskraft, wie seine Frau, dabei reichten seine Erinnerungen noch tiefer in die Sagenwelt der Vergangenheit zurück; doch faßte er Alles von einer spaßhaften Seite auf, da er von jeher ein spaßhaftes und ziemlich unnützes Männlein gewesen war, und so wußte er eben so viel lächerlichen Spuck und verdrehte Menschengeschichten zu erzählen, als seine Frau ernsthafte und schreckliche. In seine frühste Jugend waren noch die letzten Hexenprocesse gefallen, und er beschrieb mit Humor aus der mündlichen Ueberlieferung geschöpfte Hexensabathe und Bankette ganz genau so, wie man sie noch in den actenmäßigen Geschichten jener Processe, in den weitläufigen Anklagen und erzwungenen Geständnissen liest. Dieses Gebiet sagte ihm besonders zu, und er versicherte feierlich von einigen seltsamen Personen, daß sie sehr wohl auf dem Besenstiele zu reiten verständen, versprach auch von einem Tage zum andern, so lange er lebte, von einem Hexenmeister seiner Bekanntschaft die 201 Salbe herbeizuschaffen, mit welcher die Besen bestrichen würden, um darauf aus dem Schornsteine fahren zu können. Dieses gedieh mir immer zum größten Jubel, besonders wenn er mir die projectirte Fahrt bei schönem Wetter, wo ich dann vorn auf dem Stiele sitzen sollte, von ihm festgehalten, mit lustigen Aussichten ausmalte. Er nannte mir manchen schönen Kirschbaum auf einer Höhe, oder einen trefflichen Pflaumenbaum aus seiner Bekanntschaft, bei welchem Halt gemacht und genascht, oder einen delicaten Erdbeerschlag in diesem oder jenem Walde, wo tapfer geschmaust werden solle, indessen der Besen an eine Tanne gebunden würde. Auch benachbarte Jahrmärkte wollten wir besuchen und in die verschiedenen Schaubuden, ohne Eintrittsgeld, durch das Dach eindringen. Bei einem befreundeten Pfarrherrn auf einem Dorfe müßten wir freilich, wenn wir anders von seinen berühmten Würsten etwas zu beißen bekommen wollten, den Besen im Holze verstecken und vorgeben, wir seien zu Fuß gekommen, um bei dem herrlichen Wetter den Herrn Pfarrer ein Bischen heimzusuchen; 202 hingegen bei einer reichen Hexenwirthin in einem andern Dorfe müßten wir keck zum Schornstein hineinfahren, damit sie, in der thörichten Meinung, ein Paar angehender hoffnungsvoller Hexer bei sich zu sehen, uns mit ihren vortrefflichen Pfannkuchen mit Speck und mit frischem Honig ohne Rückhalt bewirthe. Daß unterwegs auf hohen Bäumen und Felsen Einsicht in die seltensten Vogelnester genommen und das Tauglichste von jungen Vögeln ausgesucht würde, verstand sich von selbst. Wie alles ohne Schaden zu unternehmen sei, dafür hatte er bereits eine Auskunft und kannte die Formel, mit welcher der Teufel, nach beendigtem Vergnügen, um seinen Theil gebracht würde.

Auch in dem Gespensterwesen war er sehr erfahren; doch auch hier verdrehte sich ihm Alles zum Lustigen. Die Angst, welche er bei seinen Abenteuern empfunden, war immer eine höchst komische und endete öfter mit einem pfiffigen Streiche, welchen er den Quälgeistern spielte.

Auf diese Weise ergänzte er trefflich das phantastische Wesen seiner Frau, und ich hatte 203 so die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen, was man sonst den Kindern der Gebildeten in eigenen Mährchenbüchern zurecht macht. Wenn der Stoff auch nicht so rein und zierlich unbefangen war, wie in diesen, und nicht für eine so unschuldige kindliche Moral berechnet, so enthielt er nichts desto weniger immer eine menschliche Wahrheit und machte, besonders da in dem vielfältigen Sammelkrame der Frau Margreth eine reiche Fundgrube die sinnliche Anschauung vervollständigte, meine Einbildungskraft freilich etwas frühreif und für starke Eindrücke empfänglich, etwa wie die Kinder des Volkes früh an die kräftigen Getränke der Erwachsenen gewöhnt werden, ohne zu verderben. Denn was ich hörte, beschränkte sich nicht allein auf diese übersinnliche Fabelwelt; sondern die Leute besprachen auch auf die leidenschaftlichste Weise ihre eigenen und fremde Schicksale, und hauptsächlich das lange Leben der Frau Margreth und ihres Mannes war reich an ernsten und heitern Geschichten, an Beispielen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Verwicklung 204 und Befreiung; Hunger, Krieg, Aufruhr und Pestilenz hatten sie gesehen; jedoch ihr eigenes Verhältniß zu einander war so sonderbar von Leidenschaften bewegt, und es traten so ursprünglich dämonische Gewalten der Menschennatur darin zu Tage, daß ich mit kindlich erstauntem Auge in die wilde Flamme sah und für ein späteres Verständniß schon tiefe Eindrücke empfing.

Während nämlich die Frau Margreth die bewegende und erhaltende Kraft in ihrem Haushalte war, den Grund zum jetzigen Wohlstand gelegt hatte und jederzeit das Heft in den Händen hielt, war ihr Mann einer von denjenigen, welche nichts Erkleckliches gelernt haben, noch sonst thun können, und daher darauf angewiesen sind, mehr den Handlanger einer thatkräftigen Frau zu machen und auf eine müßige Weise unter dem Schilde ihres Regimentes ein weichliches ruhmloses Dasein zu führen. Als die Frau, besonders in frühern Jahren, durch kecke Benutzung der Zeitläufe und durch wahrhaft geistvolle Unternehmungen und originelle Handstreiche 205 in wörtlichem Sinne Gold zusammenhäufte, spielte er nur die Rolle eines dienstbaren Hauskoboldes, welcher, wenn er seine Handleistungen gethan hatte, mit dem, was ihm die Frau gab, sich gütlich that und dazu allerhand Späße trieb, welche männiglich ergötzten. Seine unmännliche Rathlosigkeit und Unzuverlässigkeit, die Erfahrung, daß sie in kritischen Fällen nie einen kräftigen Schutz in ihm fand, ließen Frau Margreth auch seine sonstige Nützlichkeit übersehen und erklärten die Rücksichtslosigkeit, mit welcher sie ihn ohne Weiteres von der Mitherrschaft über die Geldtruhe ausschloß. Es hatte auch lange Zeit keines von Beiden ein Arges dabei, bis einige Ohrenbläser, worunter auch jener ränkesüchtige Schneider, dem Manne das Demüthigende seiner Lage vorhielten und ihn aufhetzten, endlich eine gesetzliche Theilung des Erworbenen und vollständige Mitherrschaft zu verlangen.

Sogleich schwoll ihm der Kamm gewaltig und er drohte, die schlimmen Rathgeber hinter sich, der bestürzten Frau mit den Gerichten, wenn sie nicht seinen Antheil an dem «gemeinschaftlich 206 erworbenen» Gute herausgäbe. Sie fühlte wohl, daß es sich mehr um einen gewaltsamen Raub, als um ein ehrliches Mitwirken zu thun sei, und sträubte sich mit aller Kraft dagegen, zumal sie wohl wußte, daß sie nach wie vor die einzig erhaltende Kraft im Hause sein würde. Sie hatte aber die Gesetze gegen sich, da diese nicht auf eine Ausscheidung der beitragenden Kräfte eingehen konnten, und zudem gab der Mann vor, sich allerlei muthwilliger Anklagen bedienend, sich nach geschehener Theilung von ihr trennen zu wollen, so daß sie betäubt und überführt wurde und, krank und halb bewußtlos, die Hälfte von allem Besitze herausgab. Er nähete sogleich seine schimmernden Goldstücke, je nach der Art, in lange, seltsame Beutel, legte dieselben in einen Koffer, den er am Boden festnagelte, setzte sich darauf und schlug seinen Helfershelfern, welche auch ihren Antheil zu erschnappen gehofft hatten, ein Schnippchen. Im Uebrigen blieb er bei seiner Frau und lebte nach wie vor bei und von ihr, indem er nur dann zu seinem Schatze griff, 207 wenn er eine Privatliebhaberei befriedigen wollte. Sie erholte sich indessen wieder und hatte nach einiger Zeit ihren eigenen Schatz wieder vervollständigt und mit den Jahren verdoppelt; aber ihr einziger Gedanke war seit jenem Tage der Theilung, mit der Zeit wieder in den Besitz des Entrissenen zu gelangen, und das war nur möglich durch den Tod ihres Mannes. Daher ging ihr jedesmal ein Stich durch das Herz, wenn er ein Goldstück umwechselte, und sie harrte unverwandt auf seinen Tod. Er hingegen wartete eben so sehnlich auf den ihrigen, um Herr und Meister des ganzen Vermögens zu werden und in voller Unabhängigkeit den Rest seines langen Lebens zuzubringen. Dieses grauenhafte Verhältniß hatte man freilich auf den ersten Blick nicht geahnt; denn sie lebten zusammen wie zwei gute alte Leutchen und nannten sich nur Vater und Mutter. Insbesondere war die Margreth in allem Einzelnen auch gegen ihn die gute und verschwenderische Frau, die sie sonst war, und sie hätte vielleicht ohne den vierzigjährigen Lebensgenossen und sein spaßhaftes Umhertreiben nicht 208 einen Tag leben können; auch ihm war es mittlerweile wohl genug und er besorgte mit humoristischer Geschäftigkeit die Küche, während sie im Kreise ihrer schwärmerischen Genossen die überfüllte Phantasie entzügelte. Doch in jeder Jahreszeit ein Mal, wenn in der Natur die großen Veränderungen geschahen und die alten Menschen an die schnelle Vergänglichkeit ihres Lebens erinnerten und ihre körperlichen Gebrechen fühlbarer wurden, erwachte, meistens in dunklen schlaflosen Nächten, ein entsetzlicher Streit zwischen ihnen, daß sie aufrecht in ihrem breiten alterthümlichen Bette saßen, unter dem Einen buntbemalten Himmel, und bis zum Morgengrauen, bei geöffneten Fenstern, sich die tödtlichen Beleidigungen und Zankworte zuschleuderten, daß die stillen Gassen davon wiederhallten. Sie warfen sich die Vergehungen einer fern abliegenden, sinnlich durchlebten Jugend vor und riefen Dinge durch die lautlose Nacht aus, welche lange vor der Wende dieses Jahrhunderts, in Bergen und Gefilden geschehen, wo seitdem ganze dichte Wälder entweder gewachsen oder verschwunden, 209 und deren Theilnehmer längst in ihren Gräbern vermodert waren. Dann stellten sie sich darüber zur Rede, welchen Grund das Eine denn zu haben glaube, das Andere überleben zu können? und verfielen in einen elenden Wettstreit, welches von ihnen wohl noch die Genugthuung haben werde, das Andere todt vor sich zu sehen. Wenn man am Tage darauf in ihr Haus kam, so wurde der gräuliche Streit vor jedem Eintretenden, ob fremd oder bekannt, fortgeführt, bis die Frau erschöpft war und in Weinen und Beten verfiel, indeß der Mann anscheinend munterer wurde, lustige Weisen pfiff, sich einen Pfannkuchen backte und fortwährend irgend eine Flause dazu hermurmelte. Er konnte auf diese Weise einen ganzen Morgen hindurch Nichts sagen, als immer: Einundfunfzig! einundfunfzig! einundfunfzig! oder zur Abwechslung einmal: Ich weiß nicht, ich glaube immer, die alte Kunzin da drüben ist heute früh spazieren geritten! sie hat gestern einen neuen Besen gekauft! ich habe so was in der Luft flattern sehen, das sah ungefähr aus, wie ihr rother Unterrock; sonderbar! 210 hm! einundfunfzig u. s. f. Dabei hatte er Gift und Tod im Herzen und wußte, daß seine Frau durch das Betragen doppelt litt; denn sie hatte keine Bosheit noch Muthwillen, um den Kampf auf diese Weise fortzusetzen. Was aber Beide in diesem Zustande sich zu Leide thaten, bestand dann gewöhnlich in einer verschwenderischen Freigebigkeit, womit sie Alles beschenkten, was ihnen nahe kam, gleichsam als wollte Eines vor des Anderen Augen den Besitz aufzehren, nach dem ein Jedes trachtete.

Der Mann war gerade kein gottloser Mensch, sondern ließ, indem er in der gleichen wunderlichen Art, wie an Gespenster und Hexen, so auch an Gott und seinen Himmel glaubte, denselben einen guten Mann sein und dachte nicht im Mindesten daran, sich auch um die moralischen Lehren zu bekümmern, welche aus diesem Glauben entspringen mußten; er aß und trank, lachte und fluchte und machte seine Schnurren, ohne je zu trachten, sein Leben mit einem ernstern Grundsatze in Einklang zu bringen. Aber auch der Frau fiel es niemals ein, daß ihre Leidenschaften 211 mit dem religiösen Gebahren im Widerspruche sein könnten, und sie zeichnete sich vor ihren Glaubensschwestern darin aus, daß sie niemals dem Ausdrucke dessen, was sie bewegte, einen Zügel anlegte. Sie liebte und haßte, segnete und verwünschte und gab sich unverhüllt und ungehemmt allen Regungen ihres Gemüthes hin, ohne je an eine eigene mögliche Schuld zu denken und sich unbefangener Weise stets auf Gott und seinen mächtigen Einfluß berufend.

Jede der Ehehälften hatte eine zahlreiche Verwandtschaft blutarmer Leute, welche im Lande zerstreut wohnten. Diese theilten unter sich die Hoffnung auf das gewichtige Erbe um so mehr, als Frau Margreth, zufolge ihrer hartnäckigen Abneigung gegen unverbesserlich arm Bleibende, ihnen nur spärliche Gaben von ihrem Ueberflusse zukommen ließ und sie nur an Feiertagen gastlich speiste und tränkte. Alsdann erschienen von beiden Seiten her die alten Vettern und Basen, Schwestern und Schwäger mit ausgehungerten langnasigen Töchtern und bleichen Söhnen, und trugen Säcklein und Körbe herbei, welche die 212 kümmerlichen Gaben ihrer Armuth enthielten, um die alten launenhaften Leute für sich zu gewinnen, und worin sie reichere Gegenspenden nach Hause zu tragen hofften. Diese Sippschaft war schroff in zwei Lager geschieden, welche sich nach dem Streite, der zwischen den Hauptpersonen herrschte, ebenfalls den Hoffnungen auf den früheren Tod des Gegners hingaben, um einst ein vergrößertes Erbe zu erhalten. Sie haßten und befeindeten sich eben so stark unter einander, als die Leidenschaften Margreth's und ihres Mannes das Vorbild dazu abgaben, und es entstand jedesmal, nachdem die zahlreiche Gesellschaft sich an dem ungewohnten Ueberflusse gesättigt und gewärmt hatte und der Uebermuth den anfänglichen Zwang auflöste, ein mächtiger Zank zwischen beiden Parteien, daß sich die Männer die übrig gebliebenen Schinken, ehe sie dieselben in ihre Quersäcke steckten, um die Köpfe schlugen und die armen Weiber sich gegenseitig unter die blassen spitzigen Nasen schimpften und über dem befriedigten Magen ein Herz voll Neid und Aerger auf den Heimweg trugen. 213 Ihre Augen funkelten stechend unter den dürftig aufgeputzten Sonntagshauben hervor, wenn sie mit langen Schritten, die vollgepfropften Bündel unter dem Arme, aus dem Thore zogen und sich grollend auf den Scheidewegen trennten, um den entlegenen Hütten zuzueilen.

Solcherweise ging es viele Jahre, bis die alte Frau Margreth mit dem Sterben den Anfang machte und in jenes fabelhafte Reich der Geister und Gespenster selber hinüberging. Sie hinterließ unerwarteter Weise ein Testament, welches einen einzelnen jungen Mann zum alleinigen Erben einsetzte; es war der letzte und jüngste jener Günstlinge, an deren Gewandtheit und Wohlergehen sie ihre Freude gehabt hatte, und sie war mit der Ueberzeugung gestorben, daß ihr gutes Gold nicht in ungeweihte Hände übergehe, sondern die Kraft und die Lust tüchtiger Leute sein werde. Bei ihrem Leichenbegängnisse fanden sich sämmtliche Verwandte beider Ehegatten ein, und es war ein großes Geheul und Gelärm, als sie sich also getäuscht fanden. Sie vereinigten sich in ihrem Zorne alle gegen 214 den glücklichen Erben, welcher ganz ruhig seine Habe einpackte, was irgend von Nutzen war, und auf einen ungeheuerlichen Wagen lud. Er überließ den armen Leuten Nichts, als die vorhandenen Vorräthe an Lebensmitteln und die gesammelten Seltsamkeiten und Bücher der Seligen, insofern sie nicht von Gold, Silber oder sonstigem Gehalte waren. Drei Tage und drei Nächte blieb der wehklagende Schwarm in dem Trauerhause, bis der letzte Knochen zerschlagen und dessen Mark mit dem letzten Bissen Brot aufgetunkt war. Sodann zerstreuten sie sich allmälig, ein Jeder mit dem Andenken, das er noch erbeutet hatte. Der Eine trug eine Partie Heiden- und Götzenbücher auf der Schulter, mit einem tüchtigen Stricke zusammengebunden und mit einem Scheite geknebelt, und unter dem Arme ein Säcklein getrockneter Pflaumen; der Andere hing ein Muttergottesbild an seinem Stabe über den Rücken und wiegte auf dem Kopfe eine kunstreich geschnitzte Lade, sehr geschickt mit Kartoffeln angefüllt in allen ihren Fächern. Hagere lange Jungfrauen trugen zierliche altmodische 215 Weidenkörbe und buntbemalte Schachteln, angefüllt mit künstlichen Blumen und vergilbtem Flitterkram, Kinder schleppten wächserne Engel in den Armen oder trugen chinesische Krüge in den Händen, es war, als sähe man eine Schaar Bilderstürmer aus einer geplünderten Kirche kommen. Doch gedachte ein Jeder seine Beute als ein werthes Angedenken an die Verstorbene aufzubewahren, sich schließlich an das genossene Gute erinnernd, und zog mit Wehmuth seine Straße, indessen der Haupterbe, neben seinem Wagen einherschreitend, plötzlich halt machte, sich besann, darauf die ganze Ladung einem Trödler verkaufte und auch nicht einen Nagel aufbewahrte. Dann ging er zu einem Goldschmied und verkaufte demselben die Schaumünzen, Kelche und Ketten, und zog endlich mit rüstigen Schritten aus dem Thore, ohne sich umzusehen, mit seiner dicken Geldkatze und seinem Stabe. Er schien froh zu sein, eine verdrießliche und langwierige Angelegenheit endlich erledigt zu sehen.

In dem Hause aber blieb der alte Mann allein und einsam zurück mit dem zusammengeschmolzenen 216 Reste jener früheren Theilung. Er lebte noch drei Jahre und starb gerade an dem Tage, wo das letzte Goldstück gewechselt werden mußte. Bis dahin vertrieb er sich die Zeit damit, daß er sich vornahm und ausmalte, wie er im Jenseits seine Frau harranguiren wolle, wenn sie da «mit ihren verrückten Ideen herumschlampe», und welche Streiche er ihr Angesichts der Apostel und Propheten spielen würde, daß die alten Gesellen was zu lachen bekämen. Auch an manchen Todten seiner Bekanntschaft erinnerte er sich und freute sich auf die Wiederbelebung verjährten Unfuges beim Wiedersehen. Ich hörte ihn immer nur in solch lustiger Art vom zukünftigen Leben sprechen. Er war nun blind und bald neunzig Jahre alt, und wenn er von Schmerzen, Trübsal und Schwäche heimgesucht, traurig und klagend wurde, so sprach er nichts von diesen Dingen, sondern rief immer, man sollte die Menschen todtschlagen, ehe sie so alt und elend würden.

Endlich ging er aus, wie ein Licht, dessen letzter Tropfen Oel aufgezehrt ist, schon vergessen 217 von der Welt, und ich, als ein herangewachsener Mensch, war vielleicht der einzige Bekannte früherer Tage, welcher dem zusammengefallenen Restchen Asche zu Grabe folgte.

Gleich dem Chorus in den Schauspielen der Alten hatte ich von meiner frühsten Jugend an das Leben und die Ereignisse in diesem nachbarlichen Hause betrachtet und war ein allezeit aufmerksamer Theilnehmer. Ich ging ab und zu, aß und trank, was mir wohlgefiel, setzte mich in eine Ecke oder stand mitten unter den Handelnden und Lärmenden, wenn etwas vorfiel. Ich holte die Bücher hervor und verlangte, wessen ich von den Sehenswürdigkeiten bedurfte, oder spielte mit den Schmucksachen der Frau Margreth. Alle die mannigfaltigen Personen, welche in das Haus kamen, kannten mich, und Jeder war freundlich gegen mich, weil dieses meiner Beschützerin so behagte. Ich aber machte nicht viele Worte, sondern gab Acht, daß Nichts von den geschehenden Dingen meinen Augen und Ohren entging. Mit all diesen Eindrücken beladen, zog ich dann über die Gasse wieder nach 218 Hause und spann in der Stille unserer Stube den Stoff zu großen träumerischen Geweben aus, wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab. In der That muß ich auf diese erste Kinderzeit meinen Hang und ein gewisses Geschick zurückführen, an die Vorkommnisse des Lebens erfundene Schicksale und verwickelte Geschichten anzuknüpfen, und so im Fluge heitere und traurige Romane zu entwerfen, deren Mittelpunkt ich selbst oder die mir Nahestehenden waren, die mich viele Tage lang beschäftigten und bewegten, bis sie sich in neue Handlungen auflösten, je nach der Stimmung und dem äußeren Ergehen. In jener ersten Zeit waren es kurze und wechselnde Bilder, welche sich rasch und unbewußt formirten und vorbeigingen, wie die befreiten Erinnerungen und Traumvorräthe eines Schlafenden. Sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben, daß ich sie kaum von demselben unterscheiden konnte.

Daraus nur kann ich mir unter Anderem eine Geschichte erklären, welche ich ungefähr in meinem siebenten Jahre anrichtete, und die ich 219 gar nicht begreifen könnte, da die schlimme Art derselben sonst nicht in meinem Wesen liegt und sich zeither auch in keiner Weise wiederholt hat. Ich saß einst hinter dem Tische, mit irgend einem Spielzeuge beschäftigt, und sprach dazu einige unanständige, höchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehört haben mochte. Eine Frau saß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam darauf machte. Sie fragten mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt hätte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich verwunderte, einen Augenblick nachsinnend und dann den Namen eines Knaben nannte, den ich in der Schule gesehen hatte. Sogleich fügte ich noch zwei oder drei Andere hinzu, sämmtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren und einer vorgerückteren Klasse meiner Schule angehörig, mit denen ich aber kaum noch ein Wort gesprochen hatte. Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner Verwunderung nach der Schule zurück, sowie 220 jene vier angegebenen Knaben, welche mir wie halbe Männer vorkamen, da sie an Alter und Größe mir weit vorgeschritten waren. Ein geistlicher Herr erschien, welcher gewöhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand, setzte sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hieß mich neben ihn sitzen. Die Knaben hingegen mußten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Sie wurden nun mit feierlicher Stimme gefragt, ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart ausgesprochen hätten; sie wußten Nichts zu antworten und waren ganz erstaunt. Hierauf sagte der Geistliche zu mir: «Wo hast du die bewußten Dinge gehört von diesen Buben?» Ich war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit trockener Bestimmtheit: «Im Brüderleinsholze!» Dieses ist ein Gehölz, eine Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in meinem Leben nie gewesen war, das ich aber oft nennen hörte. «Wie ist es dabei zugegangen, wie seid ihr dahin gekommen?» fragte man weiter. Ich erzählte, wie mich die Knaben 221 eines Tages zu einem Spaziergange überredet und in den Wald hinaus mitgenommen hätten, und ich beschrieb mit merkwürdiger Wahrheit die Art, wie etwa größere Knaben einen kleinern zu einem muthwilligen Streifzuge mitnehmen. Die Angeklagten geriethen außer sich und betheuerten mit Thränen, daß sie theils seit langer Zeit, theils gar nie in jenem Gehölze gewesen seien, am wenigsten mit mir! Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich, wie auf eine böse Schlange, und wollten mich mit Vorwürfen und Fragen bestürmen, wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert, den Weg anzugeben, welchen wir gegangen. Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen, und angefeuert durch den Widerspruch und das Läugnen eines Mährchens, an welches ich nun selbst glaubte, da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand der gegenwärtigen Scene erklären konnte, gab ich nun Weg und Stege an, die an den Ort führen, und nannte hier ein Dorf, dort eine Brücke oder eine Wiese. Ich kannte dieselben nur vom flüchtigen Hörensagen, und obgleich ich 222 kaum darauf gemerkt hatte, stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein. Ferner erzählte ich, wie wir unterwegs Nüsse heruntergeschlagen, Feuer gemacht und gestohlene Kartoffeln gebraten, auch einen Bauernjungen jämmerlich durchgebläut hätten, welcher uns hindern wollte. Im Walde angekommen, kletterten meine Gefährten auf hohe Tannen und jauchzten in der Höhe, den Geistlichen und den Lehrer mit lächerlichen Spitznamen benennend. Diese Spitznamen hatte ich, über das Aeußere der beiden Männer nachsinnend, längst im eigenen Herzen ausgeheckt, aber nie verlautbart; bei dieser Gelegenheit brachte ich sie zugleich an den Mann, und der Zorn der Herren war eben so groß, als das Erstaunen der vorgeschobenen Knaben. Nachdem sie wieder von den Bäumen heruntergekommen, schnitten sie große Ruthen und forderten mich auf, auch auf ein Bäumchen zu klettern und oben die Spottnamen auszurufen. Als ich mich weigerte, banden sie mich an einen Baum fest und schlugen mich so lange mit den Ruthen, bis ich Alles aussprach, was sie verlangten, auch 223 jene unanständigen Worte. Indessen ich rief, schlichen sie sich hinter meinem Rücken davon, ein Bauer kam in demselben Augenblicke heran, hörte meine unsittlichen Reden und packte mich bei den Ohren. «Wart ihr bösen Buben!» rief er, «diesen hab' ich!» und hieb mir einige Streiche. Dann ging er ebenfalls weg und ließ mich stehen, während es schon dunkelte. Mit vieler Mühe riß ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunklen Wald. Allein ich verirrte mich, fiel in einen tiefen Bach, in welchem ich bis zum Ausgange des Waldes theils schwamm, theils watete, und so, nach Bestehung mancher Gefährde, den rechten Weg fand. Doch wurde ich noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen, bekämpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaunpfahl und schlug ihn in die Flucht.

Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt, wie bei dieser Erzählung. Es kam Niemand in den Sinn, etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen, ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei? Dagegen brachte man 224 mit meinem Abenteuer in Zusammenhang, daß der Eine und Andere der Knaben nachgewiesener Maßen die Schule geschwänzt hatte, gerade um die Zeit, welche ich angab. Man glaubte meiner großen Jugend sowohl, wie meiner Erzählung; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schweigens. Die Angeklagten wurden unschuldig verurtheilt als verwilderte bösartige junge Leute, da ihr hartnäckiges und einstimmiges Läugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten; sie erhielten die härtesten Schulstrafen, wurden einige Wochen lang auf die Schandbank gesetzt, und überdies noch von ihren Eltern geschlagen und eingesperrt.

So viel ich mich dunkel erinnere, war mir das angerichtete Unheil nicht nur gleichgültig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das in Folge meines schöpferischen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die 225 mißhandelten Jungen so lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran so wenig etwas ändern konnte, als die alten Götter am Fatum.

Die Betroffenen waren sämmtlich, was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen könnte, ruhige, gesetzte Knaben, welche bisher keinen Anlaß zu grobem Tadel gegeben, und aus denen seither stille und arbeitsame junge Bürger geworden. Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene Unrecht, und als sie es Jahre lang nachher mir vorhielten, erinnerte ich mich ganz genau wieder an die vergessene Geschichte, und fast jedes Wort ward wieder lebendig. Erst jetzt quälte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wuth, und so oft ich daran denke, steigt mir das Blut zu Kopfe, und ich möchte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben, ja sogar die plauderhafte Frau anklagen, welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ursprung 226 derselben nachgewiesen war. Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten, als sie sahen, wie mich die Sache nachträglich beunruhigte, und sie freuten sich, daß ich zu ihrer Genugthuung mich alles Einzelnen sowohl erinnerte. Nur der Vierte, ein etwas beschränkter Mensch, der viele Mühe mit dem Leben hat, konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem späteren Alter, und trug mir die angethane Unbilde so nach, als ob ich sie erst heute, mit dem Verstande eines Erwachsenen, begangen hätte. Mit dem tiefsten Hasse geht er an mir vorüber, und wenn er mir beleidigende Blicke zuwirft, so vermag ich sie nicht zu erwidern, weil das Unrecht doch auf mir ruht und Keiner von uns es vergessen kann.

 


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