S. 11
An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes
Schneiderlein auf der Landstraße nach •Goldach, einer kleinen
reichen Stadt, die nur wenige Stunden von •Seldwyla entfernt
05 ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts, als
einen •Fingerhut, welchen er, in Ermangelung irgend einer
Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der
Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und die Finger
schmerzten ihm ordentlich von diesem Drehen und Reiben, •denn
10 er hatte wegen des Fallimentes irgend eines Seldwyler Schneidermeisters
seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren
und auswandern müssen. Er hatte noch nichts gefrühstückt
als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen, und
er sah noch weniger ab, wo das geringste Mittagsbrot herwachsen
15 sollte. Das •Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien
ihm gänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide,
welches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauen
•Radmantel trug, mit schwarzem °Sammet ausgeschlagen, der
seinem Träger ein edles und •romantisches Aussehen verlieh,
20 zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig
gepflegt waren und er sich blasser aber regelmäßiger Gesichtszüge
erfreute.
Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne
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18 Sammet] Sammt H2-E3
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daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde
führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren
und im Stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber
wäre er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel
05 und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er
ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.
Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbeiten, wo
solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wanderte und keine Ersparnisse
mitführte, geriet er in die größte Not. Näherte er
10 sich einem Hause, so betrachteten ihn die Leute mit Verwunderung
und Neugierde und erwarteten eher alles andere, als
daß er betteln würde; so erstarben ihm, da er überdies •nicht
beredt war, die Worte im Munde, also daß er der Märtyrer
seines Mantels war und Hunger litt, so schwarz wie des
15 letzteren Sammetfutter.
Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhe hinauf
ging, stieß er auf einen neuen und bequemen •Reisewagen, welchen
ein herrschaftlicher Kutscher in •Basel abgeholt hatte und
seinem Herrn überbrachte, •einem fremden Grafen, der irgendwo
20 in der Ostschweiz auf einem gemieteten oder angekauften alten
Schlosse saß. Der Wagen war mit allerlei Vorrichtungen zur
Aufnahme des Gepäckes versehen und schien deswegen schwer
bepackt zu sein, obgleich alles leer war. Der Kutscher ging
wegen des steilen Weges neben den Pferden, und als er oben
25 angekommen den Bock wieder bestieg, fragte er den Schneider,
ob er sich nicht in den leeren Wagen setzen wolle. Denn es
fing eben an zu regnen und er hatte mit einem Blicke gesehen,
daß der Fußgänger sich matt und kümmerlich durch die Welt
schlug.
30 Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden an,
worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte und in
einer kleinen Stunde stattlich und donnernd durch den Thorbogen
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von Goldach fuhr. Vor dem ersten Gasthofe, zur Wage
genannt, hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, und alsogleich
zog der Hausknecht so heftig an der Glocke, daß der Draht
beinahe entzwei ging. Da stürzten Wirt und Leute herunter
05 und rissen den Schlag auf; Kinder und Nachbaren umringten
schon den prächtigen Wagen, neugierig, welch' ein Kern sich
aus so unerhörter Schale enthülsen werde, und als der verdutzte
Schneider endlich hervorsprang in seinem Mantel, blaß und schön
und schwermütig zur Erde blickend, schien er ihnen wenigstens
10 ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn zu sein. Der Raum
zwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gasthauses war
schmal und im übrigen der Weg durch die Zuschauer ziemlich
gesperrt. Mochte es nun der Mangel an Geistesgegenwart
oder an Mut sein, den Haufen zu durchbrechen und einfach
15 seines Weges zu gehen, – er that dieses nicht, sondern
ließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hinangeleite
und bemerkte seine neue •seltsame Lage erst recht, als er sich
in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah und ihm sein ehrwürdiger
Mantel dienstfertig abgenommen wurde.
20 «•Der Herr wünscht zu speisen?» hieß es, «gleich wird
serviert werden, es ist eben gekocht!»
Ohne eine Antwort abzuwarten lief der Wagwirt in die
Küche und rief: «•In's drei Teufels Namen! Nun haben wir
nichts als Rindfleisch und die Hammelskeule! Die Rebhuhnpastete
25 darf ich nicht anschneiden, da sie für die Abendherren
bestimmt und versprochen ist. So geht es! Den einzigen Tag,
wo wir keinen °solchen Gast erwarten und nichts da ist, muß
ein solcher Herr kommen! Und der Kutscher hat ein Wappen
auf den Knöpfen und der Wagen ist wie der eines Herzogs!
30 und der junge Mann mag kaum den Mund öffnen vor
Vornehmheit!»
Doch die ruhige Köchin sagte: «Nun, was ist denn da
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27 solchen] fehlt H2-E3
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zu lamentieren, Herr? Die Pastete tragen Sie nur kühn auf,
die wird er doch nicht aufessen! Die Abendherren bekommen
sie dann portionenweise, sechs Portionen wollen wir schon
noch °herausbringen!»
05 «Sechs Portionen? Ihr vergeßt wohl, daß die Herren
sich satt zu essen gewohnt sind!» meinte der Wirt, allein die
Köchin fuhr unerschüttert fort: «Das sollen sie auch! Man
läßt noch schnell ein halbes Dutzend Cotelettes holen, die
brauchen wir so wie so für den Fremden, und was er übrig
10 läßt, schneide ich in kleine Stückchen und menge sie unter die
Pastete, da lassen Sie nur mich machen!»
Doch der wackere Wirt sagte ernsthaft: «Köchin, ich habe
Euch schon einmal gesagt, daß dergleichen in dieser Stadt und
in diesem Hause nicht angeht! Wir leben hier solid und ehrenfest
15 und vermögen es!»
«Ei der Tausend, ja, ja!» rief die Köchin endlich etwas
aufgeregt, «wenn man sich °dann nicht zu helfen weiß, so
opfere man die Sache! Hier sind zwei Schnepfen, die ich den
Augenblick vom Jäger gekauft habe, die kann man am Ende
20 der Pastete zusetzen! Eine •mit Schnepfen gefälschte Rebhuhnpastete
werden die Leckermäuler nicht beanstanden! Sodann sind
auch die Forellen da, die größte habe ich in das siedende
Wasser geworfen, wie der merkwürdige Wagen kam, und da
kocht auch schon die Brühe im °Pfännchen, so haben wir also
25 einen Fisch, das Rindfleisch, das Gemüse mit den Cotelettes,
den Hammelsbraten und die Pastete; geben Sie nur den
Schlüssel, daß man das Eingemachte und den Dessert herausnehmen
kann! Und den Schlüssel könnten Sie, Herr! mir mit
Ehren und Zutrauen übergeben, damit man Ihnen nicht allerorten
30 nachspringen muß und oft in die größte Verlegenheit
gerät!»
«Liebe Köchin! Das braucht Ihr nicht übel zu nehmen,
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04 herausbringen!»] herauskriegen! H2
17 dann] denn H2
24 Pfännchen,] Pfännchen; H2
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ich habe meiner seligen Frau am °Totbette versprechen müssen,
die Schlüssel immer in Händen zu behalten; sonach geschieht
es grundsätzlich und nicht aus Mißtrauen. Hier sind die
Gurken und hier die Kirschen, hier die Birnen und hier die
05 Aprikosen; aber das alte Confekt darf man nicht mehr aufstellen;
geschwind soll die Lise zum Zuckerbeck laufen und
frisches Backwerk holen, drei Teller, und wenn er eine gute
Torte hat, soll er sie auch gleich mitgeben!»
«Aber Herr! Sie können ja dem einzigen Gast das nicht
10 alles aufrechnen, das schlägt's beim besten Willen nicht heraus!»
«Thut nichts, es ist um die Ehre! Das bringt mich nicht
um; dafür soll ein großer Herr, wenn er durch unsere Stadt
reis't, sagen können, er habe ein ordentliches Essen gefunden,
obgleich er ganz unerwartet und im Winter gekommen sei!
15 Es soll nicht °heißen, wie von den Wirten zu Seldwyl, die
alles Gute selber fressen und den Fremden die Knochen vorsetzen!
Also frisch, munter, sputet Euch allerseits!»
Während dieser umständlichen Zubereitungen befand sich
der Schneider in der peinlichsten Angst, da der Tisch mit
20 glänzendem Zeuge gedeckt wurde, und so heiß sich der ausgehungerte
Mann vor kurzem noch nach einiger Nahrung gesehnt
hatte, so ängstlich wünschte er jetzt, der drohenden
Mahlzeit zu entfliehen. Endlich faßte er sich einen Mut, nahm
seinen Mantel um, setzte die Mütze auf und begab sich hinaus,
25 um den Ausweg zu gewinnen. Da er aber in seiner °Verwirrung,
und in dem weitläufigen Hause die Treppe nicht
gleich fand, so glaubte der Kellner, den der Teufel beständig
umhertrieb, jener suche eine gewisse Bequemlichkeit, rief: «Erlauben
Sie gefälligst, mein Herr, ich werde Ihnen den Weg
30 weisen!» und führte ihn durch einen langen Gang, der nirgend
anders endigte, als vor einer schön lackierten Thüre, auf welcher
eine zierliche Inschrift angebracht war.
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01 Totbette] Todbette H2-E3
15 heißen,] heißen H2-E3
25 Verwirrung,] Verwirrung H2
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Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch, sanft wie
ein Lämmlein, dort hinein und schloß ordentlich hinter sich zu.
•Dort lehnte er sich bitterlich seufzend an die Wand, und wünschte
der goldenen Freiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein,
05 welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, als das höchste
Glück erschien.
Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbstthätige Lüge,
weil er in dem verschlossenen Raum ein wenig verweilte und
er betrat hiermit den abschüssigen Weg des Bösen.
10 Unterdessen schrie der Wirt, der ihn gesehen hatte im
Mantel dahin gehen: «Der Herr friert! °heizt mir ein im
Saal! Wo ist die Lise, wo ist die Anne? Rasch einen Korb
Holz in den Ofen und einige Hände voll Spähne, daß es
brennt! Zum Teufel, sollen die Leute in der Wage im Mantel
15 zu Tisch sitzen?»
Und als der Schneider wieder aus dem langen Gange
hervorgewandelt kam, melancholisch wie der umgehende Ahnherr
eines Stammschlosses, begleitete er ihn mit hundert Komplimenten
und Handreibungen wiederum in den verwünschten
20 Saal hinein. Dort wurde er ohne ferneres Verweilen an den
Tisch gebeten, der Stuhl zurechtgerückt und da der Duft der
kräftigen Suppe, dergleichen er lange nicht gerochen, ihn
vollends seines Willens beraubte, so ließ er sich in Gottes
Namen nieder und tauchte sofort den schweren Löffel in die
25 braungoldene Brühe. In tiefem Schweigen erfrischte er seine
matten Lebensgeister und wurde mit achtungsvoller Stille und
Ruhe bedient.
Als er den Teller geleert hatte und der Wirt sah, daß
es ihm so wohl schmeckte, munterte er ihn höflich auf, noch einen
30 Löffel voll zu nehmen, das sei gut bei dem rauhen °Wetter.
Nun wurde die Forelle aufgetragen, mit Grünem bekränzt, und
der Wirt legte ein schönes Stück vor. Doch der Schneider,
von Sorgen gequält, wagte in seiner Blödigkeit nicht, das
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11 heizt mir] heizet mehr H2-E3
30 Wetter.] Absatzende H2
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blanke Messer zu brauchen, sondern hantierte schüchtern und
zimperlich mit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerkte
die Köchin, welche zur Thür °hineinguckte, den großen
05 Herren zu sehen, und sie sagte zu den Umstehenden: «Gelobt
sei Jesus Christ! Der weiß noch einen feinen Fisch zu essen,
wie es sich gehört, der sägt nicht mit dem Messer in dem
zarten Wesen herum, wie wenn er ein Kalb schlachten wollte.
Das ist ein Herr von großem Hause, •darauf wollt' ich schwören,
10 wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig
er ist! Gewiß ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man
ihm nicht lassen will! °Ja, ja, die vornehmen Leute haben
auch ihre Leiden!»
Inzwischen sah der Wirt, daß der Gast nicht trank, und
Da beging der Schneider den zweiten selbstthätigen Fehler,
«Gelobt sei Jesus Christ!» sagte die Köchin, «ich hab's
So nahm die Mahlzeit denn ihren Verlauf und zwar
---------- 04 hineinguckte,] hereinguckte, H2-E3 S. 18 unentschlossen aß und trank und der Wirt, um ihm Zeit zu
Gesagt, gethan; mit dem Mute der Verzweiflung hieb
«Wohl bekomm' es ihm,» sagte die Köchin, «lassen Sie ---------- 08 ist,»] ist! H2 S. 19 ihn nur machen, der weiß, was Rebhühner sind! Wär' er ein
«Ich sag's auch,» meinte der °Wirt: «es sieht sich zwar
Unterdessen hatte der Kutscher die Pferde füttern lassen
«Nein,» hieß es, und er erwiderte: «Das glaub' ich
Er machte diesen schlechten Spaß, um sich an dem Schneiderlein 30 •Nun mußte es sich aber fügen, daß dieser, ein geborener ---------- 03 Wirt:] Wirth; H2 S. 20 im Wagen hervorgezogen, es dort vergessen und der
«Höchst interessant!» brummte der Wirt für sich, indem
Also das sollte ein polnischer Graf sein? Den Wagen ---------- 23 Häberlein] Häberlin H2-E3 (S. 21-30) S. 21 hatten sie freilich von ihrem Comptoirstuhl aus gesehen; auch Doch tranken sie nicht zu viel, da es noch früh war; «Darf ich dem Herrn Grafen eine ordentliche Cigarre «Die Herren Polen lieben auch eine gute Cigarrette, hier «Dieser aus Damaskus ist feiner, Herr Graf,» rief der Der vierte streckte einen ungefügen Cigarrenbengel dar, 30 Strapinski lächelte sauersüß, sagte nichts und war bald weniger als einer Viertelstunde, der schönste Herbstnachmittag Der Wein hatte seinen Witz erwärmt; er überdachte schnell, Nun war es eine weitere Fügung, daß der Schneider, In einer halben Stunde war das Gut des Amtsrates Gesellschaft ins Haus, und alsobald war auch der Tisch mit Mittlerweile teilte sich die Gesellschaft in zwei Partieen, ---------- 25 hierfür] hiefür H2-E3 S. 24 Wirkung; wenn zwei oder drei von den Herren aufstanden Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein geborener Die beiden Partieen waren nun zu Ende, auch das Sausergelüste den er setzen mußte, gewann wieder, und zuletzt, als man das Weil er aber zugleich bemerkte, daß der rätselhafte Fremde Aber der Graf Strapinski, als man sich vor dem Abendessen ---------- 06 im] fast im H2 S. 26 mit seiner Tochter •Nettchen ihm entgegentrat. Nettchen war «Wir suchen Sie, Herr Graf!» rief der Amtsrat, «damit Der Wanderer nahm schnell seine Mütze vom Kopfe und Sie grüßte den Ritter daher auf das holdseligste, indem Am Tisch erhielt er den Ehrenplatz neben der Tochter des ---------- 13 nicht] nichts H2 S. 27 Hauses; denn die Mutter war gestorben. Er wurde zwar bald Es war in der That keine Kleinigkeit, eine Hand neben Hunderttausend Schweine pferchen ---------- 12 reizend] und reizend H2 S. 28 Hunderttausend Ochsen brüllen 05 «Bravo! Bravo!» riefen alle Herren, mit den Händen Mit dem Ueberschreiten solchen Höhepunktes der Unterhaltung «Auch das kleine Paketchen, das im Wagen lag?» fragte «Auch dieses fehlt, es ist gar nichts da,» sagte der gute S. 29 Doch der Herr Graf fiel ihm eben so erschrocken in den
05 Der Wirt ging erstaunt zu den Punsch trinkenden Gästen,
Strapinski aber that einen guten Schlaf, und als er spät
25 Diese Leute waren nichts weniger, als lächerlich oder einfältig,
welche keinem müßigen Argwohn nachzuhängen pflegten,
Als Strapinski das Warenlager sah, das sich vor ihm
Mit ganz anderer Miene besah er sich die Stadt, als
16 heraus,] hinaus, H2
(S. 31-40) S. 31 Kämbel, zum Einhorn u. dgl. Die Zeit der Aufklärung und Endlich verkündete sich an den neuesten Häusern die Poesie •An jeder Straßenecke stand ein alter Turm mit reichem ---------- 18 andern] anderen E2-E3 S. 32 mit °dichtem, altem Epheu überwachsen war und so die kleine Alles dieses machte einen wunderbaren Eindruck auf Er geriet auf seiner Wanderung auch vor das Thor, und Da stand er nun, gleich dem •Jüngling am Scheidewege, ---------- 01 dichtem,] dichtem H2-E3 S. 33 gleichen Augenblicke rollte ein rasches Fuhrwerk heran; es war 10 Strapinski aber machte unwillkürlich ganze Wendung und Nun war der Geist in ihn gefahren. Mit jedem Tage ---------- 02 wehendem,] wehendem H2-E3 Bei °alledem °verlebte Strapinski, was er in seiner Dunkelheit 20 Schon hatte er mehr als ein Mal ein paar Gulden gewonnen ---------- 01 alledem] alldem H2-E3 S. 35 je wiederzukehren; dabei °wolle er seinen Verbindlichkeiten nachkommen, Wegen des sichtlichen Vorzuges und Wohlgefallens, dessen Er hatte von seinem Lotteriemann, genannt Bankier, In zehn Minuten war die Nachricht der ganzen Versammlung ---------- 01 wolle] wollte H2 Seltsam aufgeregt und bekümmert ging er hinweg, nahm Wie er so dahin schritt, hörte er rasche Tritte hinter sich, Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand «So hat sich denn das Schicksal und der Wille dieses ---------- 29 liebenswürdig,] liebenswürdig H2-E3 S. 37 thörichten Mädchens erfüllt! Schon als Schulkind behauptete Nun gab es große Bewegung; in wenig Tagen sollte Strapinski brachte zur Verlobung Brautgeschenke, welche S. 38 •Um diese Zeit geschah es, daß Herr Melchior Böhni in So fuhr denn der Goldacher Schlittenzug gegen die Ihnen folgten fünfzehn bis sechzehn Gefährte mit je einem S. 39 still und vergnügt. Als Galion seines °Fahrzeuges hatte er Aus einem duftig bereiften Walde heraus brach ein Wirrwarr Als beide Züge gleichzeitig auf dem Platze vor dem Gasthause ---------- 01 Fahrzeuges] Fahrzeugs E2-E3 S. 40 und ein großes Gedränge von Menschen und Pferden. Die Diese Schneiderwelt wußte sich gewandt aus dem Wirrwarr (S. 41-50) S. 41 Bald saßen beide Gesellschaften, jegliche auf ihrem Stockwerke, Die kündigten sich denn auch für die Goldacher an, Nun traten allmählich jene besagten Schneidergruppen Alle, die so erschienen, traten nach vollbrachter Darstellung S. 42 zu einem weiten Ring von Zuschauern, dessen innerer Raum 10 Die ganze Versammlung blickte lautlos gespannt auf die ---------- 28 hier] hie H2-E3 S. 43 Musik aufhörte und eine fürchterliche Stille wie ein stummer «Ei ei ei ei!» rief er mit weithin vernehmlicher Stimme 10 Zugleich gab er dem bleich und lächelnd dasitzenden Nun kamen die Seldwyler Leute alle herbei und drängten Als dieser sich endlich legte, war auch der Saal beinahe S. 44 Das Paar aber saß unbeweglich auf seinen Stühlen gleich Nettchen, weiß wie ein Marmor, wendete das Gesicht Da stand er langsam auf und ging mit schweren Schritten 10 Er ging durch die Goldacher und Seldwyler, welche die S. 45 bis zu seinem glorreichen •Einzug in die verwünschte Stadt nie •Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt, wenn ein Priester Unser Schneider aber •weinte bitterlich über sich, d. h. er S. 46 zeigten ihm mit °einem hellen Strahle das verlorene 20 Inzwischen erhob auch Nettchen sich von ihrem einsamen ---------- 01 einem] Einem H2-E3 S. 47 der sich ihr freundlich, demütig und lächelnd näherte und ihr Ohne zu antworten ging sie festen Schrittes voran nach 25 Warum Nettchen jenen Weg eingeschlagen, ob in der Verwirrung S. 48 Schlafwandel geschehen. Sie wußte jetzt noch nicht, daß Mütze 05 Diese beiden Thatsachen scheinen zu beweisen, daß nicht Und doch war gleichzeitig ihre Seele wie in tiefer, schwerer, Solche mehr geträumte als gedachte Fragen umfingen die 30 Nettchen hielt unwillkürlich die Pferde an, womit eine ---------- 25 dunklen] dunkeln E2 S. 49 fast unverkennbar darstellte und sie leise die Zügel festband, Ja, er war es. Der dunkelgrüne °Sammet seines Rockes 10 Als sich die einsame Schöne näher über ihn hinbeugte 25 Er blickte um sich und sah die Retterin vor sich stehen. Er stürzte vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Mantels 30 «Komm, fremder Mensch!» sagte sie mit unterdrückter ---------- 04 Sammet] Sammt H2-E3
S. 50 Sie winkte ihm, •in den Schlitten zu steigen, was er folgsam 05 Jenseits des Waldes, unfern der Straße, lag ein Bauernhof, Nach diesem Hofe fuhr Nettchen jetzt, von der Straße Gar vergnügt eilte die Bäuerin her, da sie Nettchen sofort (S. 51-62) S. 51 halbdunklen Stube einander gegenüber saßen, ein schwach Wenzel saß, den Kopf in die Hände gestützt, und wagte Als die Gevattersfrau den Trank auf den Tisch gesetzt «Ich verstehe schon, Ihr macht's gut so!» sagte die Frau «Trinken •Sie dies,» sagte Nettchen, die sich wieder gesetzt «Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine!» erwiderte er 30 «Es ist alles so gekommen, wie ich Ihnen jetzt der ---------- 09 halbe Viertelstunde] Viertelstunde H2 S. 52 ergangen. Er beteuerte besonders, wie er mehrmals habe Nettchen wurde mehrmals von einem Anflug von Lachen Hier stockte Wenzel und sein bleiches Gesicht wurde ganz rot. «Nun, fahren Sie fort!» sagte Nettchen, ihrerseits bleich 15 Da flammten Wenzels Augen groß und süß auf und er «Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wie Er war wieder still geworden und schaute düster sinnend ---------- 19 und,] und H2-E3 S. 53 Nach einer Weile sagte Nettchen, die ihn still betrachtet, «Haben Sie dergleichen oder ähnliche Streiche früher schon «Das habe ich mich in dieser •bitteren Nacht selbst schon «Was ist dies?» fragte Nettchen. 15 «Meine Mutter war, ehe sie sich verheiratet hatte, in ---------- 27 neu] nun H2
S. 54 und jene °leichtere Dienstleistungen thun könne. Das schien Hier stockte Wenzel Strapinski abermals und wußte sich Nettchen fragte: «Was sagte die Mutter, wer es kenne? Wenzel errötete und antwortete: «Sie sagte etwas Seltsames, 30 Auf Nettchens Frage, warum er denn doch von der ---------- 01 leichtere] leichten H2 S. 55 und war ein ganz hübscher roter Husar, obwohl vielleicht der Nettchen lächelte, als er dieses vor sich hin klagte und sie «Da Sie,» sagte sie plötzlich, aber dennoch mit °zögerndem, «Ach Gott,» erwiderte Wenzel, ganz rot werdend, «eh' 20 «Nun?» sagte Nettchen. «Nun,» fuhr er fort, «das war eben jene Frau, die ---------- 05 gekommen] vorbei H2 S. 56 mir, ich müßte dennoch mitgehen und fragte, ob ich es Plötzlich hielt der Sprecher, der in eine sanfte Erregung «Nun,» sagte Nettchen ihrerseits mit seltsamem Tone in 20 Wenzel aber streckte den Arm aus, zeigte mit dem Finger «Dieses habe ich auch schon erblickt. Wenn jenes Kind In der That hatten sich die zunächst den Schläfen und 30 Die allezeit etwas kokette Mutter Natur hatte hier eines S. 57 Nach kurzem Schweigen, indem ihre Brust sich zu heben So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief Doch war sie keineswegs so blöde, dieses Schicksal nicht «Nun wollen wir gerade nach Seldwyl gehen und den Dem wackern Wenzel wollte °dies nicht einleuchten. Er Allein Nettchen rief: «Keine Romane mehr! Wie Du bist, 25 Und wie gesagt, so gethan! Nachdem die Bäuerin herbeigerufen ---------- 16 dies] das H2 S. 58 In Seldwyla hielten sie vor dem Gasthause zum •Regenbogen, Doch ging Wenzel ohne Umsehen hindurch mit seiner Auch in der Stadt Goldach lief um die gleiche Zeit schon 15 In aller Frühe schon fuhr auch der Teich Bethesda nach 25 Es dauerte jedoch eine kleine Weile, bis Nettchen den ---------- 04 Entführung;] Entführung! H2 S. 59 Allein mit Ruhe und sanfter Festigkeit trat ihm Nettchen Der Amtsrat begann seine Arbeit mit der Erinnerung, Aber das Wort Ehre brachte nun doch die Tochter in S. 60 Es gab nun ein fruchtloses Hin- und Widerreden, Fast gleichzeitig drangen Wenzel und Böhni herein, welche So gab es denn einen Waffenstillstand und eine allgemeine In der Stadt, wo der Anwalt ein paar Worte verlauten Der erschreckte und gereizte Amtsrat schickte seinen Böhni ---------- 25 sollte] solle H2 S. 61 nächsten Tage fuhren eine Anzahl Männer mit einer ansehnlichen 15 Solche Einsprachen konnten bei der Volljährigkeit Nettchens Allein der Rechtsanwalt, der seine und Nettchens Sache Was die Ereignisse in Goldach betraf, so wies der S. 62 So endigte denn der Krieg mit einer Hochzeit, an welcher Das geschah denn auch, aber in ganz anderer Weise, als 20 Dabei wurde er rund und stattlich und sah °beinahe gar Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber zurück, sei ---------- 20 beinahe] beinah H2-E2
15 sagte ehrerbietig: «Der Herr mögen den Tischwein °nicht, befehlen
Sie vielleicht ein Glas guten Bordeaux, den ich bestens
empfehlen kann?»
indem er aus Gehorsam ja statt nein sagte, und alsobald
20 verfügte sich der Wagwirt persönlich in den Keller, um eine
ausgesuchte Flasche zu holen; denn es lag ihm alles daran,
daß man sagen könne, es sei etwas Rechtes im Ort zu haben.
Als der Gast von dem eingeschenkten Wein wiederum aus
bösem Gewissen ganz kleine Schlücklein nahm, lief der Wirt
25 voll Freuden in die Küche, schnalzte mit der Zunge und rief:
«Hol' mich der Teufel, der versteht's, der schlürft meinen
guten Wein auf die Zunge, wie man einen •Dukaten auf die
Goldwage legt!»
30 °behauptet, daß er's versteht!»
sehr langsam, weil der arme Schneider immer zimperlich und
12 Ja, ja,] Ja ja, H2-E2
15 nicht,] nicht; H2
30 behauptet,] ja behauptet, H2
lassen, die Speisen genugsam stehen ließ. Trotzdem war es
nicht der Rede wert, was der Gast bis jetzt zu sich genommen;
vielmehr begann der Hunger, der immerfort so gefährlich
05 gereizt wurde, nun den Schrecken zu überwinden, und als die
Pastete von Rebhühnern erschien, schlug die Stimmung des
Schneiders gleichzeitig um und ein fester Gedanke begann sich
in ihm zu bilden. •«Es ist jetzt einmal, wie es °ist,» sagte er
sich, von einem neuen Tröpflein Weines erwärmt und aufgestachelt;
10 «nun wäre ich ein Thor, wenn ich die kommende
Schande und Verfolgung ertragen wollte ohne mich dafür satt
gegessen zu haben! Also vorgesehen, weil es noch Zeit ist!
Das Türmchen, was sie da aufgestellt haben, dürfte leichtlich
die letzte Speise sein, daran will ich mich halten, komme was
15 da wolle! Was ich einmal im Leibe habe, kann mir kein
König wieder rauben!»
er in die leckere Pastete, ohne an ein Aufhören zu denken, so
daß sie in weniger als fünf Minuten zur Hälfte geschwunden
20 war und die Sache für die Abendherren sehr bedenklich zu
werden begann. Fleisch, Trüffeln, Klößchen, Boden, Deckel,
alles schlang er ohne Ansehen der Person hinunter, nur besorgt,
sein Ränzchen voll zu packen, ehe das Verhängnis
hereinbräche; dazu trank er den Wein in tüchtigen Zügen und
25 steckte große Brodbissen in den Mund; kurz es war eine so
hastig belebte Einfuhr, wie wenn bei aufsteigendem Gewitter
das Heu von der nahen Wiese gleich auf der Gabel in die
Scheune geflüchtet wird. Abermals lief der Wirt in die Küche
und rief: «Köchin! Er ißt die Pastete auf, während er den
30 Braten kaum berührt hat! Und den Bordeaux trinkt er in
halben Gläsern!»
gemeiner Kerl, so hätte er sich an den Braten gehalten!»
nicht ganz elegant an; aber so hab' ich, als ich zu meiner
05 Ausbildung reis'te, nur Generäle und •Kapitelsherren essen
sehen!»
und selbst ein handfestes Essen eingenommen in der Stube für
das untere Volk, und da er Eile hatte, ließ er bald wieder
10 anspannen. Die Angehörigen des Gasthofes zur Wage konnten
sich nun nicht länger enthalten und fragten, eh' es zu spät
wurde, den herrschaftlichen Kutscher geradezu, wer sein Herr
da oben sei, und wie er heiße? Der Kutscher, ein schalkhafter
und durchtriebener Kerl, versetzte: «Hat er es noch nicht selbst
15 gesagt?»
wohl, der spricht nicht viel in einem Tage; nun, es ist der
Graf Strapinski! Er wird aber heut' und vielleicht einige
Tage hier bleiben, denn er hat mir befohlen mit dem Wagen
20 vorauszufahren.»
zu rächen, das, wie er glaubte, statt ihm für seine
Gefälligkeit ein Wort des Dankes und des Abschiedes zu
sagen, sich ohne Umsehen in das Haus begeben hatte und den
25 Herren spielte. Seine •Eulenspiegelei aufs äußerste treibend,
bestieg er auch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich und
die Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhr aus der
Stadt, und alles ward so in der Ordnung befunden und dem
guten Schneider aufs •Kerbholz gebracht.
•Schlesier, wirklich Strapinski hieß, •Wenzel Strapinski, mochte
es nun ein Zufall sein, oder mochte der Schneider sein •Wanderbuch
Kutscher es zu sich genommen haben. Genug, als der Wirt
freudestrahlend und händereibend vor ihn hintrat und fragte,
ob der Herr Graf Strapinski zum Nachtisch ein Glas alten
05 Tokaier oder ein Glas Champagner nehme, und ihm meldete,
daß die Zimmer soeben zubereitet würden, da erblaßte der
arme Strapinski, verwirrte sich von neuem und erwiderte
gar nichts.
10 er abermals in den Keller eilte und aus besonderem Verschlage
nicht nur ein Fläschchen Tokaier, sondern auch ein Krügelchen
Bocksbeutel holte und eine Champagnerflasche schlechthin unter
den Arm nahm. Bald sah Strapinski einen kleinen Wald
von Gläsern vor sich, aus welchem der Champagnerkelch wie
15 eine Pappel emporragte. Das glänzte, klingelte und duftete
gar seltsam vor ihm, und was noch seltsamer war, der arme,
aber zierliche Mann griff nicht ungeschickt in das Wäldchen
hinein, und goß, als er sah, daß der Wirt etwas Rotwein
in seinen Champagner that, einige Tropfen Tokaier in den
20 seinigen. Inzwischen war der •Stadtschreiber und der Notar
gekommen, um den Kaffee zu trinken, und das tägliche Spielchen
um denselben zu machen; bald kam auch der ältere Sohn des
Hauses •°Häberlein und Co., der jüngere des Hauses •Pütschli-
Nievergelt,
der •Buchhalter einer großen Spinnerei, Herr •Melcher
25 Böhni; allein statt ihre Partie zu spielen, gingen sämtliche
Herren in weitem Bogen hinter dem polnischen Grafen herum,
die Hände in den °hinteren Rocktaschen, mit den Augen •blinzelnd
und auf den Stockzähnen lächelnd. Denn es waren diejenigen
Mitglieder guter Häuser, welche ihr Leben lang zu Hause
30 blieben, deren Verwandte und Genossen aber in aller Welt
saßen, weswegen sie selbst die Welt sattsam zu kennen glaubten.
27 hinteren] hintern H2-E3Kleider machen Leute
wußte man nicht, ob der Wirt den Grafen oder dieser jenen
bewirte; doch hatte der Wirt bis jetzt noch keine dummen
Streiche gemacht; er war vielmehr als ein ziemlich schlauer
05 Kopf bekannt, und so wurden denn die Kreise, welche die neugierigen
Herren um den Fremden zogen, immer kleiner, bis
sie sich zuletzt vertraulich an den gleichen Tisch setzten und sich
auf gewandte Weise zu dem Gelage aus dem Stegreif einluden,
indem sie ohne weiteres um eine Flasche zu würfeln
10 begannen.
dagegen galt es, einen Schluck trefflichen Kaffee zu nehmen
und dem •Polacken, wie sie den Schneider bereits heimlich
nannten, mit gutem Rauchzeug aufzuwarten, damit er immer
15 mehr röche, wo er eigentlich wäre.
anbieten? ich habe sie von meinem Bruder auf Cuba direkt
bekommen!» sagte der eine.
20 ist echter Tabak aus Smyrna, mein Compagnon hat ihn gesandt,»
rief der andere, indem er ein rotseidenes Beutelchen
hinschob.
dritte, «unser dortiger Prokurist selbst hat ihn für mich
25 besorgt!»
indem er schrie: «Wenn Sie etwas ganz Ausgezeichnetes wollen,
so versuchen Sie diese Pflanzercigarre aus Virginien, selbstgezogen,
selbstgemacht und durchaus nicht käuflich!»
in feine Duftwolken gehüllt, welche von der hervorbrechenden
Sonne lieblich versilbert wurden. Der Himmel entwölkte sich in
S. 22
trat ein; es hieß, der Genuß der •günstigen Stunde sei sich zu
gönnen, da das Jahr vielleicht nicht viele solcher Tage mehr
brächte; und es wurde beschlossen, auszufahren, den fröhlichen
05 •Amtsrat auf seinem Gute zu besuchen, der erst vor wenigen
Tagen gekeltert hatte, und seinen neuen Wein, den roten
Sauser, zu kosten. Pütschli-Nievergelt, Sohn, sandte nach
seinem Jagdwagen, und bald schlugen seine jungen Eisenschimmel
das Pflaster vor der Wage. Der Wirt selbst ließ
10 ebenfalls anspannen, man lud den Grafen zuvorkommend ein,
sich anzuschließen und die Gegend etwas kennen zu lernen.
daß er bei dieser Gelegenheit am besten sich unbemerkt entfernen
und seine Wanderung fortsetzen könne; den Schaden
15 sollten die thörichten und zudringlichen Herren an sich selbst
behalten. Er nahm daher die Einladung mit einigen höflichen
Worten an und bestieg mit dem jungen Pütschli den
Jagdwagen.
20 nachdem er auf seinem Dorfe schon als junger Bursch dem
Gutsherrn zuweilen Dienste geleistet, seine Militärzeit •bei den
Husaren abgedient hatte und demnach genugsam mit Pferden
umzugehen verstand. Wie daher sein Gefährte höflich fragte,
ob er vielleicht fahren möge, ergriff er sofort Zügel und
25 Peitsche und fuhr in schulgerechter Haltung in raschem Trabe
durch das Thor und auf der Landstraße dahin, so daß die
Herren einander ansahen und flüsterten: «Es ist richtig, es ist
jedenfalls ein Herr!»
30 erreicht, Strapinski fuhr in einem prächtigen Halbbogen auf
und ließ die feurigen Pferde aufs beste anprallen; man sprang
von den Wagen, der Amtsrat kam herbei und führte die
S. 23
einem halben Dutzend Caraffen voll karneolfarbigen Sausers
besetzt. Das heiße, gährende Getränk wurde vorerst geprüft,
belobt, und sodann fröhlich in Angriff genommen, während
05 der Hausherr im Hause die Kunde herum trug, es sei ein
vornehmer Graf da, ein Polacke, und eine feinere Bewirtung
vorbereitete.
um das versäumte Spiel nachzuholen, da in diesem Lande
10 keine Männer zusammen sein konnten, ohne zu spielen, wahrscheinlich
aus angeborenem Thätigkeitstriebe. Strapinski,
welcher die Teilnahme aus verschiedenen Gründen ablehnen
mußte, wurde eingeladen zuzusehen, denn das schien ihnen
immerhin der Mühe wert, da sie so viel Klugheit und Geistesgegenwart
15 bei den Karten zu entwickeln pflegten. Er mußte
sich •zwischen beide Partieen setzen, und sie legten es nun darauf
an, geistreich und gewandt zu spielen und den Gast zu gleicher
Zeit zu unterhalten. So saß er denn wie ein kränkelnder
Fürst, vor welchem die Hofleute ein angenehmes Schauspiel
20 aufführen und den Lauf der Welt darstellen. Sie erklärten
ihm die bedeutendsten Wendungen, Handstreiche und Ereignisse,
und wenn die eine Partei für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit
ausschließlich dem Spiele zuwenden mußte, so führte
die andere dafür um so angelegentlicher die Unterhaltung mit
25 dem Schneider. Der beste Gegenstand dünkte sie °hierfür Pferde,
Jagd und dergleichen; Strapinski wußte hier auch am besten
Bescheid, denn er brauchte nur die Redensarten hervorzuholen,
welche er einst in der Nähe von Offizieren und Gutsherren
gehört und die ihm schon dazumal ausnehmend wohl gefallen
30 hatten. Wenn er diese Redensarten auch nur sparsam, mit
einer gewissen Bescheidenheit und stets mit einem schwermütigen
Lächeln vorbrachte, so erreichte er damit nur eine größere
und etwa zur Seite traten, so sagten sie: «Es ist ein vollkommener
Junker!»
05 Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände und sagte zu sich selbst:
«Ich sehe es kommen, daß es wieder einen •Goldacher Putsch
giebt, ja, er ist gewissermaßen schon da! Es war aber auch
Zeit, denn schon sind's zwei Jahre seit dem letzten! Der Mann
dort hat mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht von
10 •Praga oder Ostrolenka her! Nun, ich werde mich hüten, den
Verlauf zu stören!»
der Herren gebüßt, und sie zogen nun vor, sich an den
alten Weinen des Amtsrates ein wenig abzukühlen, die jetzt
15 gebracht wurden; doch war die Abkühlung etwas leidenschaftlicher
Natur, indem sofort, um nicht in schnöden Müßiggang
zu verfallen, ein allgemeines Hazardspiel vorgeschlagen wurde.
Man mischte die Karten, jeder warf einen Brabanterthaler hin,
und als die Reihe an Strapinski war, konnte er nicht wohl
20 seinen Fingerhut auf den Tisch setzen. «Ich habe nicht ein
solches Geldstück,» sagte er errötend; aber schon hatte Melcher
Böhni, der ihn beobachtet, für ihn eingesetzt, ohne daß jemand
darauf acht gab, denn alle waren viel zu behaglich, als daß
sie auf den Argwohn geraten wären, jemand in der Welt
25 könne kein Geld haben. Im nächsten Augenblicke wurde dem
Schneider, der gewonnen hatte, der ganze Einsatz zugeschoben;
verwirrt ließ er das Geld liegen und Böhni besorgte für ihn
das zweite Spiel, welches ein anderer gewann, sowie das
dritte. Doch das vierte und fünfte gewann wiederum der
30 Polacke, der allmählich aufwachte und sich in die Sache fand.
Indem er sich still und ruhig verhielt, spielte er mit abwechselndem
Glücke; einmal kam er bis auf einen Thaler herunter,
S. 25
Spiel satt bekam, besaß er einige Louid'or, mehr als er jemals
in seinem Leben besessen, welche er, als er sah, daß jedermann
sein Geld einsteckte, ebenfalls zu sich nahm, nicht ohne Furcht,
05 daß alles ein Traum sei. Böhni, welcher ihn fortwährend
scharf betrachtete, war jetzt °im Klaren über ihn und dachte:
den Teufel fährt der in einem vierspännigen Wagen!
keine Gier nach dem Gelde gezeigt, sich überhaupt bescheiden
10 und nüchtern verhalten hatte, so war er nicht übel gegen ihn
gesinnt, sondern beschloß, die Sache durchaus gehen zu lassen.
im Freien erging, nahm jetzt seine Gedanken zusammen
und hielt den rechten Zeitpunkt einer geräuschlosen Beurlaubung
15 für gekommen. Er hatte ein artiges Reisegeld und nahm sich
vor, dem Wirt zur Wage von der nächsten Stadt aus sein
aufgedrungenes Mittagsmahl zu bezahlen. Also schlug er
seinen Radmantel malerisch um, drückte die Pelzmütze tiefer
in die Augen und schritt unter einer Reihe von hohen Akazien
20 in der Abendsonne langsam auf und nieder, das schöne Gelände
betrachtend, oder vielmehr den Weg erspähend, den er
einschlagen wollte. Er nahm sich mit seiner °gewölbten Stirne,
seinem lieblichen, aber schwermütigen Mundbärtchen, seinen
glänzenden schwarzen Locken, seinen dunkeln Augen, im Wehen
25 seines faltigen Mantels vortrefflich aus; der Abendschein und
das Säuseln der Bäume über ihm erhöhte den Eindruck, so
daß die Gesellschaft ihn von Ferne mit Aufmerksamkeit und
Wohlwollen betrachtete. Allmählich ging er immer etwas weiter
vom Hause hinweg, schritt durch ein Gebüsch, hinter welchem
30 ein Feldweg vorüber ging, und als er sich vor den Blicken
der Gesellschaft gedeckt sah, wollte er eben mit festem Schritt
ins Feld rücken, als um eine Ecke herum plötzlich der Amtsrat
22 gewölbten] bewölkten H2-E3
ein hübsches Fräulein, äußerst prächtig, etwas stutzerhaft gekleidet
und mit Schmuck reichlich verziert.
05 ich Sie erstens hier meinem Kinde vorstelle und zweitens, um
Sie zu bitten, daß Sie uns die Ehre erweisen möchten, einen
Bissen Abendbrot mit uns zu nehmen; die anderen Herren
sind bereits im Hause.»
10 machte ehrfurchtsvolle, ja furchtsame Verbeugungen, von Rot
übergossen. Denn eine neue Wendung war eingetreten, ein
Fräulein beschritt den Schauplatz der Ereignisse. Doch schadete
ihm seine Blödigkeit und übergroße Ehrerbietung °nicht bei der
Dame; im Gegenteil, die Schüchternheit, Demut und Ehrerbietung
15 eines so vornehmen und interessanten jungen Edelmanns
erschien ihr wahrhaft rührend, ja hinreißend. Da sieht
man, fuhr es ihr durch den Sinn, je nobler, desto bescheidener
und unverdorbener; merkt es euch, ihr Herren Wildfänge von
Goldach, die ihr vor °den jungen Mädchen kaum mehr den
20 Hut berührt!
sie auch lieblich errötete, und sprach sogleich hastig und schnell
und vieles mit ihm, wie es die Art behaglicher Kleinstädterinnen
ist, die sich den Fremden zeigen wollen. Strapinski hingegen
25 wandelte sich in kurzer Zeit um; während er bisher nichts gethan
hatte, um im geringsten in die Rolle einzugehen, die man
ihm aufbürdete, begann er nun unwillkürlich, etwas gesuchter
zu sprechen und mischte allerhand polnische Brocken in die
Rede, kurz, •das Schneiderblütchen fing in der Nähe des Frauenzimmers
30 an seine Sprünge zu machen und seinen Reiter davon
zu tragen.
19 den] fehlt H2
wieder melancholisch, da er bedachte, nun müsse er mit den andern
wieder in die Stadt zurückkehren oder gewaltsam in die
Nacht hinaus entrinnen, und da er ferner überlegte, wie vergänglich
05 das Glück sei, welches er jetzt genoß. Aber dennoch
empfand er dies Glück und sagte sich zum voraus: «Ach,
einmal wirst du doch in deinem Leben etwas vorgestellt und
neben einem solchen höheren Wesen gesessen haben.»
10 sich glänzen zu sehen, die von drei oder vier Armbändern
klirrte, und bei einem flüchtigen Seitenblick jedesmal einen
abenteuerlich °reizend frisierten Kopf, ein holdes Erröten, einen
vollen Augenaufschlag zu sehen. Denn er mochte thun oder
lassen, was er wollte, alles wurde als ungewöhnlich und nobel
15 ausgelegt und die Ungeschicklichkeit selbst als merkwürdige Unbefangenheit
liebenswürdig befunden von der jungen Dame,
welche sonst stundenlang über gesellschaftliche Verstöße zu plaudern
wußte. Da man guter Dinge war, sangen ein paar
Gäste •Lieder, die in den dreißiger Jahren Mode waren. Der
20 Graf wurde gebeten, ein polnisches Lied zu singen. Der Wein
überwand seine Schüchternheit endlich, obschon nicht seine Sorgen;
er hatte einst •einige Wochen im Polnischen gearbeitet und
wußte einige polnische Worte, sogar •ein Volksliedchen auswendig,
ohne ihres Inhaltes bewußt zu sein, gleich einem
25 Papagei. Also sang er mit edlem Wesen, mehr zaghaft als
laut und mit einer Stimme, welche wie von einem geheimen
Kummer leise zitterte, auf polnisch:
Von der Desna bis zur Weichsel,
30 Und Kathinka, dieses Saumensch,
Geht im Schmutz bis an die Knöchel!
Auf Volhyniens grünen Weiden,
Und Kathinka, ja Kathinka,
Glaubt, ich sei in sie verliebt!
klatschend, und Nettchen sagte gerührt: «Ach das Nationale ist
immer so schön!» Glücklicher Weise verlangte niemand die
Uebersetzung dieses Gesanges.
10 brach die Gesellschaft auf; der Schneider wurde wieder eingepackt
und sorgfältig nach Goldach zurückgebracht; vorher hatte
er versprechen müssen, nicht ohne Abschied davon zu reisen. Im
Gasthof zur Wage wurde noch ein Glas Punsch genommen;
jedoch Strapinski war erschöpft und verlangte nach dem Bette.
15 Der Wirt selbst führte ihn auf seine Zimmer, deren Stattlichkeit
er kaum mehr beachtete, obgleich er nur gewohnt war, in dürftigen
Herbergskammern zu schlafen. Er stand ohne alle und
jede Habseligkeit mitten auf einem schönen Teppich, als der Wirt
plötzlich den Mangel an Gepäck entdeckte und sich vor die Stirne
20 schlug. Dann lief er schnell hinaus, schellte, rief Kellner und
Hausknechte herbei, wortwechselte mit ihnen, kam wieder und
beteuerte: «Es ist richtig, Herr Graf, man hat vergessen, Ihr
Gepäck abzuladen! Auch das Notwendigste fehlt!»
25 Strapinski ängstlich, weil er an ein handgroßes Bündelein
dachte, welches er auf dem Sitze hatte liegen lassen und das
ein Schnupftuch, eine Haarbürste, einen Kamm, ein Büchschen
Pommade und einen Stengel Bartwichse enthielt.
30 Wirt erschrocken, weil er darunter etwas sehr Wichtiges vermutete.
«Man muß dem Kutscher sogleich einen Expressen
nachschicken,» rief er eifrig, «ich werde das besorgen!»
Arm und sagte bewegt: «Lassen Sie, es darf nicht sein! Man
muß meine Spur verlieren für einige Zeit,» setzte er hinzu,
selbst betreten über diese Erfindung.
erzählte ihnen den Fall und schloß mit dem Ausspruche, daß
der Graf unzweifelhaft ein Opfer politischer oder der Familienverfolgung
sein müsse; denn um eben diese Zeit wurden viele
Polen und andere Flüchtlinge wegen gewaltsamer Unternehmungen
10 des Landes verwiesen; andere wurden von fremden
Agenten beobachtet und umgarnt.
erwachte, sah er zunächst den prächtigen •Sonntagsschlafrock des
Wagwirtes über einen Stuhl gehängt, ferner ein Tischchen
15 mit allem möglichen Toilettenwerkzeug bedeckt. Sodann harrten
eine Anzahl Dienstboten, um Körbe und Koffer, angefüllt mit
feiner Wäsche, mit Kleidern, mit Cigarren, mit Büchern, mit
Stiefeln, mit Schuhen, mit Sporen, mit Reitpeitschen, mit
Pelzen, mit Mützen, mit Hüten, mit Socken, mit Strümpfen,
20 mit Pfeifen, mit Flöten und Geigen abzugeben von seiten der
gestrigen Freunde, mit der angelegentlichen Bitte, sich dieser
Bequemlichkeiten einstweilen bedienen zu wollen. Da sie die
Vormittagsstunden unabänderlich in ihren Geschäften verbrachten,
ließen sie ihre Besuche auf die Zeit nach Tisch ansagen.
sondern umsichtige Geschäftsmänner, mehr schlau als
vernagelt; allein da ihre wohlbesorgte Stadt klein war und es
ihnen manchmal langweilig darin vorkam, waren sie stets begierig
auf eine Abwechslung, ein Ereignis, einen Vorgang,
30 dem sie sich ohne Rückhalt hingaben. Der vierspännige Wagen,
das Aussteigen des Fremden, sein Mittagessen, die Aussage des
Kutschers waren so einfache und natürliche Dinge, daß die Goldacher,
ein Ereignis darauf aufbauten, wie auf einen Felsen.
ausbreitete, war seine erste Bewegung, daß er in seine Tasche
05 griff, um zu erfahren, ob er träume oder wache. Wenn sein
Fingerhut dort noch in seiner Einsamkeit weilte, so träumte er.
Aber nein, der Fingerhut wohnte traulich zwischen dem gewonnenen
Spielgelde und scheuerte sich freundschaftlich an den
Thalern; so ergab sich auch sein Gebieter wiederum in das
10 Ding und stieg von seinen Zimmern herunter auf die Straße,
um sich die Stadt zu besehen, in welcher es ihm so wohl erging.
Unter der Küchenthüre stand die Köchin, welche ihm
einen tiefen Knix machte und ihm mit neuem Wohlgefallen
nachsah; auf dem Flur und an der Hausthüre standen andere
15 Hausgeister, alle mit der Mütze in der Hand, und Strapinski
schritt mit gutem Anstand und doch bescheiden °heraus, seinen
Mantel sittsam zusammennehmend. Das Schicksal machte ihn
mit jeder Minute größer.
20 wenn er um Arbeit darin ausgegangen wäre. Dieselbe bestand
größtenteils aus schönen, festgebauten Häusern, welche
alle mit steinernen oder gemalten •Sinnbildern geziert und mit
einem Namen versehen waren. In diesen Benennungen war
die Sitte der Jahrhunderte deutlich zu erkennen. Das Mittelalter
25 spiegelte sich ab in den ältesten Häusern oder in den
Neubauten, welche an deren Stelle getreten, aber den alten
Namen behalten aus der Zeit der kriegerischen Schultheiße und
der Märchen. Da hieß es: zum Schwert, zum Eisenhut, zum
Harnisch, zur Armbrust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen,
zum goldenen Drachen, zur Linde, zum Pilgerstab,
zur Wasserfrau, zum Paradiesvogel, zum Granatbaum, zum
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Kleider machen Leute
der Philanthropie war deutlich zu lesen in den moralischen Begriffen,
welche in schönen Goldbuchstaben über den Hausthüren
erglänzten, wie: zur Eintracht, zur Redlichkeit, zur alten Unabhängigkeit,
05 zur neuen Unabhängigkeit, zur Bürgertugend a,
zur Bürgertugend b, zum Vertrauen, zur Liebe, zur Hoffnung,
zum Wiedersehen 1 und 2, zum Frohsinn, zur inneren Rechtlichkeit,
zur äußeren Rechtlichkeit, zum Landeswohl (ein reinliches
Häuschen, in welchem hinter einem Kanarienkäficht, ganz mit
10 Kresse behängt, eine freundliche alte Frau saß mit einer weißen
Zipfelhaube und Garn haspelte), zur Verfassung (unten haus'te
ein Böttcher, welcher eifrig und mit großem Geräusch kleine Eimer
und Fäßchen mit Reifen einfaßte und unablässig klopfte); ein
Haus hieß schauerlich: zum Tod! ein verwaschenes Gerippe erstreckte
15 sich von unten bis oben zwischen den Fenstern; hier
wohnte der Friedensrichter. Im Hause zur Geduld wohnte der
Schuldenschreiber, ein ausgehungertes Jammerbild, •da in dieser
Stadt keiner dem °andern etwas schuldig blieb.
20 der Fabrikanten, Bankiere und Spediteure und ihrer Nachahmer
in den wohlklingenden Namen: Rosenthal, Morgenthal, Sonnenberg,
Veilchenburg, Jugendgarten, Freudenberg, Henriettenthal,
zur Camellia, Wilhelminenburg u. s. w. Die an Frauennamen
gehängten Thäler und Burgen bedeuteten für den Kundigen
25 immer ein schönes Weibergut.
Uhrwerk, buntem Dach und zierlich vergoldeter Windfahne.
Diese Türme waren sorgfältig erhalten; denn die Goldacher
erfreuten sich der Vergangenheit und der Gegenwart und
30 thaten auch recht daran. Die ganze Herrlichkeit war aber von
der alten Ringmauer eingefaßt, welche, obwohl nichts mehr
nütze, dennoch zum Schmucke beibehalten wurde, da sie ganz
Stadt mit einem immergrünen Kranze umschloß.
Strapinski; er glaubte sich in einer anderen Welt zu befinden.
05 Denn als er die Aufschriften der Häuser las, dergleichen er
noch nicht gesehen, war er der Meinung, sie bezögen sich auf
die besonderen Geheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses und
es sehe hinter jeder Hausthüre wirklich so aus, wie die Ueberschrift
angab, so daß er in eine Art •moralisches Utopien hinein
10 geraten wäre. So war er geneigt zu glauben, die wunderliche
Aufnahme, welche er gefunden, hänge hiemit im Zusammenhang,
so daß z. B. das Sinnbild der Wage, in welcher er
wohnte, bedeute, daß dort das ungleiche Schicksal abgewogen
und ausgeglichen und zuweilen ein reisender Schneider zum
15 Grafen gemacht würde.
wie er nun so über das freie Feld hinblickte, meldete sich zum
letzten Male der pflichtgemäße Gedanke, seinen Weg unverweilt
fortzusetzen. Die Sonne schien, die Straße war schön, fest,
20 nicht zu trocken und auch nicht naß, zum Wandern wie gemacht.
Reisegeld hatte er nun auch, so daß er angenehm einkehren
konnte, wo er Lust dazu verspürte, und kein Hindernis
war zu erspähen.
25 auf einer wirklichen Kreuzstraße; aus dem Lindenkranze, welcher
die Stadt umgab, stiegen gastliche Rauchsäulen, die goldenen
Turmknöpfe funkelten lockend aus den Baumwipfeln; Glück,
Genuß und Verschuldung, ein geheimnisvolles Schicksal winkten
dort; von der Feldseite her aber glänzte die freie Ferne;
30 Arbeit, Entbehrung, Armut, Dunkelheit harrten dort, aber auch
ein gutes Gewissen und ein ruhiger Wandel; dieses fühlend,
wollte er denn auch entschlossen ins Feld abschwenken. Im
das Fräulein von gestern, welches mit °wehendem, •blauem
Schleier ganz allein in einem schmucken leichten Fuhrwerke saß,
ein schönes Pferd regierte und nach der Stadt fuhr. Sobald
05 Strapinski nur an seine Mütze griff und dieselbe demütig vor
seine Brust nahm in seiner Ueberraschung, verbeugte sich das
Mädchen rasch errötend gegen ihn, aber überaus freundlich,
und fuhr in großer Bewegung, das Pferd zum Galopp antreibend,
davon.
kehrte getrost nach der Stadt zurück. Noch an demselben Tage
galoppierte er auf dem besten Pferde der Stadt, an der Spitze
einer ganzen Reitergesellschaft, durch die Allee, welche um die
grüne Ringmauer führte, und die fallenden Blätter der •Linden
15 tanzten wie ein goldener Regen um sein verklärtes Haupt.
wandelte er sich, gleich einem •Regenbogen, der zusehends bunter
wird an der vorbrechenden Sonne. Er lernte in Stunden, in
Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt
20 hatte, wie das Farbenwesen im Regentropfen. Er beachtete
wohl die Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie während
des Beobachtens zu einem Neuen und Fremdartigen um; besonders
suchte er abzulauschen, was sie sich eigentlich unter
ihm dächten und was für ein Bild sie sich von ihm gemacht.
25 Dies Bild arbeitete er weiter aus nach seinem eigenen Geschmacke,
zur vergnüglichen Unterhaltung der einen, welche
gern etwas Neues sehen wollten, und zur Bewunderung der
anderen, besonders der Frauen, welche nach erbaulicher Anregung
dürsteten. So ward er rasch zum Helden eines artigen
30 Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll
arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immer noch das
Geheimnis •war.
S. 34
früher nie gekannt, eine schlaflose Nacht um die andere,
und es ist mit Tadel hervorzuheben, daß es eben so viel die
Furcht vor der Schande, als armer Schneider entdeckt zu
05 werden und dazustehen als das ehrliche Gewissen war, was
ihm den Schlaf raubte. Sein angeborenes Bedürfnis, etwas
Zierliches und Außergewöhnliches vorzustellen, wenn auch nur
in der Wahl der Kleider, hatte ihn in diesen Conflikt geführt
und brachte jetzt auch jene Furcht hervor, und sein Gewissen
10 war nur insoweit mächtig, daß er beständig den Vorsatz nährte,
bei guter Gelegenheit einen Grund zur Abreise zu finden und
dann durch •Lotteriespiel und dergleichen die Mittel zu gewinnen,
aus geheimnisvoller Ferne °zu vergüten, um was er die gastfreundlichen
Goldacher gebracht hatte. Er ließ sich auch schon
15 aus allen Städten, wo es Lotterieen oder Agenten derselben
gab, Lose kommen mit mehr oder weniger bescheidenem Einsatze,
und die daraus entstehende Correspondenz, der Empfang
der Briefe wurde wiederum als ein Zeichen wichtiger Beziehungen
und Verhältnisse vermerkt.
und dieselben sofort wieder zum Erwerb neuer Lose
verwendet, als er eines Tages von einem •fremden Collecteur,
der sich aber Bankier nannte, eine namhafte Summe empfing,
welche hinreichte, jenen Rettungsgedanken auszuführen. Er
25 war bereits nicht mehr erstaunt über sein Glück, das sich von
selbst zu verstehen schien, fühlte sich aber doch erleichtert und
besonders dem guten Wagwirt gegenüber beruhigt, welchen er
seines guten Essens wegen sehr wohl leiden mochte. Anstatt
aber kurz abzubinden, seine Schulden gradaus zu bezahlen und
30 abzureisen, gedachte er, wie er sich vorgenommen, eine kurze
Geschäftsreise vorzugeben, dann aber von irgend einer großen Stadt
aus zu melden, daß das unerbittliche Schicksal ihm verbiete,
01 verlebte] erlebte H2
13 zu] alles zu H2
ein gutes Andenken hinterlassen und seinem Schneiderberufe
sich aufs neue und mit mehr Umsicht und Glück widmen,
oder auch sonst einen anständigen Lebensweg erspähen. Am
05 liebsten wäre er freilich auch als Schneidermeister in Goldach
geblieben und hätte jetzt die Mittel gehabt, sich da ein bescheidenes
Auskommen zu begründen; allein es war klar, daß
er hier nur als Graf leben konnte.
10 er sich bei jeder Gelegenheit von Seite des schönen Nettchens
zu erfreuen hatte, waren schon manche Redensarten im Umlauf
und er hatte sogar bemerkt, daß das Fräulein hin und wieder
die Gräfin genannt wurde. Wie konnte er diesem Wesen nun
eine solche Entwicklung bereiten? Wie konnte er das Schicksal,
15 das ihn gewaltsam so erhöht hatte, so frevelhaft Lügen strafen
und sich selbst beschämen?
einen Wechsel bekommen, welchen er bei einem Goldacher Haus
einkassierte; diese Verrichtung bestärkte abermals die günstigen
20 Meinungen über seine Person und Verhältnisse, da die soliden
Handelsleute nicht im entferntesten an einen Lotterieverkehr
dachten. An demselben Tage nun begab sich Strapinski auf
einen stattlichen Ball, zu dem er geladen war. In tiefes,
einfaches Schwarz gekleidet erschien er und verkündete sogleich
25 den ihn Begrüßenden, daß er genötigt sei, zu verreisen.
bekannt und Nettchen, deren Anblick Strapinski suchte,
schien, wie erstarrt, seinen Blicken auszuweichen, bald rot, bald
blaß werdend. Dann tanzte sie mehrmals hinter einander mit
30 jungen Herren, setzte sich zerstreut und schnell atmend und schlug
eine Einladung des Polen, der endlich herangetreten war, mit
einer kurzen Verbeugung aus, ohne ihn anzusehen.
S. 36
seinen famosen Mantel um und schritt mit wehenden Locken
in einem Gartenwege auf und nieder. Es wurde ihm nun
klar, daß er eigentlich nur dieses Wesens halber so lange dageblieben
05 sei, daß die unbestimmte Hoffnung, doch wieder in
ihre Nähe zu kommen, ihn unbewußt belebte, daß aber der
ganze Handel eben eine Unmöglichkeit darstelle von der verzweifeltsten
Art.
10 leichte, doch unruhig bewegte. Nettchen ging an ihm vorüber
und schien, nach einigen ausgerufenen Worten zu urteilen, nach
ihrem Wagen zu suchen, obgleich derselbe auf der andern Seite
des Hauses stand und hier nur Winterkohlköpfe und eingewickelte
Rosenbäumchen den •Schlaf der Gerechten verträumten.
15 Dann kam sie wieder zurück und da er jetzt mit klopfendem
Herzen ihr im Wege stand und bittend die Hände nach ihr
ausstreckte, fiel sie ihm ohne weiteres um den Hals und fing
jämmerlich an zu weinen. Er bedeckte ihre glühenden Wangen
mit seinen fein duftenden dunklen Locken und •sein Mantel
20 umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens
wie mit schwarzen Adlersflügeln; es war ein wahrhaft schönes
Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu
tragen schien.
25 und gewann das Glück, das öfter den Unverständigen
hold ist. Nettchen eröffnete ihrem Vater noch in selbiger Nacht
beim Nachhausefahren, daß kein anderer als der Graf der
Ihrige sein werde; dieser erschien am Morgen in aller Frühe,
um bei dem Vater °liebenswürdig, schüchtern und melancholisch,
30 wie immer, um sie zu werben, und der Vater hielt folgende
Rede:
sie fortwährend nur einen •Italiener oder einen Polen, einen
großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen
Locken heiraten zu wollen, und nun haben wir die Bescherung!
05 Alle inländischen wohlmeinenden Anträge hat sie ausgeschlagen,
noch neulich mußte ich den gescheiten und tüchtigen Melchior
Böhni heimschicken, der noch große Geschäfte machen wird, und
sie hat ihn noch schrecklich verhöhnt, weil er nur ein rötliches
Backenbärtchen trägt und aus einem silbernen Döschen schnupft!
10 Nun, Gott sei Dank, ist ein polnischer Graf da aus wildester
Ferne! Nehmen Sie die •Gans, Herr Graf, und schicken Sie
mir dieselbe wieder, wenn sie in Ihrer Polackei friert und
einst unglücklich wird und heult! Ach, was würde die selige
Mutter für ein Entzücken genießen, wenn sie noch erlebt hätte,
15 daß das verzogene Kind eine Gräfin geworden •ist!»
rasch die Verlobung gefeiert werden, denn der Amtsrat behauptete,
daß der künftige Schwiegersohn sich in seinen Geschäften
und vorhabenden Reisen nicht durch Heiratssachen
20 dürfe aufhalten lassen, sondern diese durch die Beförderung
jener beschleunigen müsse.
ihn die Hälfte seines zeitlichen Vermögens kosteten; die andere
Hälfte verwandte er zu einem Feste, das er seiner Braut geben
25 wollte. Es war eben Fastnachtszeit und bei hellem Himmel
ein verspätetes glänzendes Winterwetter. Die Landstraßen
boten die prächtigste Schlittenbahn, wie sie nur selten entsteht
und sich hält, und Herr von Strapinski veranstaltete darum
eine •Schlittenfahrt und einen Ball in dem für solche Feste
30 beliebten stattlichen Gasthause, welches auf einer Hochebene mit
der schönsten Aussicht gelegen war, etwa zwei gute Stunden
entfernt und genau in der Mitte zwischen Goldach und Seldwyla.
der letzteren Stadt Geschäfte zu besorgen hatte und daher
einige Tage vor dem Winterfest in einem leichten Schlitten
dahin fuhr, seine beste Cigarre rauchend; und es geschah
05 ferner, daß die Seldwyler auf den gleichen Tag, wie die
Goldacher, auch eine Schlittenfahrt verabredeten, nach dem
gleichen Orte, und zwar eine kostümierte oder Maskenfahrt.
Mittagsstunde unter Schellenklang, Posthorntönen und
10 Peitschenknall durch die Straßen der Stadt, daß die Sinnbilder
der alten Häuser erstaunt herniedersahen, und zum Thore
hinaus. Im ersten Schlitten saß Strapinski mit seiner Braut,
in einem polnischen Ueberrock von •grünem Sammet, mit
Schnüren besetzt und schwer mit Pelz verbrämt und gefüttert.
15 Nettchen war ganz in weißes Pelzwerk gehüllt; blaue Schleier
schützten ihr Gesicht gegen die frische Luft und gegen den
Schneeglanz. Der Amtsrat war durch irgend ein plötzliches
Ereignis verhindert worden, mitzufahren; doch war es sein
Gespann und sein Schlitten, in welchem sie fuhren, ein vergoldetes
20 Frauenbild als Schlittenzierat vor sich, die •Fortuna
vorstellend; denn die Stadtwohnung des Amtsrates hieß zur
Fortuna.
Herren und einer Dame, alle geputzt und lebensfroh, aber
25 keines der Paare so schön und stattlich, wie das Brautpaar.
Die Schlitten trugen, wie die Meerschiffe ihre Galions, immer
das Sinnbild des Hauses, dem jeder angehörte, so daß das
Volk rief: «Seht, da kommt die •Tapferkeit! wie schön ist die
Tüchtigkeit! Die Verbesserlichkeit scheint neu lackiert zu sein und
30 die Sparsamkeit frisch vergoldet! Ah, der •Jakobsbrunnen und
der •Teich Bethesda!» Im Teiche Bethesda, welcher als bescheidener
Einspänner den Zug schloß, kutschierte Melchior Böhni
das Bild jenes jüdischen Männchens vor sich, welcher an
besagtem Teiche dreißig Jahre auf sein Heil gewartet. So
segelte denn das Geschwader im Sonnenscheine dahin und erschien
05 bald auf der weithin schimmernden Höhe, dem Ziele sich
nahend. Da ertönte gleichzeitig von der entgegengesetzten Seite
lustige Musik.
von bunten Farben und Gestalten und entwickelte sich zu
10 einem Schlittenzug, welcher hoch am weißen Feldrande sich auf
den blauen Himmel zeichnete und ebenfalls nach der Mitte der
Gegend hinglitt, von abenteuerlichem Anblick. Es schienen
meistens große •bäuerliche Lastschlitten zu sein, je zwei zusammen
gebunden, um absonderlichen Gebilden und Schaustellungen zur
15 Unterlage zu dienen. Auf dem vordersten Fuhrwerke ragte eine
kolossale Figur empor, die Göttin Fortuna vorstellend, welche
in den Aether hinaus zu fliegen schien. Es war eine riesenhafte
Strohpuppe voll schimmernden Flittergoldes, deren Gazegewänder
in der Luft flatterten. Auf dem zweiten Gefährte
20 aber fuhr ein ebenso riesenmäßiger •Ziegenbock einher, schwarz
und düster abstechend und mit gesenkten Hörnern der Fortuna
nachjagend. Hierauf folgte ein seltsames Gerüste, welches sich
als ein fünfzehn Schuh hohes Bügeleisen darstellte, dann eine
gewaltig schnappende Schere, welche mittelst einer Schnur auf-
25 und zugeklappt wurde und das •Himmelszelt für einen blau
seidenen Westenstoff anzusehen schien. Andere solche landläufige
Anspielungen auf das Schneiderwesen folgten noch und zu
Füßen aller dieser Gebilde saß auf den geräumigen, je von
vier Pferden gezogenen Schlitten die Seldwyler Gesellschaft in
30 buntester Tracht, mit lautem Gelächter und Gesang.
auffuhren, gab es demnach einen geräuschvollen Auftritt
Herrschaften von Goldach waren überrascht und erstaunt über
die abenteuerliche Begegnung; die Seldwyler dagegen stellten
sich vorerst gemütlich und freundschaftlich bescheiden. Ihr vorderster
05 Schlitten mit der Fortuna trug die Inschrift «Leute
machen Kleider» und so ergab es sich denn, daß die ganze
Gesellschaft lauter Schneidersleute von allen Nationen und aus
allen Zeitaltern darstellte. Es war gewissermaßen ein historisch-
ethnographischer Schneiderfestzug, welcher mit der umgekehrten
10 und ergänzenden Inschrift abschloß: «Kleider machen Leute!»
In dem letzten Schlitten mit dieser Ueberschrift saßen nämlich,
als das Werk der vorausgefahrenen heidnischen und christlichen
Nahtbeflissenen aller Art, ehrwürdige Kaiser und Könige,
Ratsherren und Stabsoffiziere, Prälaten und Stiftsdamen in
15 höchster Gravität.
zu ordnen und ließ die Goldacher Herren und Damen, das
Brautpaar an deren Spitze, bescheiden ins Haus spazieren, um
nachher die unteren Räume desselben, welche für sie bestellt
20 waren, zu besetzen, während jene die breite Treppe empor nach
dem großen Festsaale rauschten. Die Gesellschaft des Herren
Grafen fand dies Benehmen schicklich und ihre Ueberraschung
verwandelte sich in Heiterkeit und beifälliges Lächeln über die
unverwüstliche Laune der Seldwyler; nur der Graf selbst hegte
25 gar dunkle Empfindungen, die ihm nicht behagten, obgleich er
in der jetzigen Voreingenommenheit seiner Seele keinen bestimmten
Argwohn verspürte und nicht einmal bemerkt hatte,
woher die Leute gekommen waren. Melchior Böhni, der seinen
Teich Bethesda sorglich bei Seite gebracht hatte und sich aufmerksam
30 in der Nähe Strapinskis befand, nannte laut, daß
dieser es hören konnte, eine ganz andere Ortschaft als den
Ursprungsort des Maskenzuges. Kleider machen Leute
an den gedeckten Tafeln und gaben sich fröhlichen Gesprächen
und Scherzreden hin, in Erwartung weiterer Freuden.
05 als sie paarweise in den Tanzsaal hinüber schritten und dort
die Musiker schon ihre Geigen stimmten. Wie nun aber alles
im Kreise stand und sich zum Reihen ordnen wollte, erschien
eine Gesandtschaft der Seldwyler, welche das freundnachbarliche
Gesuch und Anerbieten vortrug, den Herren und Frauen von
10 Goldach einen Besuch abstatten zu dürfen und ihnen zum
Ergötzen einen Schautanz aufzuführen. Dieses Anerbieten
konnte nicht wohl zurückgewiesen werden; auch versprach man
sich von den lustigen Seldwylern einen tüchtigen Spaß und
setzte sich daher nach der Anordnung der besagten Gesandtschaft
15 in einem großen Halbring, in dessen Mitte Strapinski und
Nettchen glänzten gleich fürstlichen Sternen.
nach einander ein. Jede führte in zierlichem Gebärdenspiel
den Satz «Leute machen Kleider» und dessen Umkehrung durch,
20 indem sie erst mit Emsigkeit irgend ein stattliches Kleidungsstück,
einen Fürstenmantel, Priestertalar u. dergl. anzufertigen
schien und sodann eine dürftige Person damit bekleidete, welche
urplötzlich umgewandelt sich in höchstem Ansehen aufrichtete und
nach dem Takte der Musik feierlich einherging. Auch die
25 Tierfabel wurde in diesem Sinne in Scene gesetzt, da eine gewaltige
•Krähe erschien, die sich mit Pfauenfedern schmückte und
quakend umherhüpfte, ein •Wolf, der sich einen Schafspelz
zurecht schneiderte, schließlich ein •Esel, der eine furchtbare
Löwenhaut von Werg trug und sich heroisch damit drapierte,
30 wie mit einem •Carbonarimantel.
zurück und •machten allmählich so den Halbkreis der Goldacher
endlich leer ward. In diesem Augenblicke ging die Musik in
eine wehmütig ernste Weise über und zugleich beschritt eine
letzte Erscheinung den Kreis, dessen Augen sämtlich auf sie gerichtet
05 waren. Es war ein schlanker junger Mann in dunklem
Mantel, dunkeln schönen Haaren und mit einer polnischen
Mütze; es war niemand anders als der Graf Strapinski, wie
er an jenem Novembertag auf der Straße gewandert und den
verhängnisvollen Wagen bestiegen hatte.
Gestalt, welche feierlich schwermütig einige Gänge nach dem
Takte der Musik umher trat, dann in die Mitte des Ringes
sich begab, den Mantel auf den Boden breitete, sich schneidermäßig
darauf niedersetzte und anfing ein Bündel auszupacken.
15 Er zog einen beinahe fertigen Grafenrock hervor, ganz wie ihn
Strapinski in diesem Augenblicke trug, nähete mit großer Hast
und Geschicklichkeit Troddeln und Schnüre darauf und bügelte
ihn schulgerecht aus, indem er das scheinbar heiße Bügeleisen
mit nassen Fingern prüfte. Dann richtete er sich langsam auf,
20 zog seinen fadenscheinigen Rock aus und das Prachtkleid an,
nahm ein Spiegelchen, kämmte sich und vollendete seinen Anzug,
daß er endlich als das leibhafte Ebenbild des Grafen dastand.
Unversehens ging die Musik in eine rasche, mutige Weise über,
der Mann wickelte seine Siebensachen in den alten Mantel und
25 warf das Pack weit über die Köpfe der Anwesenden hinweg
in die Tiefe des Saales, als wollte er sich ewig von
seiner Vergangenheit trennen. Hierauf beging er als stolzer
Weltmann in stattlichen Tanzschritten den Kreis, °hier und
da sich vor den Anwesenden huldreich verbeugend, bis er
30 vor das Brautpaar gelangte. Plötzlich faßte er den Polen,
ungeheuer überrascht, fest ins Auge, stand als eine Säule
vor ihm still, während gleichzeitig wie auf Verabredung die
Blitz einfiel.
und reckte den Arm gegen den Unglücklichen aus, «sieh da den
05 Bruder Schlesier, den Wasserpolacken! Der mir aus der Arbeit
gelaufen ist, •weil er wegen einer kleinen Geschäftsschwankung
glaubte, es sei zu Ende mit mir. Nun es freut mich, daß es
Ihnen so lustig geht und Sie hier so fröhliche Fastnacht
halten! Stehen Sie in Arbeit zu Goldach?»
Grafensohn die Hand, welche dieser willenlos ergriff wie eine
feurige Eisenstange, während der •Doppelgänger rief: «Kommt
Freunde, seht hier unsern sanften Schneidergesellen, der wie
ein •Raphael aussieht und unsern Dienstmägden, auch der
15 Pfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein bißchen übergeschnappt
ist!»
sich um Strapinski und seinen ehemaligen Meister, indem sie
ersterem treuherzig die Hand schüttelten, daß er auf seinem
20 Stuhle schwankte und zitterte. Gleichzeitig setzte die Musik
wieder ein mit einem lebhaften Marsch; die Seldwyler, sowie
sie an dem Brautpaar vorüber waren, ordneten sich zum Abzuge
und marschierten unter Absingung eines wohl einstudierten
diabolischen •Lachchores aus dem Saale, während die Goldacher,
25 unter welchen Böhni die Erklärung des Mirakels blitzschnell zu
verbreiten gewußt hatte, durcheinander liefen und sich mit den
Seldwylern kreuzten, so daß es einen großen Tumult gab.
leer; wenige Leute standen an den Wänden und flüsterten verlegen
30 untereinander; ein paar junge Damen hielten sich in
einiger Entfernung von Nettchen, unschlüssig, ob sie sich derselben
nähern sollten oder nicht.
einem steinernen •egyptischen Königspaar, ganz still und einsam;
man glaubte den unabsehbaren glühenden Wüstensand zu fühlen.
05 langsam nach ihrem Bräutigam und sah ihn seltsam von der
Seite an.
hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große
Thränen aus denselben fielen.
Treppen bedeckten, hindurch wie ein Toter, der sich gespenstisch
von einem Jahrmarkt stiehlt, und sie ließen ihn seltsamer Weise
auch wie einen solchen passieren, indem sie ihm still auswichen
ohne zu lachen oder harte Worte nachzurufen. Er ging auch
15 zwischen den zur Abfahrt gerüsteten Schlitten und Pferden von
Goldach hindurch, indessen die Seldwyler sich in ihrem Quartiere
erst noch recht belustigten, und er wandelte halb unbewußt,
nur in der Meinung, nicht mehr nach Goldach zurückzukommen,
dieselbe Straße gegen Seldwyla hin, auf welcher er vor einigen
20 Monaten hergewandert war. Bald verschwand er in der Dunkelheit
des Waldes, durch welchen sich die Straße zog. Er
war barhäuptig, denn seine Polenmütze war im Fenstergesimse
des Tanzsaales liegen geblieben nebst den Handschuhen, und
so schritt er denn gesenkten Hauptes und die frierenden Hände
25 unter die gekreuzten Arme bergend vorwärts, während seine
Gedanken sich allmählich sammelten und zu einigem Erkennen
gelangten. Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne wurde,
war dasjenige einer ungeheuren Schande, gleich wie wenn er
ein wirklicher Mann von Rang und Ansehen gewesen und nun
30 infam geworden wäre durch Hereinbrechen irgend eines
verhängnisvollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühl aber
auf in eine Art Bewußtsein erlittenen Unrechtes; er hatte sich
ein Vergehen zu Schulden kommen lassen; soweit seine Gedanken
in die Kindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich,
daß er je wegen einer Lüge oder einer Täuschung gestraft oder
05 gescholten worden wäre, und nun war er ein Betrüger geworden
dadurch, daß die •Thorheit der Welt ihn in einem unbewachten
und so zu sagen wehrlosen Augenblicke überfallen
und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte. Er kam sich
wie ein Kind vor, welches ein anderes boshaftes Kind überredet
10 hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er haßte und
verachtete sich jetzt, aber er weinte auch über sich und seine
unglückliche Verirrung.
die Lehre seiner Kirche ohne Ueberzeugung verkündet, aber die
15 Güter seiner Pfründe mit Würde verzehrt; wenn ein dünkelvoller
Lehrer die Ehren und Vorteile eines hohen Lehramtes
inne hat und genießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaft
den mindesten Begriff zu haben und derselben auch nur den
kleinsten Vorschub zu leisten; wenn ein Künstler ohne Tugend,
20 mit leichtfertigem Thun und leerer Gaukelei sich in Mode bringt
und Brot und Ruhm der wahren Arbeit vorwegstiehlt; oder
wenn ein Schwindler, der einen großen Kaufmannsnamen
geerbt oder erschlichen hat, durch seine Thorheiten und
Gewissenlosigkeiten Tausende um ihre Ersparnisse und Notpfennige
25 bringt, so weinen alle diese nicht über sich, sondern erfreuen
sich ihres Wohlseins und bleiben nicht einen Abend ohne aufheiternde
Gesellschaft und gute Freunde.
fing solches plötzlich an, als nun seine Gedanken an der
30 schweren Kette, an der sie hingen, unversehens zu der verlassenen
Braut zurückkehrten und sich aus Scham vor der Unsichtbaren
zur Erde krümmten. Das Unglück und die Erniedrigung
Glück und machten aus dem unklar verliebten Irrgänger
einen verstoßenen Liebenden. Er streckte die Arme gegen die
kalt glänzenden Sterne empor und taumelte mehr, als er ging,
05 auf seiner Straße dahin, stand wieder still und schüttelte den
Kopf, als plötzlich ein roter Schein den Schnee um ihn her
erreichte und zugleich Schellenklang und Gelächter ertönte. Es
waren die Seldwyler, welche mit Fackeln nach Hause fuhren.
Schon näherten sich ihm die ersten Pferde mit ihren Nasen;
10 da raffte er sich auf, that einen gewaltigen Sprung über den
Straßenrand und duckte sich unter die vordersten Stämme des
Waldes. Der tolle Zug fuhr vorbei und verhallte endlich in
der dunklen Ferne, ohne daß der Flüchtling bemerkt worden
war; dieser aber, nachdem er eine gute Weile reglos gelauscht
15 hatte, von der Kälte wie von den erst genossenen feurigen Getränken
und seiner gramvollen Dummheit übermannt, streckte
unvermerkt seine Glieder aus und schlief ein auf dem knisternden
Schnee, während ein eiskalter Hauch von Osten heranzuwehen
begann.•
Sitze. Sie hatte dem abziehenden Geliebten gewissermaßen
aufmerksam nachgeschaut, saß länger als eine Stunde unbeweglich
da und stand dann auf, indem sie bitterlich zu weinen
begann und ratlos nach der Thüre ging. Zwei Freundinnen
25 gesellten sich nun zu ihr mit zweifelhaft tröstenden Worten;
sie bat dieselben, ihr Mantel, Tücher, Hut und dergleichen zu
verschaffen, in welche Dinge sie sich sodann stumm verhüllte,
die Augen mit dem Schleier heftig trocknend. Da man aber,
wenn man weint, fast immer zugleich auch die Nase schneuzen
30 muß, so sah sie sich doch genötigt, das Taschentuch zu nehmen
und that einen tüchtigen Schneuz, worauf sie stolz und zornig
um sich blickte. In dieses Blicken hinein geriet Melchior Böhni,
die Notwendigkeit darstellte, nunmehr einen Führer und Begleiter
nach dem väterlichen Hause zurück zu haben. Den Teich
Bethesda, sagte er, werde er hier im Gasthause zurücklassen
05 und dafür die Fortuna mit der verehrten Unglücklichen sicher
nach Goldach hingeleiten.
dem Hofe, wo der Schlitten mit den ungeduldigen wohlgefütterten
Pferden bereit stand, einer der letzten, welche dort
10 waren. Sie nahm rasch darin Platz, ergriff das Leitseil und
die Peitsche, und während der achtlose Böhni, mit glücklicher
Geschäftigkeit sich geberdend, dem Stallknecht, der die Pferde
gehalten, das Trinkgeld hervorsuchte, trieb sie unversehens die
Pferde an und fuhr auf die Landstraße hinaus in starken
15 Sätzen, welche sich bald in einen anhaltenden munteren Galopp
verwandelten. Und zwar ging es nicht nach der Heimat, sondern
auf der Seldwyler Straße hin. Erst als das leichtbeschwingte
Fahrzeug schon dem Blicke entschwunden war, entdeckte
Herr Böhni das Ereignis und lief in der Richtung gegen
20 Goldach mit Ho ho! und Haltrufen, sprang dann zurück und
jagte mit seinem eigenen Schlitten der entflohenen oder nach
seiner Meinung durch die Pferde entführten Schönen nach, bis
er am Thore der aufgeregten Stadt anlangte, in welcher das
Aergernis bereits alle Zungen beschäftigte.
oder mit Vorsatz, ist nicht sicher zu berichten. Zwei
Umstände mögen hier ein leises Licht gewähren. Einmal lagen
sonderbarer Weise die Pelzmütze und die Handschuhe Strapinskis,
welche auf dem Fenstersimse hinter dem Sitze des
30 Paares gelegen hatten, nun im Schlitten der Fortuna neben
Nettchen; wann und wie sie diese Gegenstände ergriffen, hatte
niemand beachtet und sie selbst wußte es nicht; es war wie im
und Handschuhe neben ihr lagen. Sodann sagte sie mehr als
ein Mal laut vor sich hin: «Ich muß noch zwei Worte mit
ihm sprechen, nur zwei Worte!»
ganz der Zufall die feurigen Pferde lenkte. Auch war es
seltsam, als die Fortuna in die Waldstraße gelangte, in welche
jetzt der helle Vollmond hinein schien, wie Nettchen den Lauf
der Pferde mäßigte und die Zügel fester anzog, so daß dieselben
10 beinahe nur im Schritt einhertanzten, während die
Lenkerin die traurigen aber dennoch scharfen Augen gespannt
auf den Weg heftete, ohne links und rechts den geringsten
auffälligen Gegenstand außer acht zu lassen.
15 unglücklicher Vergessenheit befangen; •was sind Glück und Leben!
von was hangen sie ab? Was sind wir selbst, daß wir wegen
einer lächerlichen Fastnachtslüge glücklich oder unglücklich werden?
Was haben wir verschuldet, wenn wir durch eine fröhliche
gläubige Zuneigung Schmach und Hoffnungslosigkeit einernten?
20 Wer sendet uns solche einfältige Truggestalten, die zerstörend
in unser Schicksal eingreifen, während sie sich selbst daran auflösen,
wie schwache Seifenblasen?
Seele Nettchens, als ihre Augen sich plötzlich auf einen länglichen
25 °dunklen Gegenstand richteten, welcher zur Seite der
Straße sich vom mondbeglänzten Schnee abhob. Es war der
langhingestreckte •Wenzel, dessen dunkles Haar sich mit dem
Schatten der Bäume vermischte, während sein schlanker Körper
deutlich im Lichte lag.
tiefe Stille über den Wald kam. Sie starrte unverwandt nach
dem dunklen Körper, bis derselbe sich ihrem hellsehenden Auge
ausstieg, die Pferde einen Augenblick beruhigend streichelte und
sich hierauf der Erscheinung vorsichtig, lautlos näherte.
05 nahm sich selbst auf dem nächtlichen Schnee schön und edel
aus; der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl
geschnürt und bekleidet, alles sagte noch in der Erstarrung,
am Rande des Unterganges, im Verlorensein: Kleider machen
Leute!
und ihn ganz sicher erkannte, sah sie auch sogleich die Gefahr,
in der sein Leben schwebte, und fürchtete, er möchte bereits erfroren
sein. Sie ergriff daher unbedenklich eine seiner Hände,
die kalt und fühllos schien. Alles andere vergessend rüttelte
15 sie den Aermsten und rief ihm seinen Taufnamen ins Ohr:
•«Wenzel! Wenzel!» Umsonst, er rührte sich nicht, sondern
atmete nur schwach und traurig. •Da fiel sie über ihn her,
fuhr mit der Hand über sein Gesicht, und gab ihm in der
Beängstigung Nasenstüber auf die erbleichte Nasenspitze. Dann
20 nahm sie, hiedurch auf einen guten Gedanken gebracht, Hände
voll Schnee und rieb ihm die Nase und das Gesicht und auch
die Finger tüchtig, soviel sie vermochte und bis sich der glücklich
Unglückliche erholte, erwachte und langsam seine Gestalt
in die Höhe richtete.
Sie hatte den •Schleier zurückgeschlagen; Wenzel erkannte jeden
Zug in ihrem weißen Gesicht, das ihn ansah mit großen Augen.
und rief: «Verzeih' mir! Verzeih' mir!»
zitternder Stimme, «ich werde mit Dir sprechen und Dich
fortschaffen!»
that; sie gab ihm Mütze und Handschuh, ebenso unwillkürlich,
wie sie dieselben mitgenommen hatte, ergriff Zügel und
Peitsche und fuhr vorwärts.
auf welchem eine Bäuerin haus'te, deren Mann unlängst
gestorben. Nettchen war die Patin eines ihrer Kinder, sowie
der Vater Amtsrat ihr Zinsherr. Noch neulich war die Frau
bei ihnen gewesen, um der Tochter Glück zu wünschen und allerlei
10 Rat zu holen, konnte aber zu dieser Stunde noch nichts von
dem Wandel der Dinge wissen.
ablenkend und mit einem kräftigen Peitschenknallen vor dem
Hause haltend. Es war noch Licht hinter den kleinen Fenstern;
15 denn die Bäuerin war wach und machte sich zu schaffen,
während Kinder und Gesinde längst schliefen. Sie öffnete das
Fenster und guckte verwundert heraus. «Ich bin's nur, wir
sind's!» rief Nettchen. «Wir haben uns verirrt wegen der
neuen obern Straße, die ich noch nie gefahren bin; macht uns
20 einen Kaffee, Frau Gevatterin, und laßt uns einen Augenblick
hineinkommen, ehe wir weiter fahren!»
erkannte, und bezeigte sich entzückt und eingeschüchtert zugleich,
auch das große Tier, den fremden Grafen zu sehen. In ihren
25 Augen waren Glück und Glanz dieser Welt in diesen zwei
Personen über ihre Schwelle getreten; unbestimmte Hoffnungen,
einen kleinen Teil daran, irgend einen bescheidenen Nutzen für
sich oder ihre Kinder zu gewinnen, belebten die gute Frau
und gaben ihr alle Behendigkeit, die jungen Herrschaftsleute zu
30 bedienen. Schnell hatte sie ein Knechtchen geweckt, die Pferde
zu halten, und bald hatte sie auch einen heißen Kaffee bereitet,
welchen sie jetzt hereinbrachte, wo Wenzel und Nettchen in derKleider machen Leute
flackerndes Lämpchen zwischen sich auf dem Tische.
nicht aufzublicken. Nettchen lehnte auf ihrem Stuhle zurück
05 und hielt die Augen fest verschlossen, aber ebenso den bitteren
schönen Mund, woran man sah, daß sie keineswegs schlief.
hatte, erhob sich Nettchen rasch und flüsterte ihr zu: «Laßt
uns jetzt eine °halbe Viertelstunde allein, legt Euch aufs Bett,
10 liebe Frau, wir haben uns ein bißchen gezankt und müssen
uns heute noch aussprechen, da hier gute Gelegenheit ist!»
und ließ die zwei bald allein.
15 hatte, «es wird Ihnen gesund sein!» Sie selbst berührte
nichts. Wenzel Strapinski, der leise zitterte, richtete sich auf,
nahm eine Tasse und trank sie aus, mehr weil sie es gesagt
hatte, als um sich zu erfrischen. Er blickte sie jetzt auch an
und als ihre Augen sich begegneten, und Nettchen forschend
20 die seinigen betrachtete, schüttelte sie das Haupt und sagte
dann: «Wer sind Sie? Was wollten Sie mit mir?»
traurig, «ich bin ein armer Narr, aber ich werde alles gut
machen und Ihnen Genugthuung geben und nicht lange mehr
25 am Leben sein!» Solche Worte sagte er so überzeugt und
ohne allen gemachten Ausdruck, daß Nettchens Augen unmerklich
aufblitzten. Dennoch wiederholte sie: «Ich wünsche zu
wissen, wer Sie eigentlich seien und woher Sie kommen und
wohin Sie wollen?»
Wahrheit gemäß erzählen will,» antwortete er und sagte ihr,
wer er sei und wie es ihm bei seinem Einzug in Goldach
fliehen wollen, schließlich aber durch ihr Erscheinen selbst gehindert
worden sei, wie in einem verhexten Traume.
05 heimgesucht; doch überwog der Ernst ihrer Angelegenheit zu
sehr, als daß es zum Ausbruch gekommen wäre. Sie fuhr
vielmehr fort zu fragen: «Und wohin gedachten Sie mit mir
zu gehen und was zu beginnen?» – «Ich weiß es kaum,»
erwiderte er; «ich hoffte auf weitere merkwürdige oder glückliche
10 Dinge; auch gedachte ich zuweilen des Todes in der Art,
daß ich mir denselben geben wolle, nachdem ich –»
werdend, indessen ihr Herz wunderlich klopfte.
rief:
es gekommen wäre! Ich wäre mit Dir in die weite Welt
gegangen °und, nachdem ich einige kurze Tage des Glückes mit
20 Dir gelebt, hätte ich Dir den Betrug gestanden und mir gleichzeitig
den Tod gegeben. Du °wärest zu Deinem Vater zurückgekehrt,
wo Du wohl aufgehoben gewesen wärest und mich
leicht vergessen hättest. Niemand brauchte darum zu wissen;
ich wäre spurlos verschollen. – Anstatt an der Sehnsucht
25 nach einem würdigen Dasein, nach einem gütigen Herzen, nach
Liebe lebenslang zu kranken,» fuhr er wehmütig fort, «wäre
ich einen Augenblick lang groß und glücklich gewesen und hoch
über allen, die weder glücklich noch unglücklich sind und doch
nie sterben wollen! O hätten Sie mich liegen gelassen im
30 kalten Schnee, ich wäre so ruhig eingeschlafen!»
vor sich hin.
21 wärest] wärst E2
nachdem das durch Wenzels Reden angefachte Schlagen ihres
Herzens sich etwas gelegt hatte:
05 begangen und fremde Menschen angelogen, die Ihnen nichts
zu leide gethan?»
gefragt und mich nicht erinnert, daß ich je ein Lügner gewesen
bin! Ein solches Abenteuer habe ich noch gar nie gemacht
10 oder erfahren! Ja, in jenen Tagen, als der Hang in mir
entstanden, etwas Ordentliches zu sein oder zu scheinen, in
halber Kindheit noch, habe ich mich selbst überwunden und
einem Glück entsagt, das mir beschieden schien!»
Diensten einer benachbarten Gutsherrin und mit derselben auf
Reisen und in großen Städten gewesen. Davon hatte sie eine
feinere Art bekommen, als die anderen Weiber unseres Dorfes,
und war wohl auch etwas eitel; denn sie kleidete sich und mich,
20 ihr einziges Kind, immer etwas zierlicher und gesuchter, als
es bei uns Sitte war. Der Vater, ein armer Schulmeister,
starb aber früh, und so blieb uns bei größter Armut keine
Aussicht auf glückliche Erlebnisse, von welchen die Mutter gerne
zu träumen pflegte. Vielmehr mußte sie sich harter Arbeit hingeben,
25 um uns zu ernähren, und damit das Liebste, was sie
hatte, etwas bessere Haltung und Kleidung, aufopfern. Unerwartet
sagte nun jene °neu verwitwete Gutsherrin, als ich etwa
sechszehn Jahre alt war, sie gehe mit ihrem Haushalt in die
Residenz für immer; die Mutter solle mich mitgeben, es sei
30 schade für mich in dem Dorfe ein Taglöhner oder Bauernknecht
zu werden, sie wolle mich etwas Feines lernen lassen, zu was
ich Lust habe, während ich in ihrem Hause leben und diese
nun das Herrlichste zu sein, was sich für uns ereignen mochte.
Alles wurde demgemäß verabredet und zubereitet, als die
Mutter nachdenklich und traurig wurde und mich eines Tages
05 plötzlich mit vielen Thränen bat, sie nicht zu verlassen, sondern
mit ihr arm zu bleiben; sie werde nicht alt werden, sagte sie,
und ich würde gewiß noch zu etwas Gutem gelangen, auch
wenn sie tot sei. Die Gutsherrin, der ich das betrübt hinterbrachte,
kam her und machte meiner Mutter Vorstellungen; aber
10 diese wurde jetzt ganz aufgeregt und rief einmal um das andere,
sie lasse sich ihr Kind nicht rauben; wer es kenne –»
nicht recht fortzuhelfen.
15 Warum fahren Sie nicht fort?»
was ich nicht recht verstand und was ich jedenfalls
seither nicht verspürt habe; sie meinte, wer das Kind kenne,
könne nicht mehr von ihm lassen, und wollte wohl damit
20 sagen, daß ich ein gutmütiger Junge gewesen sei oder etwas
dergleichen. Kurz, sie war so aufgeregt, daß ich trotz alles
Zuredens jener Dame entsagte und bei der Mutter blieb,
wofür sie mich doppelt lieb hatte, tausendmal mich um Verzeihung
bittend, daß sie mir vor dem Glücke sei. Als ich
25 aber nun auch etwas verdienen lernen sollte, stellte es sich
heraus, •daß nicht viel Anderes zu thun war, als daß ich zu
unserem Dorfschneider in die Lehre ging. Ich wollte nicht,
aber die Mutter weinte so sehr, daß ich mich ergab. Dies ist
die Geschichte.»
Mutter fort sei und °warum? erwiderte Wenzel: «Der •Militärdienst
rief mich weg. Ich wurde unter die Husaren gesteckt
31 warum?] wann? H2
dümmste im Regiment, jedenfalls der stillste. Nach einem Jahr
konnte ich endlich für ein paar Wochen Urlaub erhalten und
eilte nach Hause, meine gute Mutter zu sehen; aber sie war
05 eben gestorben. Da bin ich denn, •als meine Zeit °gekommen
war, einsam in die Welt gereis't und endlich hier in mein
Unglück geraten.»
ihn dabei aufmerksam betrachtete. Es war jetzt eine Zeitlang still
10 in der Stube; auf einmal schien ihr ein Gedanke •aufzutauchen.
spitzigem Wesen, «stets so wertgeschätzt und liebenswürdig
waren, so haben Sie ohne Zweifel auch jederzeit Ihre gehörigen
Liebschaften oder dergleichen gehabt und wohl schon mehr als
15 ein armes Frauenzimmer auf dem Gewissen – von mir nicht
zu reden?»
ich zu Ihnen kam, habe ich niemals auch nur die Fingerspitzen
eines Mädchens berührt, ausgenommen –»
mich mitnehmen und bilden lassen wollte, die hatte ein Kind,
ein Mädchen von sieben oder acht Jahren, ein seltsames heftiges
Kind und doch gut wie Zucker und schön wie ein Engel. Dem
25 hatte ich vielfach den Diener und Beschützer machen müssen
und es hatte sich an mich gewöhnt. Ich mußte es regelmäßig
nach dem entfernten Pfarrhof bringen, wo es bei dem alten
Pfarrer Unterricht genoß, und es von da wieder abholen.
Auch sonst mußte ich öfter mit ihm ins Freie, wenn sonst
30 niemand gerade mitgehen konnte. Dieses Kind nun, als ich
es zum letzten Mal im Abendschein über das Feld nach Hause
führte, fing von der bevorstehenden Abreise zu reden an, erklärte
11 zögerndem,] zögerndem H2-E3
thun wollte. Ich sagte, daß es nicht sein könne. Das Kind
fuhr aber fort, gar beweglich und dringlich zu bitten, indem
es mir am Arme hing und mich am Gehen hinderte, wie
05 Kinder zu thun pflegen, so daß ich mich bedachtlos wohl
etwas unwirsch frei machte. Da senkte das Mädchen sein
Haupt und suchte beschämt und traurig die Thränen zu unterdrücken,
die jetzt hervorbrachen, und es vermochte kaum das
Schluchzen zu bemeistern. Betroffen wollte ich das Kind begütigen,
10 allein nun wandte es sich zornig ab und entließ mich
in Ungnaden. Seitdem ist mir das schöne Kind immer im
Sinne geblieben und mein Herz hat immer an ihm gehangen,
obgleich ich nie wieder von ihm gehört habe –»
15 geraten war, wie erschreckt inne und starrte erbleichend seine
Gefährtin an.
gleicher Weise etwas blaß geworden, «was sehen Sie mich
so an?»
auf sie, wie wenn er einen Geist sähe, und rief:
zornig war, so hoben sich ganz so, wie jetzt bei Ihnen, die
schönen Haare um Stirne und Schläfe ein wenig aufwärts,
25 daß man sie sich bewegen sah, und so war es auch zuletzt
auf dem Felde in jenem Abendglanze.»
über der Stirne liegenden Locken Nettchens leise bewegt wie
von einem ins Gesicht wehenden Lufthauche.
ihrer Geheimnisse angewendet, um den schwierigen Handel zu
Ende zu führen.
begann, stand Nettchen auf, ging um den Tisch herum dem
Manne entgegen und fiel ihm um den Hals mit den Worten:
«Ich will Dich nicht verlassen! •Du bist mein, und ich will mit
05 Dir gehen trotz aller Welt!»
entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein
Schicksal auf sich nahm und Treue hielt.
10 selbst ein wenig lenken zu wollen; vielmehr faßte sie rasch und
keck neue Entschlüsse. Denn sie sagte zu dem guten Wenzel,
der in dem abermaligen Glückeswechsel verloren träumte:
Dortigen, die uns zu zerstören gedachten, zeigen, daß sie uns
15 erst recht vereinigt und glücklich gemacht haben!»
wünschte vielmehr in unbekannte Weiten zu ziehen und geheimnisvoll
romantisch dort zu leben in stillem Glücke, wie er sagte.
20 ein armer Wandersmann, will ich mich zu Dir bekennen und
in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum
Trotze Dein Weib sein. Wir wollen nach Seldwyla gehen
und dort durch Thätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns
verhöhnt haben, von uns abhängig machen!»
und von Wenzel, der anfing seine neue Stellung
einzunehmen, beschenkt worden war, fuhren sie ihres Weges
weiter. Wenzel führte jetzt die °Zügel. Nettchen lehnte sich so
zufrieden an ihn, als ob er eine Kirchensäule wäre. Denn
30 •des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und Nettchen war
just vor drei Tagen volljährig geworden und konnte dem
ihrigen folgen.
28 Zügel.] Zügel, H2
wo noch eine Zahl jener Schlittenfahrer beim Glase
saß. Als das Paar im Wirtssaale erschien, lief wie ein
Feuer die Rede herum: «Ha, da haben wir •eine °Entführung;
05 wir haben eine köstliche Geschichte eingeleitet!»
Braut, und nachdem sie in ihren Gemächern verschwunden
war, begab er sich in den •Wilden Mann, ein anderes gutes
Gasthaus, und schritt stolz durch die dort ebenfalls noch
10 hausenden Seldwyler hindurch in ein Zimmer, das er begehrte,
und überließ sie ihren erstaunten Beratungen, über welchen sie
sich das grimmigste Kopfweh anzutrinken genötigt waren.
das Wort «Entführung!» °herum.
Seldwyla, von dem aufgeregten Böhni und Nettchens betroffenem
Vater bestiegen. Fast wären sie in ihrer Eile ohne Anhalt
durch Seldwyla gefahren, als sie noch rechtzeitig den Schlitten
Fortuna wohlbehalten vor dem Gasthause stehen sahen und zu
20 ihrem Troste vermuteten, daß wenigstens die schönen Pferde
auch nicht weit sein würden. Sie ließen daher ausspannen,
als sich die Vermutung bestätigte und sie die Ankunft und den
Aufenthalt Nettchens vernahmen, und gingen gleichfalls in den
Regenbogen hinein.
Vater bitten ließ, sie auf ihrem Zimmer zu besuchen und dort
allein mit ihr zu sprechen. Auch sagte man, sie habe bereits
den besten •Rechtsanwalt der Stadt rufen lassen, welcher im
Laufe des Vormittags erscheinen werde. Der Amtsrat ging
30 etwas schweren Herzens zu seiner Tochter hinauf, überlegend, auf
welche Weise er das desperate Kind am besten aus der Verirrung
zurückführe, und war auf ein verzweifeltes Gebahren gefaßt.
14 herum.] kein Absatzende H2
entgegen. Sie dankte ihrem Vater mit Rührung für alle ihr
bewiesene Liebe und Güte und erklärte sodann in bestimmten
Sätzen: erstens sie wolle nach dem Vorgefallenen nicht mehr
05 in Goldach leben, wenigstens nicht die nächsten Jahre; zweitens
wünsche sie ihr bedeutendes mütterliches Erbe an sich zu
nehmen, welches der Vater ja schon lange für den Fall ihrer
Verheiratung bereit gehalten; drittens wolle sie den Wenzel
Strapinski heiraten, woran vor allem nichts zu ändern sei;
10 viertens wolle sie mit ihm in Seldwyla wohnen und ihm da
ein tüchtiges Geschäft gründen helfen, und fünftens und letztens
werde alles gut werden; denn sie habe sich überzeugt, daß er
ein guter Mensch sei und sie glücklich machen werde.
15 daß Nettchen ja wisse, wie sehr er schon gewünscht habe, ihr
Vermögen zur Begründung ihres wahren Glückes je eher je
lieber in ihre Hände legen zu können. Dann aber schilderte
er mit aller Bekümmernis, die ihn seit der ersten Kunde von
der schrecklichen Katastrophe erfüllte, das Unmögliche des Verhältnisses,
20 das sie festhalten wolle, und schließlich zeigte er das
große Mittel, durch welches sich der schwere Konflikt allein
würdig lösen lasse. Herr Melchior Böhni sei es, der bereit
sei, durch augenblickliches Einstehen mit seiner Person den
ganzen Handel niederzuschlagen und mit seinem unantastbaren
25 Namen ihre Ehre vor der Welt zu schützen und aufrecht zu
halten.
größere Aufregung. Sie rief, gerade die Ehre sei es, welche
ihr gebiete, den Herrn Böhni nicht zu heiraten, weil sie ihn
30 nicht leiden könne, dagegen dem armen Fremden getreu zu
bleiben, welchem sie ihr Wort gegeben habe, und den sie auch
leiden könne!
welches die standhafte Schöne endlich doch zum Thränenvergießen
•brachte.
05 auf der Treppe zusammengetroffen, und es drohte eine große
Verwirrung zu entstehen, als auch der Rechtsanwalt erschien,
ein dem Amtsrate wohlbekannter Mann, und vor der Hand
zur friedlichen Besonnenheit mahnte. Als er in wenigen vorläufigen
Worten vernahm, worum es sich handle, ordnete er
10 an, daß vor allem Wenzel sich in den Wilden Mann zurückziehe
und sich dort still halte, daß auch Herr Böhni sich nicht
einmische und fort gehe, daß Nettchen ihrerseits alle Formen
des bürgerlichen guten Tones wahre bis zum Austrag der
Sache und der Vater auf jede Ausübung von Zwang verzichte,
15 da die Freiheit der Tochter gesetzlich unbezweifelt sei.
Trennung für einige Stunden.
ließ von einem großen Vermögen, welches vielleicht nach Seldwyla
20 käme durch diese Geschichte, entstand nun ein großer Lärm.
Die Stimmung der Seldwyler schlug plötzlich um zu Gunsten
des Schneiders und seiner Verlobten, und sie beschlossen, die
Liebenden zu schützen mit Gut und Blut und in ihrer Stadt
Recht und Freiheit der Person zu wahren. Als daher das Gerücht
25 ging, die Schöne von Goldach °sollte mit Gewalt zurückgeführt
werden, rotteten sie sich zusammen, stellten bewaffnete
Schutz- und Ehrenwachen vor den Regenbogen und vor den
Wilden Mann und begingen überhaupt mit gewaltiger Lustbarkeit
eines ihrer großen Abenteuer, als merkwürdige Fortsetzung
30 des gestrigen.
nach Goldach um Hülfe. Der fuhr im Galopp hin, und am
Polizeimacht von dort herüber, um dem Amtsrat beizustehen,
und es gewann den Anschein, als ob Seldwyla ein
neues Troja werden sollte. Die Parteien standen sich drohend
05 gegenüber; der Stadttambour drehte bereits an seiner Spannschraube
und that einzelne Schläge mit dem rechten Schlägel.
Da kamen höhere Amtspersonen, geistliche und weltliche Herren
auf den Platz, und die Unterhandlungen, welche allseitig gepflogen
wurden, ergaben endlich, da Nettchen fest blieb und
10 Wenzel sich nicht einschüchtern ließ, aufgemuntert durch die
Seldwyler, daß das Aufgebot ihrer Ehe nach Sammlung aller
nötigen Schriften förmlich stattfinden und daß gewärtigt werden
solle, ob und welche gesetzliche Einsprachen während dieses Verfahrens
dagegen erhoben würden und mit welchem Erfolge.
einzig noch erhoben werden wegen der zweifelhaften Person
des falschen Grafen Wenzel Strapinski.
nun führte, ermittelte, daß den fremden jungen Mann weder
20 in seiner Heimat noch auf seinen bisherigen Fahrten auch nur
der Schatten eines bösen Leumunds getroffen habe und von
überall her nur gute und wohlwollende Zeugnisse für ihn einliefen.
Advokat nach, daß Wenzel sich eigentlich gar nie selbst für einen
25 Grafen ausgegeben, sondern daß ihm dieser Rang von andern
gewaltsam verliehen worden; daß er schriftlich auf allen vorhandenen
Belegstücken mit seinem wirklichen Namen Wenzel
Strapinski ohne jede Zuthat sich unterzeichnet hatte und somit
kein anderes Vergehen vorlag, als daß er eine thörichte Gastfreundschaft
30 genossen hatte, die ihm nicht gewährt worden wäre,
wenn er nicht in jenem Wagen angekommen wäre und jener
Kutscher nicht jenen schlechten Spaß gemacht hätte.
die Seldwyler mit ihren sogenannten Katzenköpfen gewaltig
schossen zum Verdrusse der Goldacher, welche den Geschützdonner
ganz gut hören konnten, da der Westwind wehte. Der Amtsrat
05 gab Nettchen ihr ganzes Gut heraus und sie sagte, Wenzel
müsse nun ein großer •Marchand-Tailleur und Tuchherr werden
in Seldwyla; denn da hieß der Tuchhändler noch Tuchherr,
der Eisenhändler Eisenherr u. s. w.
10 die Seldwyler geträumt hatten. Er war bescheiden, sparsam
und fleißig in seinem Geschäfte, welchem er einen großen Umfang
zu geben verstand. Er machte ihnen ihre veilchenfarbigen
oder weiß und blau gewürfelten Sammetwesten, ihre Ballfräcke
mit goldenen Knöpfen, ihre rot ausgeschlagenen Mäntel, und
15 alles waren sie ihm schuldig, aber nie zu lange Zeit. Denn
um neue, noch schönere Sachen zu erhalten, welche er kommen
oder anfertigen ließ, mußten sie ihm das frühere bezahlen, so
daß sie unter einander klagten, er presse ihnen das Blut unter
den Nägeln hervor.
nicht mehr träumerisch aus; er wurde von Jahr zu Jahr geschäftserfahrener
und gewandter und wußte in Verbindung mit
seinem bald versöhnten Schwiegervater, dem Amtsrat, so gute
Spekulationen zu machen, daß sich sein Vermögen verdoppelte
25 und er nach zehn oder zwölf Jahren mit ebenso vielen Kindern,
die inzwischen Nettchen, die Strapinska, geboren hatte, und mit
letzterer nach Goldach übersiedelte und daselbst ein angesehener
Mann ward.
30 es aus Undank oder aus Rache.
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