Stellenkommentar
11.01 [7.01]
Kleider machen Leute: Das Sprichwort geht zurück auf Quintilians rhetorische Empfehlung in Institutio oratoria VIII, 5: ‚vestis virum reddit‘, wörtlich: Die Kleidung macht den Mann. Der Titel faßt sowohl inhaltlich – es geht um Schneider, Kleider, verkleidetes und authentisches Mensch-Sein bzw. Mensch-Werdung – wie sprachlich – der Stil basiert weitgehend auf Sprichwörtern, Redensarten, Anspielungen, Phrasen, Parodie und Travestie, kurz: auf sprachlicher Ein-, Um- und Verkleidung – die Erzählung zusammen.
11.03 [9.04]
Goldach: Schon der Name des reichen Städtchens weist auf die Gold und Geld-Orientierung seiner Bewohner. Das Suffix „-ach“ bezeichnet einen Bach oder Fluß. Man kann aber auch den Klagelaut „Ach“ anklingen hören: Glanz und Elend einer Ansiedlung am kapitalistischen Strom der Zeit. – Wie von Keller in der Vorrede zum zweiten Band der Leute von Seldwyla für Seldwyla ironisch beschrieben 7.01-8.01 [66.02-22], wurden auch für Goldach in der Forschung mehrere reale Vorbilder angenommen, so Wädenswil am Zürichsee, Zürich, Winterthur sowie für den Namen Goldbach bei Zürich, Goldau in Schwyz und Goldach bei Rorschach am Bodensee.
11.04 [9.06]
Seldwyla: Auch für Seldwyla, dessen sprechenden Namen Keller in der Vorrede zum ersten Band der Leute von Seldwyla selbst erläutert 7.01-02 [61.02-03], wurden entgegen dem expliziten Autorwillen mehrere reale Orte als Vorbild behauptet, v. a. Zürich und für den Namen Seldenau / Selnau bei (heute in) Zürich.
11.06 [9.07-08]
Fingerhut ... Münze: Ein Schneiderfingerhut ist dicker als gewöhnliche Fingerhüte und oben offen (sonst wären die Finger auch nicht verstochen; vgl. 24.09 [21.11]), gleichsam einem Rad ähnelnd. – Der Fingerhut symbolisiert ein zentrales Thema der Erzählung, die Mehrdeutigkeit der Zeichen. Er ist Zeichen eines Zeichens: Als Ding repräsentiert er hier ein anderes Ding, die Münze, aber nicht in deren eigentlicher Funktion als ihrerseits Repräsentant eines Wertes, sondern in ihrer dinghaften Faktizität (als Gerät zur wärmenden Fingergymnastik). Dieses dingliche Sein der Münze wiederum spielt auf ein Sprichwort über ihre Funktion als Wert-Repräsentant an: ein Armer muß ‚die Münze mehrmals herumdrehen‘, bevor er sie für etwas ausgibt. – Während der Fingerhut hier noch als ungeeigneter Geld-Ersatz (vgl. auch 24.20 [21.22]) und Finger-Wärmer herhalten muß, wird er am nächsten Morgen zum Kriterium der Realität des gewonnenen Spielgeldes und des Lebens-Spiels überhaupt (vgl. 30.04-09 [27.01-06]) – was sich aber bald als Täuschung herausstellen wird. Seinem ‚eigentlichen‘ Zweck dient er nirgends. – Zur auch faktisch vieldeutigen Situation des Schweizer Münzwesens zur Zeit der Handlung vgl. den Kommentar zu 17.27 [15.10].
11.09-11 [9.11-14]
denn er hatte ... auswandern müssen: Dieser die Situation realistisch (ökonomisch) und kontextuell (aus dem Charakter des Seldwyler Wirtschaftens; vgl. die beiden Seldwyla-Vorreden) begründende Satz wurde im Manuskript erst nachträglich eingefügt. Vgl. die analoge Korrektur in 43.05-07 [39.26-28], die ev. andeutet, daß es sich um einen betrügerischen Konkurs handelte, da der Bankrotteur so schnell wieder auf die Beine kommt. – Der ‚vornehme‘ Begriff „Falliment“ für einen wenig vornehmen, gleichwohl in Seldwyla normalen Vorgang ist ein Beleg für die Seldwyler und Goldacher Vorliebe für Euphemismen und fremde, große Worte, besonders in der Geschäftswelt – vgl. auch „Accomodements“ 9.23 [68.07], „Comptoir“ 21.01 [18.09], „Compagnon“ 21.20 [18.28], „Collecteur“ / „Bankier“ 34.22 [31.16-17] und „Marchand-Tailleur“ 62.06 [58.02-03]. Der Erzähler imitiert diese Sprache hier ironisch. Der Stil selbst zeigt: Beschönigungen, Verschleierungen, Bemäntelungen des wahren Sachverhalts sind durchaus nicht nur Sache Strapinskis.
11.15 [ 9.17]
Fechten: Das aus der Handwerkersprache stammende Wort für ‚Betteln‘ weist auch auf eines der tragenden Metaphernsysteme der Erzählung: Stechen und Sich-Ausstechen, Kampf und Feldzug – vgl. die Hinweise auf Praga und Ostrolenka 24.10 [21.12], Wenzels Wille zum soldatischen Ins-Feld-Rücken aus der Deckung heraus 25.31-32 [22.34-35]) und Ins-Feld-Abschwenken 32.32 [29.30] und seine endgültige „ganze Wendung“ 33.10 [30.05], sein Militärdienst bei den Husaren 22.21-22 [19.28-29], Waffenstillstand 60.16 [56.14], der Beinahe-Trojanische Krieg in Seldwyla 61.03-04 [56.33-34] etc.
11.18 [7.20]
Radmantel: Keller selbst trug in jungen Jahren einen solchen weiten, bei Drehbewegungen quasi ein Rad schlagenden Umhang, wie Johann Conrad Werdmüllers Radierung von 1841 zeigt (Zentralbibliothek Zürich). Werdmüller (1819-1892) war ein enger Freund Kellers in dessen Münchner Jahren (1840-42). Zur Abbildung vgl. auch den Kommentar zu 22.06 [19.11-12].
11.19 [9.21-22]
romantisches Aussehen: Die richtige Gewichtung von Romantik und Realismus ist eines der Hauptthemen der Erzählung. Keller erweist sich dabei als dialektischer oder ‚poetischer Realist‘. Zwar dekretiert Nettchen am Ende „Keine Romane mehr!“ 57.19 [53.23], also keine Romanzen und abenteuerliche Liebesgeschichten, doch das Träumerische behält bis zum Schluß inmitten scheinbar nüchterner Bürgerlichkeit verborgen sein Recht. – Ein Vorbild für Strapinskis Aussehen könnte der Maler Rudolf Leemann gewesen sein, mit dem Keller in München (1840-42) engen Kontakt hatte: „du bist in Deinem schwarzen Habit und mit Deinen schwarzen Haaren die dunkle Gestalt, an die sich meine meisten Erinnerungen an eine graue, kummervolle Zeit knüpfen“ (an Leemann, 16.9.1845; GB 1, S. 232); vgl. auch Kellers Sonett Vier Jugendfreunde. II , das Leemanns „Schwarzaug“, „dunkle Locken“ und Traumleben hervorhebt [HKKA 9, 071.05-14].
12.12-13 [10.05]
nicht beredt: Das richtige Abwägen von Reden und Schweigen ist ein zentrales Thema der Erzählung. Die erste ‚Rede‘ des wortkargen Schneiders (vgl. auch 19.17 [16.28], 55.02 [51.08]), die der Autor ihm zuweist, ist zugleich sein „zweiter selbstthätiger Fehler“, daß er nämlich „aus Gehorsam ja statt nein sagte“ 17.19 [15.01]. Seine erste über ein Kleinstwort hinausgehende Äußerung ist ein polnisches Lied, dessen Verse er einst, „ohne ihres Inhalts bewußt zu sein, gleich einem Papagei“ gelernt hatte 27.24-25 [24.24-25]. Erst als Nettchen ihn zum Sprechen bringt 49.31 [46.13], 51.11 [47.24] und er sein Leben erzählt 51.30ff. [48.09ff.], finden die Liebenden aus den wechselseitigen romantischen Projektionen heraus und realistisch, „der Wahrheit gemäß“ (ebd.) zueinander.
12.17 [10.09]
Reisewagen: Der Wagen – als Kutsche oder Schlitten – ist als eines der Leitmotive der Erzählung komplementär zum Wandern und (Selbst-)Gehen. Auf der im poetischen Produktionsprozeß (wie in der Traumarbeit) gewiß nicht bedeutungslosen Klangebene ergibt sich eine Assoziation mit den weiteren fundamentalen Bildsystemen der Waage – als Gasthaus und Schicksalswaage – und dem Wagen – als Wagnis, Mut und Überwindung der Ängstlichkeit.
12.18-20 [10.10-12]
Basel ... Ostschweiz: Nur hier in der gesamten Sammlung der Leute von Seldwyla findet sich eine geographische Verortung des Geschehens. Dadurch werden Seldwyla und Goldach vom Autor selbst irgendwo in der Nähe Zürichs situiert. Vgl. auch die ebenso ungewöhnlichen historischen Zeitangaben in 24.10 [21.12] und 27.19 [24.18-19].
12.19 [10.11-12]
einem fremden Grafen: Die Schweiz besitzt zwar bis heute mächtige Patrizierfamilien, jedoch keinen Adel im herkömmlichen Sinn, weshalb ein Graf hier zwangsläufig ein Ausländer ist. Die Kellerforschung hat hier eine Reminiszenz an den polnischen Grafen Sobansky, der 1835 die Kyburg bei Winterthur in der Ostschweiz erwarb, vermutet (vgl. [S. 112]).
13.17 [11.07]
seltsame: Im Brief an Julius Rodenberg vom 22.7.1882 wehrte sich Keller gegen eine Stilkritik des Literaturwissenschaftlers Otto Brahm mit einem seiner seltenen Exkurse über das eigene Schreiben. Brahm hatte Kellers „Vorliebe für die Adjektive ‚seltsam‘ und ‚wunderlich‘“ hervorgehoben. Keller hielt dagegen, daß „dieselbe erstens oberdeutsches Gemeingut ist und zweitens, wo sie zu sehr hervortreten sollte, von Vater Goethe her angelesen ist, welcher mit der Vorliebe für die beiden Wörtchen schon vor hundert Jahren voranging oder wenigstens vor 80-90 Jahren. Die Norddeutschen brauchen dafür immer das Wort ‚sonderbar‘ und etwa einmal ‚merkwürdig‘, und beide letztere Ausdrücke dienen uns eben nicht so gut wie jenes ‚seltsam‘ und ‚wunderlich‘ “ (GB 3.2, S. 397). In Kleider machen Leute finden sich „seltsam“ und „wunderlich“ 14 mal, „sonderbar“ und „merkwürdig“ 4 mal.
13.20 [11.11]
Der Herr: Der Protagonist wird erst viel später namentlich eingeführt 19.18/31 [16.28-29 / 17.08]. Bis dahin dient die im 19. Jahrhundert noch weit mehr als heute Rang und Respekt ausdrückende Bezeichnung „Herr“ als Platzhalter. Dies ist der Beginn einer unfreiwilligen Titel-Karriere des Helden, in der er von den Goldachern zum Abgott gemacht wird – über den „großen Herren“ 17.04 [14.22] und „Herrn von großem Hause“ 17.09 [14.26-27], den „Grafen Strapinski“ 19.18 [16.28-29], „Herr Graf Strapinski“ 20.04 [17.13] und „Herrn von Strapinski“ 37.28 [34.20-21] bis zum Junker 24.03 [21.05], Fürsten (vgl. 23.19 [20.23], 41.16 [38.05]) und König (vgl. 44.02 [40.21]). Der eigentliche, individuelle Name des Helden, sein Taufname, wird ihm erst danach von Nettchen gleichsam verliehen (vgl. die Erläuterung zu 49.16 [45.10]) und dominiert von da an.
13.23 [11.14]
In’s drei Teufels Namen!: In Analogie zur göttlichen Dreifaltigkeit gebildeter Ausruf. Vgl. die weiteren Teufels-Anspielungen „Ei der Tausend!“ (14.16 [12.04]; ‚Tausend‘ hier verhüllend für ‚Teufel‘); „der Kellner, den der Teufel beständig umhertrieb“ (15.27-28 [13.14-15]), „Zum Teufel“ (16.14 [13.33-34]), „Hol mich der Teufel!“ (17.26 [15.08]), „den Teufel fährt der ...“ (25.07 [22.07-08]). – Komplementär finden sich auch häufig Anrufungen Gottes: „in Gottes Namen“ (16.23 [14.09]), „Gelobt sei Jesus Christ!“ (17.05-06, 17.29 [14.23, 15.11]), „Gott sei Dank“ (37.10 [34.01]), „Ach Gott“ (55.17 [51.24]). Als sinnentleerte Versatzstücke zeigen sie Gedankenlosigkeit und Konventionalität, als ungewollt bedeutungsvoll aber auch volkstümlich magisches Denken und naiven Beschwörungsglauben (vgl. auch den „verwünschten Saal“ 16.19-20 [14.05] und den „verhexten Traum“ 52.03 [48.14]). Strapinski wird dabei in Goldach geradezu zum Erlöser von der Trivialität des Alltags (vgl. sein „verklärtes Haupt“ 33.15 [30.11]; „Nun war der Geist in ihn gefahren“ 33.16 [30.12]), bevor die „verwünschte Stadt“ Seldwyla (45.01 [41.20-21]) in „diabolischem Lachchor“ das „Mirakel“ (43.24-25 [40.10-12]) entlarvt und er beinahe wirklich zum „Märtyrer seines Mantels“ (12.13-14 [10.06]) wird. Vgl. aber auch die traditionelle Verbindung zwischen Schneider und Teufel (vgl. [S. 106]) und den Kommentar zu 41.32-42.01 [38.22-23].
14.20 [12.08-09]
mit Schnepfen gefälschte Rebhuhnpastete: Schnepfen- galt gegenüber Rebhuhnfleisch als das bessere; die Fälschung geht somit auf eigene Kosten, eine Kritik daran ist nicht zu erwarten.
16.03-08 [13.23-28]
Dort lehnte er sich ... ein wenig verweilte: Zur ursprünglichen Fassung der Stelle und Kellers Korrektur vgl. [S. 150] (Angaben zu Kellers Korrekturen beziehen sich hier und im folgenden auf das Manuskript H2).
17.09-10 [14.27-28]
darauf wollt’ ich schwören, wenn es nicht verboten wäre!: Keller hatte hier zuerst geschrieben „darauf wollt’ ich Gift nehmen!“ – Christus fordert in der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.‘ Ich aber sage euch, daß ihr überhaupt nicht schwören sollt, [...] Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel.“ (Matth. 5,33-37) Die von Jesus postulierte absolut verläßliche soziale Redeordnung im Sinne von „Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein“ (Jak. 5,12), die Lüge und Zweideutigkeit ausschließt und jeden Schwur überflüssig macht, ist ein zentrales Thema von Kleider machen Leute. Strapinski folgt dem Postulat von Anfang an mehr als die Goldacher und Seldwyler. Er ist jedoch aus Sicht des Erzählers auch nicht schuldlos, denn implizit schwingt eine Erweiterung der biblischen Forderung mit: ‚Auch was darunter ist (das Schweigen in gewissen Situationen), ist von Übel‘.
17.27 [15.10]
Dukaten: Eine 1284 erstmals ausgegebene, ab dem 15. Jahrhundert in ganz Europa verbreitete, ursprünglich venetianische Goldmünze hohen Werts, in der Habsburger Monarchie bis ins 19. Jahrhundert geprägt. – Das Münzwesen der Schweiz wurde erst 1851 mit der Einführung von Franken und Rappen vereinheitlicht. Bis dahin liefen neben über 50 kantonalen und städtischen Währungen auch viele ausländische Münzen um. Der 24.18 [21.21] erwähnte Brabantertaler, auch Kronentaler genannt, ist eine vor allem in den Niederlanden (Brabant) und Österreich von 1755 bis 1857 gebrauchte Münze hohen Wertes. Der 24.32 [21.35] genannte Taler ist entweder ebenfalls ein solcher oder ein Reichstaler: die erstmals 1566 ausgegebene, im Deutschen Reich lange Zeit wichtigsten Münze, oder auch ein Zürcher oder anderer lokaler Schweizer Taler. Der Louisd’or (25.02 [22.02]) ist eine in Frankreich 1640 unter der Regentschaft von Louis XIII eingeführte und bis 1793 geprägte hohe Münze aus Gold, die in Zürich (bis 1851, im Wert von zehn Gulden) und andernorts im deutschen Sprachgebiet gebräuchlich war. Der Gulden (34.20 [31.14]) ist die neben dem Reichstaler wichtigste deutsche, im 19. Jahrhundert vor allem in Süddeutschland und Österreich gebrauchte Münze; auch viele Schweizer Kantone prägten eigene Gulden, in Zürich „Böcke“ genannt. Der Stüber (62.29 [58.27]), eine ursprünglich auch der niederländischen Stadt Stuiver stammende, in deutschen Nachprägungen häufig imitierte Münze von geringem Wert war bis Anfang des 19. Jahrhunderts v. a. in Nordwestdeutschland in Gebrauch. Weitere umlaufende Kleinmünzen waren die in der Vorrede zum ersten Band der Leute von Seldwyla erwähnten Pfennige und Kreuzer sowie die in anderen Seldwyler Erzählungen vorkommenden Batzen, Francs, Franken und Heller.
18.08-28 [15.22-16.07]
es ist jetzt einmal, wie es ist ...: Zu Kellers Stil in dieser Passage vgl. [S. 160].
19.05 [16.16]
Kapitelsherren: Zuerst hatte Keller „adeliche Herren“ geschrieben; die Korrektur vervollständigt die drei Mächte einer traditionellen Gesellschaft, die den Standard einer Kultur setzen und sich auch drüber hinwegsetzen können: Geistlichkeit, Militär und nun Strapinski als Vertreter des Adels. Vgl. auch 40.13-14 [37.02-04].
19.25 [17.01]
Eulenspiegelei: Nach dem satirischen niedersächsischen Volksbuch Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel ... (etwa 1510/11 erstmals gedruckt) wurden lustige Streiche auf Kosten anderer, aber auch zu ihrem unfreiwilligen Erkenntnisgewinn bald als Eulenspiegeleien sprichwörtlich. Die heute besonders bekannte Bearbeitung von Charles de Coster La Légende d’Ulenspiegel erschien 1868/69, gerade zur Entstehungszeit von Kleider machen Leute. Der schadenfrohe, andere bewußt übers Ohr hauende Schelm ist bei Keller nicht Strapinski, der vielmehr geradezu als Opfer der Eulenspiegelei des Kutschers erscheint. Andererseits hält er, wenn auch unbeabsichtigt, wie Till Eulenspiegel den Spießbürgern einen entlarvenden Spiegel vor – ein Beispiel für Kellers komplexen Umgang mit Vorlagen und Andeutungen.
19.29 [17.05]
Kerbholz: Stilistisches Spiel mit dem ursprünglich-konkreten Sinn des Wortes – ein Holz im Wirtshaus, auf dem unbezahlte Zechen eingekerbt wurden – und dem metaphorisch-moralischen ‚Etwas-auf-dem-Kerbholz-Haben‘.
19.30 [17.07]
Nun mußte es sich aber fügen: Zur Bedeutung von Fügung und Schicksal vgl. [S. 147].
19.31 [17.08]
Schlesier: Schlesien ist das in der Geschichte häufig den Besitzer wechselnde Grenzland zwischen Polen, Böhmen und Sachsen. Strapinskis ‚Polentum‘ ist also nicht einfach eine Lüge, sondern eine Verschiebung auf den benachbarten Bereich, eine Metonymie.
19.31 [17.08]
Wenzel Strapinski: Der deutsche Vorname Wenzel geht zurück auf den böhmischen Märtyrer und Nationalheiligen des 10. Jahrhunderts St. Wenzeslaus, der in Böhmen das Christentum durchsetzte (tschech. Václav, poln. Wazlaw, wörtlich: „der Ruhmgekrönte“, auch: „Ruhm durch das Kreuz“). Seine Attribute sind Schwert, Lanze und Schild mit schwarzem Adler (vgl. 36.21 [33.14]). Daneben kann man an die dem Buben entsprechende Spielkarte des Wenzels im deutschen Kartenspiel denken, der alle anderen Karten sticht (vgl. Kaiser 1981, S. 347), sowie an den Ausdruck „scharwenzeln“ für: sich herumtreiben oder sich einschmeicheln. Ein „Scharwenzel“ ist ein Mensch, der gegen jedermann dienstbereit ist und sich zu allem brauchen läßt. – Der polnische Nachname „Strapinski“ erinnert an die im süddeutschen Sprachraum umgangssprachlichen Begriffe „Strapanzer“ für: Herumtreiber, Landstreicher, Vagabund und „strabeln / strappeln“ für: krabbeln, sich rühren, emsig arbeiten. Zudem kann man an die Namen von Polen denken, mit denen Keller im Rahmen seiner Arbeit im Unterstützungskomitee für Polen in Berührung kam: Szawelski, Sobansky, Stroynowski, Saminski (vgl. [S. 112-114]). – Keller fügte den Namen erst nachträglich, wohl im Zusammenhang mit der Korrektur 49.16 [45.32] ein.
19.32 [17.10]
Wanderbuch: Handwerker-Gesellen befanden sich, solange sie nicht Meister waren, im 19. Jahrhundert noch meist auf Wanderschaft. Sie hatten ein Wanderbuch mitzuführen, in dem Gutachten und Empfehlungen der wechselnden Arbeitgeber und polizeiliche Führungszeugnisse eingetragen wurden. Es ist also gleichsam seine offizielle Biographie, die Strapinski im Wagen zurückgelassen hat – zumindest nach Vermutung des hier keineswegs allwissenden Erzählers (zu Kellers Spiel mit der Erzählperspektive vgl. [S. 159f.]).
20.20 [17.30]
Stadtschreiber ...Notar: Protokollführer des Stadtrates, öffentlicher Schreiber der Stadt; früher eines der höchsten Ämter der Stadtverwaltung. Keller versah zur Zeit der Entstehung von Kleider machen Leute das analoge Amt des Staatsschreibers des Kantons Zürich. Auch der Notar war im Kanton Zürich im 19. Jh. kein privater Jurist, sondern ein städtischer Beamter.
20.23 [17.33]
Häberlin: Eher schwäbische als schweizerische Verkleinerungsform, die an Haben (‚der kleine Besitzer‘) oder Hafer (‚das Haferchen‘) anklingt. Mit ihm beginnt die Reihe der behäbigen ‚hablichen‘ (wohlhabenden) Goldacher Wirtschaftsvertreter, die schon bald der Hafer stechen wird.
20.23 [17.33-34]
Pütschli-Nievergelt: Keller selbst erläutert im Grünen Heinrich (erste Fassung): „Das Wort Putsch stammt aus der guten Stadt Zürich, wo man einen plötzlichen vorübergehenden Regenguß einen Putsch nennt und demgemäß die eifersüchtigen Nachbarstädte jede närrische Gemüthsbewegung, Begeisterung, Zornigkeit, Laune oder Mode der Zürcher einen Zürichputsch nennen. Da nun die Zürcher die Ersten waren, die geputscht, so blieb der Name für alle jene Bewegungen und bürgerte sich sogar in die weitere Sprache ein, wie Sonderbündelei, Freischärler und andere Ausdrücke, die alle aus dem politischen Laboratorium der Schweiz herrühren.“ (HKKA 12, 456.01-19) Vgl. auch die zweite Fassung: „Man lebte mitten in der Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen, Wahlbewegungen oder Verfassungsänderungen, welche man Putsche nannte und Schachzüge waren auf dem wunderlichen Schachbrette der Schweiz, wo jedes Feld eine kleinere oder größere Volkssouveränität war“ (HKKA 3, 246.19-24). Im Namen klingt der bevorstehende „Goldacher Putsch“ (24.06 [21.08-09]) schon voraus. – „Nievergelt“ ist ein häufiger Schweizer Familienname (wörtlich: Der, der (Schulden) nie zurückzahlt). Wüst 1914, S. 86 weist auf das Nievergeltsgäßchen in der Nähe von Kellers Elternhaus in Zürich hin.
20.24 [17.34]
Buchhalter einer großen Spinnerei: Spinnereien waren mit die ersten maschinell betriebenen Gewerbe der Schweiz, Vorreiter der industriellen Revolution insbesondere auch im Kanton Zürich. Neben diesem wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund klingt das Spinnen als Träumen und Sich-Geschichten-Ausspinnen an. Böhni ist damit eine Spiegelfigur von Strapinski, der sich Romane ausdenkt (vgl. 33.30-31, 57.19 [30.26-27, 53.23]) – auch Böhni spinnt sich ja eine Zukunft mit Nettchen zurecht –, als nüchterner Buchhalter aber mehr noch eine Gegenfigur zu dem poetischen Schneider, der die aus der Spinnerei gelieferten Fäden und Tücher erst zu einem kleidsamen Textil und Text macht. Das fein gesponnene Intrigennetz, in dem Böhni Nettchen zu fangen gedenkt, erweist sich demgegenüber als nicht haltbar. – Kellers äußerst kritische Haltung zu den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen (v. a. die Kinderarbeit) in der Schweizer Spinnerei-Industrie seiner Zeit, deren Profit nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zufloß, kommt zum Ausdruck in seiner vierten Randglosse im Zürcher Intelligenzblatt vom 27.3.1861, in der auch schon die Figur des Buchhalters auftritt: Böhni inkognito.
20.24-25 [15.35]
Melcher Böhni: Melchior (hebr.: „König des Lichts“) ist einer der Weisen aus dem Morgenland oder Heiligen Drei Könige, die dem neugeborenen Jesus nicht nur Huldigungen, sondern auch wertvolle Gaben bringen. Bei Häberlin, Pütschli-Nievergelt und Böhni sind dies allerdings nicht Weihrauch, Gold und Myrrhe, sondern – zeitgemäßer – Zigarren und Zigaretten aus Smyrna, Damaskus und Westindien, Geld (beim Glücksspiel) und später Kleidung. „Melcher“ ist eine typische Schweizer Form des Namens, kann aber auch „Melker“ bedeuten (womit in den drei Namen auch typisch kapitalistische Grundwerte wie Haben, Schuldenmachen und ‚Melken‘ versammelt wären). – Der in der Schweiz verbreitete Familienname Böhni / Böni klingt wie eine Verkleinerungsform von Bohne, einem Inbegriff des Wertlosen (‚dafür gebe ich keine Bohne‘). „Bohnenkönig“ ist nach Schweizer Brauch der, der am Dreikönigstag die in einem Kuchen versteckte Bohne findet und für diesen Tag zum ‚König des Festes‘ gekürt wird (Böhni wird als ‚König des Lichts‘ in dem von ihm inszenierten Fest Licht in Wenzels Geschichte bringen wird). „Böni“ ist darüber hinaus ein schweizerdeutscher Begriff für Heuschober, aber auch für Dünger, sowie ein alter Name für das Geißkraut. Der Kot der Ziege wird umgangssprachlich oft auch ‚Böhnlein‘ genannt (die Ziege ist das Wappentier der Schneider; vgl. 39.20 [36.10]). Zu literarischen Analogien dieses Gegenspielers Strapinskis vgl. v. a. Wüst 1914, S. 118 f. und Rowley 1960, S. 33, die sich an Goethes Mephisto erinnert fühlen. Offene und versteckte Teufelsanspielungen (vgl. Erläuterung zu 13.23 [11.14]) finden sich in der Tat häufig in der Erzählung.
20.27 [18.03]
blinzelnd: Blinzeln ist bei Keller meist Ausdruck des Zweideutigen, Hinterlistigen oder Bauernschlauen – im Gegensatz zum vollen, sein Gegenüber wirklich erkennenden und sich ihm zu erkennen gebenden Blick aus offenen Augen (vgl. z. B. 49.27 [46.08-09]). Zur Sprache der Augen vgl. auch [S. 152].
Stellenkommentar (S. 21-30)
21.13 [18.21]
Polacken: Vom Polnischen „polak“: der Pole, eine schon im 19. Jahrhundert häufig abfällig gebrauchte Bezeichnung. Daneben auch der Name einer feurigen Pferderasse und eines weiten, radmantelähnlichen Umhangs.
22.02 [19.07-08]
günstigen Stunde: In der griechischen Antike war der kairós – die günstige Gelegenheit, der erfüllte Moment, der göttliche Augenblick – die wesentliche, sogar als Gott (mit wallendem Haar) versinnbildlichte Qualität der Zeit. Alle andere – chronologische – Zeit hatte an ihm Maß zu nehmen. Er ist ein Grundmotiv der Erzählung, Lebensmotto Strapinskis wie der Goldacher Kapitalisten. Während deren Begriff der ‚günstigen Stunde‘ aber nicht über ein banales, als Freizeit ganz im Alltäglichen bleibendes Verständnis hinausgeht, wird er Strapinski immer existentieller: von der günstigen Gelegenheit, sich den Bauch vollzuschlagen (18.08ff. [15.22ff.]) über die Chance, „einmal“ allgemein gesellschaftlich geachtet zu sein (27.07 [24.05]), und der Lebens-Phantasie, „einen Augenblick“ geliebt, groß und glücklich zu sein (52.27 [49.03-04]), bis zum „Augenblick“ der „guten Gelegenheit“ zur echten Aussprache (50.20. 51.11 [46.35, 47.24-25]), die Wahrheit und tragfähige Liebe ermöglicht – die Aufhebung des intensiven, authentischen Augenblicks in Dauer.
22.05-07 [19.10-12]
Amtsrat ... gekeltert ... Sauser: Im ‚Keltern‘ steckt auch der Name „Keller“, wörtl. „der Kelterer, Weinmacher, Kellermeister“. Entsprechend ziert Werdmüllers Porträt des 22jährigen Keller ein Wappenschild mit Weinfaß, noch mit Trichter zum Einfüllen des frisch gekelterten Mosts (s. Erläuterung zu 11.18; eine spätere Fassung der Radierung ersetzt das Fäßchen durch drei Wappenschilder im Wappenschild, was dem poetologisch-selbstbezüglichen Charakter des Kellerschen Werkes (vgl. [S. 165f.]) entspräche; vgl. auch den Kommentar zu 11.18 [7.20]). Als Staatsschreiber war Keller zu Zeit der Entstehung von Kleider machen Leute selbst eine Art Amtsrat. Zum „Sauser“ vgl. auch die Einleitung zum ersten Teil der Leute von Seldwyla (011.17-21 [64.27-31]).
22.21-22 [19.28-29]
bei den Husaren: Keller hatte zuerst „bei den preußischen Husaren“ geschrieben, später zu „bei den Husaren als Regimentsschneider“ korrigiert und die letztgültige Version erst in den Korrekturbogen zum Druck gefunden.
23.16-20 [20.20-25]
zwischen beide Partieen ... den Lauf der Welt darstellen: Das Dramen-Motiv des das Geschehen reflektierenden ‚Spiels im Spiel‘ findet sich in Kellers Prosa häufiger. Direktes Vorbild ist wohl Shakespeares Hamlet, in dem die entlarvende Spielszene mit den Worten endet: „Das ist der Lauf der Welt“ (vgl. Richartz 1975, S. 172-180). Hier bildet es vor allem eine Voraus-Spiegelung des Höhepunkts der Erzählung, auf dem Strapinski wieder wie ein Fürst zwischen zwei Parteien sitzt und einer Darstellung des Laufs der Welt und seines eigenen Schicksals zusieht (vgl. 41.06-43.27 [37.29-40.14]). Zum Kartenspielen als Lieblingsbeschäftigung der Seldwyler Geschäftemacher, denen die Goldacher hier aufs Haar gleichen, vgl. die Einleitung zum zweiten Teil der Leute von Seldwyla (05.009.10-13 [67.27-31]).
24.06 [21.08-09]
Goldacher Putsch: Vgl. zu 20.23 [17.33-34]; ev. eine Anspielung auf den ‚Züriputsch‘ von 1839, den vom Land ausgehenden Protesten gegen die Berufung des liberalen deutschen Theologen David Friedrich Strauß an die Zürcher Universität, die zum Sturz der liberalen Regierung führten (Schwerz 1942, S. 31).
24.10 [21.12]
Praga oder Ostrolenka: Entscheidende Schlachten der Polen im Befreiungskampf gegen Rußland: bei Praga (nahe Warschau) im Februar 1831 (der von SW 8, S. 444 behauptete und dort öfters abgeschriebene Bezug auf eine Schlacht bei Praga 1794 ist unwahrscheinlich) und bei Ostrolenka im Mai 1831. – Im deutschen Sprachgebiet bekannt wurden die beiden Namen u. a. durch Julius Mosens in Flugblättern und Liederbüchern weit verbreitetes und mehrfach vertontes Gedicht Die letzten Zehn vom vierten Regiment:
In Warschau schwuren Tausend auf den Knieen:
Kein Schuß im Heil’gen Kampfe sei gethan!
Tambour, schlag’ an; zum Blachfeld laßt uns ziehen,
Wir greifen nur mit Bajonetten an! [...]Und als wir dort bei Praga blutig rangen
Hat doch kein Kam’rad einen Schuß gethan
Und als wir dort den Todfeind blutend zwangen,
Mit Bajonnetten ging es d’rauf und d’ran; [...]Drang auch der Feind mit tausend Feuerschlünden
Bei Ostrolenka grimmig auf uns an
Doch wußten wir sein tückisch Herz zu finden
Mit Bajonetten brachen wir die Bahn [...].
(Flugblatt, nach 1832, abgebildet in: Wolfgang Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 2, Berlin 1962, bei S. 48; vgl. auch z. B. Schweizerisches Volks-Liederbuch, gesammelt und hrsg. von Franz Fluri, Bern 1848, S. 415). – Böhnis Hinweis auf die „zerstochenen Finger“ könnte eine zynische Anspielung auf die von Mosen kolportierte Beschränkung der Polen auf Stichwaffen sein.
26.01 [23.01]
Nettchen: Verkleinerungsform von „Annette“, das seinerseits eine Verkleinerung von „Anna“ ist. Nach dem apokryphen Jakobus-Evangelium die Mutter der Gottesmutter Maria, ist die heilige Anna in der katholischen Kirche Patronin der glücklichen Heirat und Ehe und wird insbesondere für Kinderreichtum und glückliche Geburt angerufen. Ihr hebräischer Name bedeutet „die Anmutige, Liebreizende“ oder „Gnade, Erbarmung“, und in der Tat entwickelt sie sich ja von der liebreizenden ‚kleinen Netten‘ zur gnädigen Erbarmerin und kinderreichen Ehefrau Wenzels. – Als reales Vorbild der Figur wurde verschiedentlich die Winterthurerin Luise Rieter, Kellers erste große – unglückliche – Liebe, angenommen.
26.29 [23.30-31]
das Schneiderblütchen: Scheider galten dem Klischee nach als lustig, beweglich und emotional leicht zu beeindrucken; vgl. die Volkslieder Lustig ist die Schneiderweis und den Refrain der Schneiderwoche:
Schneider, lustig Blut,
Schönes Schni- Schna- Schneiderblut,
Reitet auf dem bunten Bock
Über Stock und über Block.
(Schade 1865, S. 72 und 180 f.).
27.19 [24.18-19]
Lieder, die in den dreißiger Jahren Mode waren: Die einzige direkte Handlungsdatierung, die sich in Die Leute von Seldwyla überhaupt findet. Sie ist allerdings nicht eindeutig: Neben der naheliegenden Lesart, daß die Geschichte in den 1830er Jahren spielt, ist nicht auszuschließen, daß der Erzähler auf das veraltete oder aus gegebenem Anlaß bewußt traditionelle Liedgut der Goldacher hinweisen will und die Handlung demnach erst später anzusiedeln ist, z. B. 1841, zwei Jahre nach dem ‚Züriputsch‘ (Schwerz 1942, S. 31; vgl. 297.16) oder in den 1860ern, der Zeit der Niederschrift (vgl. Selbmann 1984, S. 19).
27.22 [24.22]
einige Wochen im Polnischen: Zuerst hatte Keller geschrieben: „vier Monate im Herzogthum Posen“. Die Änderung beruht wohl auf Wahrscheinlichkeitserwägungen – in vier Monaten hätte Strapinski wohl mehr Polnisch gelernt – und in der Vereindeutigung des Polen-Bezugs – Posen war zwar polnischsprachig, aber bis 1918 Teil von Preußen.
27.23-28.08 [24.23-25.06]
ein Volksliedchen ... Gesanges: Ev. eine bewußte Parodie des Ständchens, das der polnische Graf in Wilhelm Hauffs Claurenparodie Der Mann im Monde seiner Ida bringt, die nichts versteht und doch begeistert ist.
29.13-20 [26.11-19]
Sonntagsschlafrock ... Geigen: Ein erstes Beispiel der für Keller typischen Häufungs-Komik, bei der völlig Disparates wie selbstverständlich zusammengezählt wird und sich die scheinbar nüchterne Auflistung immer mehr verselbständigt und ins Skurrile abdriftet (vgl. z. B. auch die folgende Erläuterung).
30.22-31.25 [27.20-28.23]
Sinnbildern ... Weibergut: In den Hausnamen Goldachs spiegelt sich nicht nur, wie explizit ausgeführt, die Geschichte des Städtchens und damit die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, sondern auch das Wesen ihrer Bewohner, das ihres Spiegelbilds Strapinski und das der Erzählung selbst. Bei allen dreien existieren (mittelalterliche) Phantastik und Märchenton, (aufgeklärter) Humanismus und Moralismus sowie (kapitalistischer) moderner Realismus neben- und durcheinander, oft sogar durch einander. Die meisten der die Erzählung durchziehenden Bildsysteme – Schlacht/Krieg, Gold/Geld, Schuld/Schulden, Urteil/Versöhnung, Tod/Leben, Wohlstand/Wohlfahrt, Spinnen/Haspeln/Schneidern, Anstand/Tugend, Liebe/Ehe, Poesie/Romantik sowie Märchenmotive und Bibelreminiszenzen – werden hier wie durch ein Nadelöhr gefädelt. Zur Aufzählungskomik tritt hier noch eine ebenfalls Keller-spezifische anarchische Allegorik und Namenssymbolik, die Zeichen und Sinnbilder auf antikonventionelle Art wörtlich nimmt (vgl. auch die den Hausnamen analogen Schlittennamen 38.26-39.03 [35.17-27]). – Die Realienforschung entdeckte Übereinstimmungen mit Winterthurer – „Schwert, Blaues Schild, Ritter, Türke, Drachen, Linde, Granatbaum, Redlichkeit, Eintracht, Liebe, Hoffnung, Frohsinn, Zum Tod, Zur Geduld, Morgenthal und Sonnenberg“ (Amrein / Herzog, S. 138) – und Zürcher Hausnamen: „Zum Schwert, Eisenhut, Harnisch, Zur Armbrust, Zum Schweizerdegen, Zum Meerwunder, Goldenen Drachen, Pilgerstab, Branatbaum, Kämbel, Einhorn“ sowie das Zunfthaus „Zur Wage“ (Wüst 1914, S. 86).
Stellenkommentar (S. 31-40)
31.17-18 [28.14-15] 31.26-32.02 [28.24-33] 32.09 [29.05-06] 32.24 [29.21] 33.02-03 [29.32] 33.14-15 [30.10] 33.17 [30.13] 33.32 [30.28] 34.12 [31.05-06] 34.22 [31.16] 36.14 [33.06-07] 36.19-21 [33.12-14] 37.02-03 [33.27-28] 37.11 [34.02] 37.15 [34.07] 37.29-38.07 [34.21-33] 38.01 [34.26] 38.13 [35.04] 38.20 [35.12] 38.28 [35.19] 38.30 [35.21-22] 38.31 [35.22] 39.13 [36.02-03] 39.20 [36.10] 39.25 [36.16] Stellenkommentar (S. 41-50) 41.26 [38.15-16] Es mausert sich ein Pfau, ein Rabe hat’s gesehn, Es leben in der Welt genügend solche Raben, (Jean de La Fontaine, Hundert Fabeln, Zürich 1965, S. 207) 41.27 [38.17] 41.28-29 [38.18-19] Ein Löwenfell zog der Esel an Viel Leute machen in Frankreich sich breit, (Jean de La Fontaine, Hundert Fabeln, Zürich 1965, S. 159.) Vgl. auch Heinrich Heines Gedicht König Langohr. Die Löwenhaut ist zudem eines der Attribute des mythischen Herakles/Herkules, zu dessen zwölf Aufgaben die Erlegung des Nemeischen Löwen gehörte; eine analoge Herkules-Anspielung findet sich auch in Pankraz der Schmoller (HKKA 4, 024.21ff.). Vgl. auch oben zu 32.24 [29.21]. Neumann 1990, S. 271 verweist zudem auf die Parallele zum Löwen in Goethes Novelle. 41.30 [38.20] 41.32-42.01 [38.22-23] 43.06-07 [39.27-28] 43.12 [39.33] 43.14 [39.35] 43.24 [40.10] 44.02 [40.21] 45.01 [41.20] 45.06 [41.26] 45.13-27 [41.33-42.13] 45.28 [42.14] 46.19 [43.03] 48.15-22 [44.32-45.05] 48.27 [45.10] 49.16 [54.32] 49.17-18 [45.33-34] 49.26 [46.07] Kein Sterblicher, sagt sie, Zur Schleiersymbolik allgemein vgl. [S. 135]. 50.01-51.02 [46.15-47.14]
Stellenkommentar (S. 51-62) 51.14 [47.28] 53.07 [49.16] 54.26 [50.35] 54.31-55.01 [51.05-07] 55.05-06 [51.11-12] 55.10 [51.17] 57.04 [53.06] 57.30 [53.34] 58.01 [54.01-02] 58.04 [54.04] 58.08 [54.08] 58.28 [54.29] 60.03 [55.35] 62.06 [58.02-03] Der Schneider starb durch euch, ihr Lacher. (Bachmann-Korbett 1852, S. 81) oder Der letzte Schneider : Seitdem wir Kleidermacher sind geworden, Dem echten Schneider ziemt es auszusterben, (Scheiderbüchlein 1853, S. 158 f.)
da in dieser Stadt keiner dem anderen etwas schuldig blieb: Schulden, eines der großen Themen der Leute von Seldwyla insgesamt, spielten auch in Kellers Leben eine maßgebliche und manchmal lebensentscheidende Rolle. Sein differenziertes Verhältnis zu diesem Thema wird zu Beginn der Drei gerechten Kammacher deutlich, wo er die wahre Gerechtigkeit von der „blutlosen“ unterscheidet, „welche aus dem Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern! weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat; welche Niemandem zu Leid lebt, aber auch Niemandem zu Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nichts ausgeben will und an der Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet.“ (HKKA 4, 215.09-15)
An jeder Straßenecke ... umschloß: Das hier beschriebene Stadtbild erinnert an Kellers großformatige, auf eine Bildidee vom August 1843 (s. Kellers Tagebuch, HKKA 18, S. 71 ) zurückgehende Zeichnung Mittelalterliche Stadt , in der ebenfalls verschiedenste historische Epochen sich nebeneinander zeigen (vgl. Weber 1990). Analoge Bild- und Stadtbeschreibungen finden sich vielfach auch in Kellers literarischem Werk: die Vaterstadt des ‚Grünen Heinrich‘ – „ein altes graues Städtchen“ und „Raritätenschrein“ (erster Entwurf, DKV 2, S. 913f.; Erstfassung, HKKA 11, 018.11-019.14 u. a. ) –, die gemalte Stadt Heinrich Lees (Zweitfassung, HKKA 2, 156.26-157.21) und nicht zuletzt auch Seldwyla, das laut Vorrede zum ersten Band seinerseits „noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen, wie vor dreihundert Jahren“ steckt (HKKA 4, 007.04-05 [61.05-06]). Goldach erweist sich wieder nicht nur als Gegen-, sondern auch als Spiegelbild von Seldwyla. Türme und Ringmauer sind nicht nur Befestigungen gegen Angriffe von Außen, sondern auch Gefängnisse und Zeichen der Selbsteinmauerung und – wie Efeu immergrüner – Borniertheit. Das reiche Uhrwerk an jedem Turm deutet auf einen äußerlich-schematisch-pedantischen Zeit-Begriff (vgl. die Erläuterung zu 22.02 [19.07-08]), die bunten Dächer auf eine gewisse Renommier- und Prunksucht. Die „zierlich vergoldete Windfahne“ ist dabei geradezu das Emblem des Goldacher Wesens: ihrer Ziersucht, ihres Poesiebedarfs und ihrer Kitschtendenz, ihrer Geld- und Geltungssucht sowie ihres Opportunismus und ihrer Profiteursmentalität, die sie die Fahne nach dem Wind hängen lassen.
moralisches Utopien: „Utopia“ (wörtlich: Nicht- oder Nirgends-Ort) ist der fiktive Name einer Insel, auf der der englische Philosoph Thomas Moore einen idealen Stadtstaat auf hedonistischer Grundlage lokalisiert, in dem kein Privateigentum existiert und jeder zur Arbeit verpflichtet ist (De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia, 1516). Was Strapinski sich hier vorstellt, ist zunächst eine sprachliche und erst in der Konsequenz auch moralische Utopie – ein Ort, an dem eine nicht-konventionelle, nicht-verkleidende, ‚adamitische‘ Sprache wie im Paradies vor der babylonischen Sprachverwirrung herrscht, wäre ein Ort der Ehrlichkeit und Wahrheit. Der Erzähler hatte kurz zuvor mit diesem Gedanken schon ironisch-satirisch gespielt (vgl. 31.08-18 [28.04-15]), die ganze Erzählung führt aber implizit und nicht-ironisch die explizite, märchenhafte Annahme Strapinskis durch, sein Schicksal werde abgewogen und ausgeglichen: poetische Gerechtigkeit, Literatur als Utopie.
Jüngling am Scheidewege: Xenophanes (Sokratische Denkwürdigkeiten II, 1, 21 ff.) berichtet, den Sophisten Prodikos (5. Jh. v. Chr.) zitierend, wie „Herakles aus einem Knaben zum Mann werden wollte, ein Zeitpunkt, in dem die Jünglinge, allmählich Herr ihrer selbst geworden, zeigen, ob sie für ihr Leben den Weg der Tugend oder den des Lasters wählen wollen: da wäre dieser in die Einsamkeit hinausgegangen und habe sich dort gesetzt, weil er unschlüssig war, welchen der beiden Wege er wählen sollte.“ Herakles (lat. Herkules) entscheidet sich schließlich für den schwierigeren Weg der Tugend; siehe auch die biblische Metaphorik des breiten (zur Verdammnis) und des schmalen Wegs (zum Heil). Bei Strapinski wird sich der moralisch falsche Weg als der zum Heil erweisen! – Vgl. auch zu 38.20 [35.12] und 41.28-29 [38.18-19]. Zu Kellers Stil in dieser Passage vgl. [S. 160].
blauem Schleier: Zur Bedeutung des Schleiers vgl. [S. 135]. Blau ist in der christlichen Symbolik die Farbe der Treue, Wahrheit und Dauer; alle drei Elemente kennzeichnen Nettchen, müssen sich ihr selbst aber erst entschleiern (vgl. 49.26 [46.07]).
Linden ... wie ein goldener Regen: Linden sind die prototypisch romantischen Bäume, von der Herzform ihrer Blätter und der Süße ihres Saftes her auch die Liebe symbolisierend; Strapinski wird also gleichsam, die weitere Handlung vorwegnehmend, ‚von Liebe überschüttet‘. Allerdings ist auch hier ‚nicht alles Gold, was glänzt‘: die Herbstblätter sind schön, aber tot. – Vgl. auch 32.25 [29.22], das Motiv der Linde im Grünen Heinrich und der Kellers Mittelalterliche Stadt umgebende Lindenkranz (vgl. die Erläuterung zu 31.26-32.02 [28.24-33] ).
Regenbogen: Vgl. unten zu 58.01 [54.01-02].
war.: Danach finden sich im Manuskript (H2) ca. zwei Leerzeilen und ein horizontaler Trennstrich; vgl. auch 46.19 [43.03]. Zur Gliederung der Erzählung vgl. [S. 126-128].
Lotteriespiel: Wie beim Hazardspiel (24.17 [21.19]) spiegelt Strapinskis Verhalten im einzelnen sein Wesen im Ganzen: Seine Existenz in Goldach ist ein Glücksspiel, ein Sich-aufs-Spiel-Setzen. – Auch die zerstrittenen Familien in Romeo und Julia auf dem Dorfe setzen ihr ganzes Geld in „alle fremden Lotterien, deren Lose massenhaft in Seldwyla zirkulierten“ (HKKA 4, 089.22-23), allerdings ohne Glück. Strapinski verhält sich hier eher wie die Seldwyler als wie die Goldacher, die als solide Handelsleute „nicht im entferntesten an einen Lotterieverkehr dachten“ (35.21-22 [32.14-15]). – Lotterien wie andere Glücksspiele waren in vielen Schweizer Kantonen im 19. Jahrhundert verboten, weshalb die Lose meist aus dem Ausland kamen. Kellers Meinung wird deutlich in seinem Artikel Eine Steuerverweigerung im Zürcher Intelligenzblatt vom 14.9.1861: „Von Zeit zu Zeit, und eben wieder in diesen Tagen, werden eine Menge Leute mit Zusendung von deutschen Lotteriepapieren belästigt, und es ist nur der Organismus zu bewundern, mittelst dessen diese Blutsauger die Adressen der unbekanntesten und abgelegensten Familien ausfindig machen. Es ist nicht zu zweifeln, daß fortwährend mancher Simpel sich fangen läßt und seinen Tribut der Dummheit und Gewinnsucht bezahlt“ ([DKV 7, S. 216]).
fremden: Keller schrieb zuerst „norddeutschen“, dann „deutschen“ und schließlich unspezifisch „fremden“.
Schlaf der Gerechten: Wohl auf die Bibel (vgl. z. B. Sprüche 24,15 oder Psalm 127,2) zurückgehende Redensart im Sinne von ‚tiefer, ruhiger Schlaf mit gutem Gewissen‘.
sein Mantel ... Adlersflügel: Der Adler ist allgemein Attribut der Herrscher, aber auch Symbol der Gerechtigkeit. Das polnische Wappen war schon im 19. Jahrhundert ein weißer Adler auf rotem Grund. Einen schwarzen Adler zeigt das oben zu 24.10 [21.12] zitierte Flugblatt; ein schwarzer Adler findet sich auch im Wappen des böhmischen Nationalheiligen St. Wenzeslaus (vgl. oben zu 19.31 [17.08] ). Das Umschlagen des Mantel erinnert einerseits an das Beute-Schlagen des Raubvogels, ist anderseits seit alters die Geste der Adoption und der Legalisierung eines unehelichen Kindes. Daß die Szene ihre Berechtigung in sich selbst zu tragen scheint, weist auf die Interesse- und Zwecklosigkeit der Kunst hin; es ist zunächst und vor allem ein „wahrhaft schönes Bild“, berechtigt und wahr jenseits jeder Frage nach Recht und Wahrheit – und jenseits von beidem befinden sich die Protagonisten ja tatsächlich.
Italiener ... Räuberhauptmann: Prototypische Helden der Trivialromantik (ebenso wie der „Violinspieler“, den Keller erst nachträglich zu „Pianisten“ korrigiert hat), deren verführerische Exotik sie austauschbar erscheinen läßt. Insbesondere ist hier vielleicht an den literarischen Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini und an den polnischen Klaviervirtuosen Frédéric Chopin gedacht. Vgl. auch zu 41.30 [38.20].
Gans: Gänse sind im Spätherbst – der Zeit der Erzählung – reif zur Schlachtung und werden z. B. als Martins- oder Weihnachtsgans gegessen; polnische (Stopf-)Gänse waren besonders begehrt. – Als schlimmstmögliches Schimpfwort für eine Frau taucht „Gans“ auch in Pankraz der Schmoller (HKKA 4, 060.22) und Die mißbrauchten Liebesbriefe (HKKA 5, 130.19-20) auf.
ist!“: Im Manuskript (H2) hatte Keller hier zunächst noch angefügt: „Wissen Sie was, Herr Graf, wenn sie zuhause oder wo Sie hinwollen, etwa nicht allzuviel zu beißen haben sollten, so kommen Sie alsdann hieher, wir wollen Ihnen zu einem Auskommen zu verhelfen suchen, dann heißt es aber Herr und Frau Strapinski und damit Punktum!“
Schlittenfahrt ... Maskenfahrt: Ein anonymer Rezensent hatte im Illustrirten Weihnachts-Catalog für den deutschen Buchhandel 3 (1874), S. 26 geschrieben, die neuen Seldwyler Erzählungen seien „recht unwahrscheinlich“, die „Schlittenfahrt der Seldwyler Schneiderzunft“ aber, „wie so vieles bei Keller, geradezu märchenhaft.“ Keller, Rezensenten gegenüber recht empfindlich, verschärft diese kritische Äußerung und wehrt sich dann dagegen: es habe „ein norddeutscher Kritiker einen grotesken Fastnachtszug (Schneider-Schlittenfahrt) als ganz unmöglich, ungeheuerlich und daher unzulässig bezeichnet, während hierzulande dergleichen nicht einmal auffällt, weil es jeder erlebt hat.“ (an Theodor Storm, 25.6.1878; GB 3.1, S. 410 f.) Keller meint, daß infolge der Reformation der „Norden überhaupt kein Verständnis für die chronikalischen Schnurren unsers oberdeutschen Städtewesens“ habe (an Petersen, 21.4.1881; GB 3.1, S. 382 f.). – Vgl. auch den Fastnachtszug im Anschluß an den Künstlerzug im Grünen Heinrich, den Maskenzug in Die arme Baronin sowie das Gedicht Ein Festzug in Zürich. Keller deutet derlei Mummenschanz später als „Schnurren, die mir fast unwiderstehlich aufstoßen und wie unbewegliche erratische Blöcke in meinem Felde liegen bleiben. Die Erklärung ihrer Herkunft soll nicht prätentios klingen. Es existiert seit Ewigkeit eine ungeschriebene Komödie in mir, wie eine endlose Schraube (vulgo Melodie), deren derbe Szenen ad hoc sich gebären und in meine fromme Märchenwelt hineinragen. [...] Ich glaube, wenn ich einmal das Monstrum von Komödie wirklich hervorgebracht hätte, so wäre ich von dem Übel befreit.“ (an Paul Heyse, 27.7.1881; GB 3.1, S. 56 f.)
Um diese Zeit geschah es ...: Der Erzähler verfällt hier ironisch in den Ton der Evangelien (vgl. z. B. Luk. 2,1); er berichtet aber gerade nicht, was wirklich geschieht, sondern überläßt es dem Leser, sich Böhnis „Geschäfte“ in Seldwyla vorzustellen.
grünem Sammet: Zuerst hatte hier – wie am Anfang der Erzählung (11.18 [9.20]) – „schwarzem Sammet“ gestanden. Die Änderung spiegelt farbsymbolisch Strapinskis Entwicklung (es ist noch das typisch romantisch-idealisierte Grün und schon das Grün des realen Lebens) und schlägt eine Brücke zum Grünen Heinrich (zu „Kellers Grün“ vgl. v. a. Muschg 1977, S. 206 ff.).
Fortuna: Die der griechischen Tyche entsprechende römische Göttin des Schicksals, Glücks, (gelenkten) Zufalls und Erfolgs (von lat. ferre: „tragen, bringen“), später meist verflachend als Personifikation des Glücks gedeutet. Ihr Wesen schwankt zwischen mütterlich und amazonenhaft, ihre Attribute sind Füllhorn, Rad oder Kugel und Zügel oder Steuerruder sowie teilweise eine Augenbinde; als Patronin der Wanderer, Händler und Reisenden steht sie in Verbindung mit Herkules (vgl. oben zu 32.24 [29.21] ). Der falsche Graf Normann, einer der Anregungen Kellers, wohnte im Gasthof ‚Fortuna‘ ([S. 76.16, 80.11]). – In diesem und den folgenden Schlitten werden die Goldacher Häuser – vor allem die humanistisch-bürgerlich-abstrakten: Tapferkeit, Tüchtigkeit, Verbesserlichkeit, Sparsamkeit! – ambulant; Nettchen wohnt und wandelt gleichsam ‚von Haus aus‘ im Glück. Hier wie dort verselbständigen und entkonventionalisieren sich die zeichenhaften Bezüge schnell ins Komische (vgl. auch oben zu 30.24-31.25 [27.20-28.23] ).
Tapferkeit: Die von Keller unglücklich geliebte Luise Rieter aus Winterthur wohnte im Haus „Zur Tapferkeit“ (vgl. Kägi 1955, S. 42-61).
Jakobsbrunnen: Der biblische Jakob, Liebling der Mutter und mit ihrer Hilfe das Erstgeburtsrecht vom Vater erschleichend, später mittellos aus der Heimat fliehend, wird durch Leid geläutert und verliebt sich in der Fremde an einem Brunnen in Rahel. Er muß bei ihrem Vater insgesamt vierzehn Jahre um sie dienen, bis sich die Liebenden gegen den Vater durchsetzen können und er sie zur Frau erhält (1 Mos. 25-29). – Am selben oder einem anderen Jakobsbrunnen trifft Jesus eine Samariterin. Obwohl Juden üblicherweise mit Samaritern nicht verkehrten, spricht er mit ihr und offenbart sich ihr als Messias, und sie verkündet es allen (Joh. 4,1-30).
Teich Bethesda: In fast direktem Anschluß an die Szene am Jakobsbrunnen findet sich in Joh. 5, 1-16 der Bericht vom Teich Bethesda (hebr.: „Ort der Barmherzigkeit“), an den traditionell Kranke kamen. Von Zeit zu Zeit, so glaubte man, bewege ein Engel das Wasser, und wer dann zuerst hineintauchte, werde geheilt. Einer war schon 38 Jahre dort, weil er immer zu spät kam, wenn sich Wellen zeigten. Jesus heilte ihm mit den einfachen Worten „Steh auf, rolle deine Matte zusammen und geh!“ – Es machte Keller Mühe, den passenden Namen für Böhnis Schlitten zu finden. Er hatte zunächst hier wie in 40.29 [37.19] und 47.03-04 [43.20-21] (nicht aber an der erst nach der Pause in der Entstehungsgeschichte bei 55.10 [51.17] vgl. [S. 116]] geschriebenen Stelle 58.15 [54.16]) „Thal Josaphat“ und dann „Brunnen Rogel“ geschrieben. Zu ersterem vgl. Joel 4,1-12: „Denn siehe, in jenen Tagen und zur selben Zeit, da ich das Geschick Judas und Jerusalems wenden werde, will ich alle Heiden zusammenbringen und will sie ins Tal Joschafat hinabführen und will dort mit ihnen rechten wegen meines Volks und meines Erbteils Israel, weil sie es unter die Heiden zerstreut und sich in mein Land geteilt haben; [...] Und ihr aus Tyrus und Sidon und aus allen Gebieten der Philister, was habt ihr mit mir zu tun? Wollt ihr mir’s heimzahlen? Wohlan, zahlt mir’s heim, so will ich’s euch eilends und bald heimzahlen auf euren Kopf. [...] Bereitet euch zum heiligen Krieg! [...] Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße! [...] Die Heiden sollen sich aufmachen und heraufkommen zum Tal Joschafat; denn dort will ich sitzen und richten alle Heiden ringsum.“ Der judäische König Joschafat (hebr.: „Der Herr richtet“), reicher und hochgeehrter Enkel Davids, ordnete die Rechtsprechung und untersagte den Götzendienst, schloß allerdings auch Bündnisse mit gottlosen Königen. – Am Brunnen Rogel ließ Adonija sich zum König Judas ausrufen, als König David, sein Vater, altersschwach geworden war; David ernannte jedoch seinen anderen Sohn Salomo zu seinem Nachfolger (vgl. 1 Kön. 1,5-40). Der Brunnen, unweit von Jerusalem gelegen, war zur Zeit der Reichsteilung ein Markierungspunkt der Grenze zwischen den Königreichen Juda und Israel (vgl. Jos. 15,7). – Daß Böhnis Schlitten ein „bescheidener Einspänner“ ist, kontrastiert zur ostentativ hochfahrenden Vielspännigkeit Nettchens und Wenzels und weist schon voraus darauf, daß er selbst ‚einspännig‘ ungepaart bleiben wird.
bäuerliche Lastschlitten: I. Ggs. zu den bürgerlichen Schlitten der Goldacher, die ausschließlich funktional der Beförderung dienen und namentlich der zugehörigen Wohnung entsprechen, sind die Seldwyler Schlitten ein Bild des archaisch-modernen Seldwyler Wesens: auf dem Unterbau der Geräte unzeitgemäß gewordener bäuerlicher Arbeit dienen sie als Wander-Bühne des Seldwyler Karnevals und der ‚Macht durch Kunst‘.
Ziegenbock: Das Symbol- und Wappentier der Schneider (vgl. [S. 106]).
Himmelszelt: Ein ev. aus der Bibel (vgl. z. B. Psalm 104,2) stammendes Sprachbild. Das Wort „Zelt“ geht zurück auf die Bedeutung ‚Tuch, Stoff, Decke‘. Es universalisiert die Leitsymbolik der Kleider auf die ganze Welt: Nicht nur Kleider, alles wird von den Menschen gleichsam ‚zugeschneidert‘. Kleider machen Leute
Krähe ... Pfauenfedern: Vgl. La Fontaines Fabel Der Rabe, geschmückt mit den Federn des Pfaus (zurückgehend auf eine antike Fabel von Äsop und Phädrus):
er nimmt die Federn und steckt sie an,
stolziert damit, als wär’ er selbst ein Pfauenhahn,
und glaubt, er sei Gott weiß wie schön.
Doch man erkannte ihn, er ward, eh er’s gedacht,
gehöhnt, geschmäht, beschimpft, verlacht,
die Herren Pfau’n, sie rupfen ihn, o Graus!
Er floh zur Rabenschar, doch sie tat ihn in Acht
und Bann und warf ihn zur Tür hinaus.
sie brüsten unverschämt sich mit gestohl’nen Gaben,
Nachäffer ihr richtiger Name wäre,
doch still! Sie sollen nichts von mir zu fürchten haben,
denn das ist nicht meine Affäre.
Wolf ... Schafpelz: Die Redensart vom „Wolf im Schafspelz“ leitet sich her von Matth. 7,15: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe“.
Esel ... Löwenhaut: Vgl. La Fontaines (auf Äsop zurückgehende) Fabel Der Esel im Löwenfell:
und war gar furchtbar zu schauen,
obgleich seine Wildheit nichts als ein Wahn,
verbreitet’ er Angst und Grauen.
Doch ach, ein Zipfel von seinem Ohr
lugte verräterisch hervor,
und Martin, der Knecht, nahm den Stock zur Hand.
Wer aber die Täuschung nicht erkannt,
verwundert gaffend stehen blieb,
als Martin den Löwen zur Mühle trieb.
die dieses Beispiel zur Geltung gebracht,
denn eitler Prunk und leere Pracht
sind drei Viertel ihrer Herrlichkeit.
Carbonarimantel: Die Carbonari (ital.: „Köhler“) waren ein revolutionärer Geheimbund in Italien, der im 19. Jahrhundert mehrere Jahrzehnte lang eine große Rolle bei der Demokratisierung und Einigung des Landes spielte. Bekannteste Mitglieder waren Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi, deren abenteuerliche Kämpfe zur Zeit der Entstehung von Kleider machen Leute durch alle europäischen Zeitungen gingen. Ein Carbonarimantel ist ein weiter Umhang im Schnitt eines Radmantels (vgl. 11.18 [9.20]). Beide gehören zum Klischee des geheimnisvoll-romantischen (polnischen oder italienischen) Freiheitskämpfers und weisen darauf hin, daß Strapinski am Ende die Seldwyler und Goldacher Verhältnisse auf seine Weise revolutionieren wird.
machten allmählich ... zu einem weiten Ring: Direkte bildliche Umsetzung des griechischen symbolon (wörtl.: „das Wieder-Zusammengefügte“). Das Wort wurde oft erläutert am Beispiel eines bei der Trennung halbierten Rings, an dessen Zusammenpassen sich zwei Personen auch nach Jahren noch erkennen konnten. In diesem Sinne konstelliert Keller hier ein Symbol des Symbols. Gegenbegriff ist diabolos (griech.: „der Zerreissende, der Verwirrer, der Verleumder“); vgl. auch oben zu 13.23 [11.14].
weil er wegen einer kleinen ... mit mir: Den ursprünglichen Wortlaut – „weil er meiner Frau kein Holz auf den Estrich tragen wollte und kein Wasser vom Brunnen holen?“ – änderte Keller erst in den Korrekturfahnen; vgl. oben zu 11.09-11 [9.11-14]. Die Wortwahl entlarvt den lächelnden Zynismus des ‚typischen Seldwylers‘, der den unglücklichen Schneidergesellen zweimal fast zu Tode bringt – zuerst indem er ihn um Lohn und Nahrung prellt (und ihm hier noch die Schuld daran gibt), dann indem er ihn nicht nur entlarvt, sondern um des lustigen Effekts willen geradezu ausweglos bloßstellt.
Doppelgänger: Ein besonders in der Schauerromantik (E. T. A. Hoffmann, E. A. Poe etc.) verbreitetes, innere Spaltungen visualisierendes und objektivierendes Motiv (zu möglichen Anregungen Kellers vgl. Wüst 1914, S. 125 f.).
Raphael: Der Erzengel Raphael (hebr.: „Heiler mit Gottes Hilfe“), nach jüdischer Mythologie einer der sieben Engel um Gottes Thron und Schutzengel für den Baum des Lebens im Paradies, wurde im Mittelalter zum Inbegriff des Schutzengels. Er gilt als der freundlichste und lustigste der Engel; das helle Gemüt hat er von seiner Regentschaft über die Sonne. Seine traditionellen Attribute sind Pilgerkleidung und Reisegerätschaften, er ist u. a. Patron der Kranken, Reisenden und Pilger.
Lachchores: Ein auskomponierter Lachchor findet sich zu Beginn der Oper Der Freischütz (1821) von Carl Maria von Weber, einem der ersten großen Bühnen-Eindrücke Kellers (vgl. Baechtold, Bd. 1, S. 35 und HKKA 31, S. 136), der auch im Grünen Heinrich noch nachwirkt (vgl. HKKA 3, 182.28 und 066.03-10). Den Freischütz verläßt am Vorabend seiner Hochzeit die gewohnte Zielsicherheit, und er wird von den versammelten Zuschauern eines Schützenfestes ausgelacht.
egyptischen Königspaar: In der Zeit der Entstehung von Kleider machen Leute rückte der Orient überhaupt und durch den Bau des Suez-Kanals und archäologische Ausgrabungen insbesondere Ägypten verstärkt ins öffentliche Interesse der Europäer. In der Kunst kam geradezu eine Ägypten-Mode auf (bekanntestes Beispiel: Giuseppe Verdis Aida). – Gedacht ist hier wohl an kolossale Königsfiguren wie die im ägyptischen „Tal der Könige“ (Abu Simbel), die seit 1817 ausgegraben wurden.
Einzug: Ev. Anspielung auf Jesu Einzug in Jerusalem (vgl. Matth. 21,10); vgl. auch 51.32 [48.11].
Thorheit der Welt: Vgl. 1 Kor. 3,19: „Die Weisheit der Welt ist Torheit vor Gott“.
Wenn ein Fürst ... gute Freunde: Zum Stil dieses Satzes vgl. [S. 163].
weinte bitterlich: Einer der vielen Anklänge an die Sprache der Bibel – vgl. den über die eigene Unwahrhaftigkeit beschämten Petrus (Matth. 26,75): „Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“
begann.: Danach findet sich im Manuskript (H2) ein ca. 2 Leerzeilen großer Abstand mit horizontalem Trennstrich (vgl. auch 33.32 [30.28]).
was sind ... Seifenblasen?: Die Tendenz der Fragen zeigt schon Nettchens Parteinahme für Wenzel und gegen Goldach / Seldwyla. Sie formulieren gleichzeitig die nicht beantworteten Fragen der ganzen Erzählung, die an den Leser weitergegeben werden; vgl. [S. 140].
Wenzel: Hier findet sich erstmals statt Nachname, Titel und Beruf einfach der Vor- oder Taufname Strapinskis, also der individuelle statt des Geschlechtsnamens. Der Erzähler nimmt damit den symbolischen Taufakt Nettchens (49.16 [54.32]) vorweg. Von jetzt an ist der gleichsam neu geborene Held nie mehr einfach „Strapinski“ oder „Graf“, sondern trägt „seinen wirklichen Namen“ (vgl. 61.27 [57.25-26]). – Keller hatte hier zuerst mit „W“ angesetzt, dann „Julian“ geschrieben und erst im dritten Ansatz – wohl erst rückwirkend nach 49.16 [54.32]; vgl. auch 19.31 [17.08] – den definitiven Namen eingefügt.
Wenzel! Wenzel!: Erst hier entschied sich Keller für den ‚richtigen‘ Namen seines Helden. Er hatte zuerst noch mit „J“ angesetzt, offenbar zu „Julian“, wie er kurz zuvor (48.27 [45.10]) bereits geschrieben hatte. Die Anrede durch die Geliebte, die den Sterbenden ins Leben zurückruft und ihn gleichsam tauft, wird so auch auf der Textebene zum endgültigen Benennungs- und Identitätsstiftungsakt (vgl. auch unten zu 57.04 [53.06]). Vielleicht klang Keller „Julian“ zu wenig slawisch oder wies zu deutlich auf reale Personen wie Julius / Julian Schramm und Julian Saminski (vgl. [S. 113f.]) oder auf Shakespeares Romeo und Julia hin. Zu den Anklängen des Namens „Wenzel“ vgl. oben zu 19.31 [17.08] .
Da fiel sie über ihn her ... Gesicht: Zur ursprünglichen Fassung der Stelle vgl. [S. 151].
Schleier zurückgeschlagen: Der Schleier, der Nettchen verhüllt, symbolisiert eines der zentralen Themen der Erzählung, die Verhüllung bzw. Enthüllung der Wahrheit. Vgl. z. B. die Rede der personifizierten Wahrheit in Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais (s. auch die Ägypten-Anspielung 44.02 [40.21]):
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe
[...]
Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen
[...]
Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,
Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.
in den Schlitten ... auf dem Tische.: Die Szene ist analog zur Fahrt und Bewirtung am Beginn der Erzählung (12.17ff. [10.08ff.]; vgl. auch die Spiegelung in 42.07-09 [38.29-32]). Keller reproduziert, wie sich hier exemplarisch zeigt, in Kleider machen Leute auch die Grundstruktur des Artus-Romans, in dem ein Protagonist eine außerordentliche Frau gewinnt, sie wieder verspielt und mühsam ein zweites Mal erringen muß: den ‚doppelten Kursus‘.
Kleider machen Leute
Sie: Nettchen wechselt ab hier die höfliche Anredeform, um die zuvor auf falschen Voraussetzungen basierende Nähe aufzuheben und die Möglichkeit und Tragfähigkeit einer weiteren Beziehung nüchtern distanziert prüfen zu können. Während sie die Verfremdung der Gesprächssituation bruchlos wahrt, bis sie sich bewußt wieder für die Nähe entscheidet (57.04 [53.06]), fällt Wenzel zwischendurch einmal aus der Rolle, als ihn die alten Träumereien eines romantischen Glücks mit Nettchen visionär überkommen (52.18-22 [48.28-32]).
bitteren Nacht: Ev. eine Anspielung auf die letzte Nacht Jesu im Garten Gethsemane (Matth. 26,36 ff.) vor seinem Kreuzweg und Tod.
daß nicht viel Anderes zu thun war, als ...: Zuerst hatte Keller geschrieben: „daß ich zu jener Zeit zu schwächlich u zart war für alle ländliche Arbeit, und da die Mutter mich immer nicht fortlassen wollte, blieb nichts anders übrig, als ...“.
Militärdienst ... roter Husar: Ev. Anklang an das Volkslied Der treue Husar, dem in seiner Abwesenheit die Geliebte krank wird und nach seiner Rückkehr in seinen Armen stirbt. – Die Husarenregimente der Preußischen Armee wurden im 19. Jahrhundert nach der Farbe ihrer Uniform unterschieden; die roten Husaren waren ein Garderegiment.
als meine Zeit gekommen: Ev. Anspielung auf Jesu Ausspruch: „Meine Zeit [geopfert zu werden] ist nahe“ (Matth. 26,18; vgl. auch Matth. 26,45, Joh 7,6-8 und Gal 4,4).
aufzutauchen.: An dieser Stelle läßt sich eine längere Pause – am ehesten zwischen 1869 und 1871 – in der Niederschrift (H2) vermuten, wie Walter Morgenthaler anhand des Wechsels im Handschriftenduktus plausibel macht (Morgenthaler 2000, S. 107 f.; vgl. HKKA 21, S. 92, 97); vgl. [S. 116].
Du bist mein: Aus Nettchen, die Wenzel zuvor beim Namen gerufen und damit gleichsam erlöst und getauft hat ( 49.16 [54.32]), spricht hier fast bauchrednerisch die Stimme Gottes zu Jakob bzw. Israel: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes. 43,1)
Des Menschen Wille ist sein Himmelreich: Altes Sprichwort im Sinne von ‚wenn jemand etwas unbedingt will, soll man ihn lassen‘.
Regenbogen: Der Regenbogen war zuvor als Sinnbild der Entwicklung Strapinskis beschrieben worden (33.16-18 [30.12-14]). Nettchen kehrt jetzt gleichsam in sein Wesen und Werden ein und beginnt in ihm zu wohnen. – Der häufig nach einem Unwetter sich zeigende Regenbogen war im Altertum v. a. Symbol der Versöhnung nach einem Streit der Götter untereinander oder zwischen Gott und Menschen, im Alten Testament insbesondere das nach der Sintflut gestiftete sichtbare Zeichen für Gottes Bund mit Israel (1 Mos. 9, 13), im Neuen eines für Gottes Erscheinen beim Jüngsten Gericht (vgl. Offb. 4, 3). Nach altem Aberglauben findet sich Gold, wo der Regenbogen die Erde berührt; vgl. dazu auch Kellers Geschichte von den Regenbogenschüsselchen in Martin Salander (HKKA 8, 035.18-038.18).
Entführung: Die Entführung der schönen Helena aus Sparta durch den trojanischen Königssohn Paris war der Beginn des zehnjährigen Trojanischen Krieges, den Homer in der Ilias beschreibt; die Seldwyler rechnen denn auch bald mit einem „neuen Troja“ (vgl. 61.04 [56.34]). Während ihres Aufenthalts in Troja beschäftigte sich Helena übrigens mit dem Besticken eines prächtigen Gewandes – sie wurde gleichsam zur Schneiderin.
Wilden Mann: In der Volksmythologie des Mittelalters häufige Figur, nach der bis heute zahllose Gasthäuser benannt sind: ein mit dichtem Haarkleid oder Fell bedeckter, meist mit einer Keule und einem Efeukranz um die Hüfte dargestellter kräftiger, in Bergen oder Wäldern hausender dämonischer Mann, dem man Macht über das Tierreich zuschrieb. Sein Charakter wurde meist als unberechenbar, aufbrausend und hemmungslos, seine Sprache und Rationalität dagegen als unterentwickelt dargestellt. In Minnegeschichten dient er oft als Gegenfigur zum zivilisiert-höfisch liebenden Ritter. – Wenzel ist zwar in Wahrheit kein „polnischer Graf aus wildester Ferne“ (37.10-11 [34.01]), anders als die frechen Goldacher „Wildfänge“ (26.18 [23.20]) aber doch der Zähmung bedürftig – und wert. – In Winterthur wie in Zürich gab es ein Gasthaus „Zum Wilden Mann“ (vgl. Wüst 1914, S. 86).
Rechtsanwalt: Von hier an (bis etwa 60.15 [56.13]) paßt sich der Erzählstil phasenweise dem juristischen an – wie Nettchen dem Rechtsanwalt, wenn sie in wohlgesetzter Rede ihre Forderungen durchnummeriert, während ihr Vater gleichsam den Part des Staatsanwalts übernimmt, der auf eine die Ehre wahrende ‚gütliche‘ Einigung drängt (vgl. [S. 144]). – Keller verkehrte von den 1860er Jahren an mit auffällig vielen Juristen und Rechtshistorikern wie Eduard Osenbrüggen, Heinrich Fick, Adolf Exner und Hans Weber; er kannte die Fachbegriffe aber auch von eigener Lektüre und aus den Sitzungen des Zürcher Regierungsrats.
brachte.: Die hier im Manuskript absatzlos anschließenden, sofort wieder gestrichenen Ansätze zeigen, wie die Geschichte erst auf dem Papier entsteht: „Wenzel kam dazu, dessen bescheidenes und ehrerbietiges Benehmen, indem er“ und „Der Rechtsanwalt kam herbei“. Erst im dritten Anlauf findet Keller die endgültige Handlung.
Marchand-Tailleur und Tuchherr: Die Umbenennung des Berufs durch Nettchen spiegelt einen Epochenwandel, der im 19. Jahrhundert den traditionellen Handwerker zum Unternehmer und Spekulant werden ließ. Diese Wandlung spiegelt die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts insgesamt, die Keller in der Vorredet zum zweiten Seldwyla-Band als ein zentrales Thema seiner Erzählungen benannt hat. – Der Niedergang des traditionellen Schneiderhandwerks und das Aufkommen neuer Bezeichnungen äußerte sich auch in zeitgenössischen Liedern, z. B. der Metamorphose des Schneiders :
Die Todten läßt man füglich ruh’n;
Dafür entstand der Kleidermacher,
D’rum lasset eure Witze nun!
Schweigt all ihr Schneiderwidersacher
Ihr habt es sonst mit mir zu thun!
Ehrt die erstandnen Kleidermacher
Und laßt die todten Schneider ruh’n!
Verkümmert das Genie,
Und seit der tailleur schändet unsern Orden,
Entschwand die Poesie.
Daß er nicht auch verdirbt,
O weint um mich, mit welchem ohne Erben
Der letzte Schneider stirbt!
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