GH 3.10

135 Zehntes Kapitel.

Der Schädel.

Das alte Pergament war nun an einen Sammler solcher Stücke mit einigem Vortheil verkauft worden und die Zeit gekommen, wo die Abreise wirklich vor der Thüre stand. Am letzten Tage des Monats April, welcher auf den Sonnabend fiel, packte ich die mitzuführenden Habseligkeiten zusammen, was in unserer Wohnstube einen niegesehenen Auftritt gab und meine Mutter in Aufregung setzte. Eine große Mappe mit den zweifelhaften Früchten meiner bisherigen Thätigkeit lehnte schon in Wachstuch gewickelt an der Wand, zu einigem Troste wenigstens von bedeutendem Gewicht; mitten im Gemache aber stand der geöffnete Koffer, eine kleine Arche von Tannenholz. Auf dem Boden derselben hatte ich bereits eingeschichtet, was ich an Büchern mitnehmen wollte, und mit ihnen auch ein festes Verließ für einen Todtenschädel gebaut, damit er sicher auf dem Grunde verwahrt sei. Dieser Schädel diente seit 136 einiger Zeit zur Zierde meiner Arbeitskammer, sowie auch zum angehenden Studium der menschlichen Gestalt, das für einmal freilich gleich mit dem Unterkiefer ein Ende genommen hatte, so daß ich vorläufig bloß die verschiedenen Kopfknochen zu benennen wußte. Ich hatte den Ueberrest in der Ecke eines Friedhofes bemerkt, wo ihn der Todtengräber seiner Wohlerhaltenheit wegen hingelegt haben mochte; denn es war der Schädel eines jungen Mannes und wies noch alle Zähne auf. In der Nähe lag ein beseitigter alter Grabstein, der vor ungefähr achtzig Jahren errichtet worden mit der Inschrift auf einen dazumal verstorbenen Albertus Zwiehan. Obgleich es keineswegs erwiesen war, daß der Schädel diesem Zwiehan angehört hatte, nahm ich das doch für ein Factum, weil sich laut der handschriftlichen Familienchronik eines benachbarten Hauses die wunderlichste kleine Geschichte mit jenem Namen verband.

Es handelt sich, so viel entwirrbar ist, um den Bastardsohn eines Zwiehans, der lange Jahre in Asien zugebracht hatte und dort verstorben war. Die holländische Person, mit welcher er den Sohn gezeugt, besaß aber von einem verschollenen Menschen noch einen anderen unehelichen Knaben, Namens Hieronymus, den sie mehr liebte, als den jungen 137 Zwiehan, und aus Liebe zu ihr und von ihr überredet, adoptirte er diesen andern Knaben in rechtlicher Form an Kindesstatt, während er hinwieder verabsäumte, das Weib nachträglich zu ehelichen und sein eigenes Kind zu Ehren zu ziehen. Der adoptirte Bastard aber entfernte sich, als er größer geworden, aus dem Hause und verscholl gleich seinem eigenen natürlichen Vater spurlos, und als endlich der alte Zwiehan und seine Beihälterin bald nach einander das Zeitliche segneten, befand sich der erblos gebliebene Sohn Albertus allein bei dem herrenlosen Hause und Gute und zögerte nicht, sich auf geschickte Weise an Stelle des allein erbberechtigten Adoptivsohnes zu setzen, von dem erworbenen Vermögen des Alten zusammenzuraffen, was er konnte, und die asiatische Colonie rasch zu verlassen, um die alte Heimat seines Vaters aufzusuchen.

Da er einst geträumt hatte, sein Halbbruder sei im Meere untergegangen, und fest an seine Träume glaubte, so that er alles dies nicht gerade mit bösem Gewissen, obgleich er schlau genug war, in der alten Vaterstadt, die ihn noch nie gesehen, sein eigenes Dasein zu verschweigen und sich auf Grund der mitgebrachten Papiere für den Andern auszugeben. Er kaufte sich ein geräumiges Haus mit einem stillen freundlichen Garten, in welchem er 138 gar anständig auf und nieder spazierte. Hier wurde er freilich von den Nachbaren neugierig beobachtet, aber ohne daß er es bemerkte, und erst nachdem er sich ordentlich eingerichtet hatte, begann die Nachbarschaft sich zu beleben, wie wenn auf einer Insel für die dorthin verschlagenen Seeleute allmälig die Eingeborenen zum Vorschein kommen. Durch Geschäftsleute wurde es ruchbar, daß der neue Ankömmling ansehnliche Bezüge und Geldanlagen mache, welche auf geregelten Verhältnissen beruhen. So wurde er denn auf der Straße hie und da schon zutraulich gegrüßt, und jenseits der Gasse, welche er bewohnte, belebte sich mehr als ein Fenster, wenn er sich an dem seinigen blicken ließ, um nach dem Wetter zu sehen. In einem schmalen Erker saß den ganzen Tag, mit dem Rücken gegen die Straße gewendet, ein junges Frauenzimmer am Spinnrad, ohne umzuschauen, und er konnte ihr Gesicht nie entdecken. So vergaffte er sich, da er schon seines leidenschaftlichen Ursprungs wegen verliebter Natur war, einstweilen in den zierlichen Rücken der Spinnerin und in die anmuthig geneigte Haltung ihres Kopfes. Als er aber eines Tages, hierüber nachdenkend, auf der andern Seite seines Hauses im Garten weilte, hörte er unversehens von einer weiblichen Stimme den Namen Cornelia rufen, auf welchen im Nachbargarten 139 eine andere Stimme antwortete. Dies wiederholte sich mehrmals während der nächsten Tage, so daß Albertus Zwiehan den Rücken der Spinnerin vergaß und sich in den schönen Namen der unsichtbaren Cornelia verliebte. Denn sie war hinter einer Wand von Jasminbüschen verborgen. Wie erstaunte er aber, als diese plötzlich sich auseinanderbogen und eine weibliche Gestalt auf das Zwiehan'sche Gebiet herübertrat, durch ein bisher unbemerktes Gitterthürchen. Das Haus, zu welchem der jenseitige Garten gehörte, lag nämlich nicht an der gleichen Straße, sondern auf einer andern Seite des ganzen Straßenviertels, und es haftete an beiden Häusern von altersher das Recht des Durchganges durch Gärten, Höfe und Hausfluren, zu gewissen Zwecken und Tageszeiten.

Es war ein nicht eben schönes, aber mit lachenden Augen begabtes längliches Wesen, das vor dem Ueberraschten stand und ihn von der bestehenden Servitut unterrichtete, als die Nachbarin seine Unwissenheit bemerkte. Auch er müsse einen Schlüssel zu dem Pförtchen besitzen, sagte sie ihm; er holte einen Kasten mit allerlei alten Schlüsseln herbei und fand mit ihrer Hülfe richtig denjenigen heraus, welcher in das Schloß paßte. Wie sie so mit spitzen weißen Fingern sich bemühte, betrachtete er mit 140 Wohlgefallen den mägerlichen Wuchs, der durch sehr knappes Gewand fast einen Eindruck von geschmeidiger Fülle machte. Jetzt aber, indem sie ihn mit seinem Namen grüßte und ihm den ihrigen nannte, der auf jenes wohlklingende Cornelia hinauslief, gab sie ihr Anliegen kund. Sie beanspruchte höflich das Recht, von dem reich mit Wasser versehenen Brunnen in seinem Hofe eine bewegliche Leitung nach ihrer Waschküche anzulegen, um für die vorzunehmende große Halbjahrwäsche das Hauptelement zu gewinnen, gemäß dem verbrieften Herkommen. Da Albertus ebenso höflich bat, sich ganz nach Bequemlichkeit einzurichten, eilten alsbald auf ein Zeichen der Cornelia mehrere Waschfrauen herbei mit hölzernen und blechernen Rinnen und Rohren, fügten sie zusammen und stellten einen schwebenden Aquäductum her, mit welchem sie wieder im Gebüsche verschwanden, aus dem sie hervorgebrochen waren. Auch die Cornelia schlüpfte hindurch, nachdem sie sich verneigt hatte, und Herr Zwiehan stand einsam an dem Gerinnsel seines schönen Brunnenwassers und wünschte, mit hinüber gehen zu können. Am andern Tage jedoch erschienen abermals die Wäscherinnen, brachen die Wasserleitung ab und machten einer großen schweren Frau Platz, welche sich jetzt durch das Pförtchen arbeitete. Sie gewährte 141 eine tröstliche Vorstellung davon, wie stattlich dünne Fräuleins mit der Zeit bei guter Nahrung werden können; denn sie gab sich als die Frau Mutter der bewußten Cornelia zu erkennen, welche sich nicht getraue, schon wieder den Herrn Nachbar mit einer Unbequemlichkeit zu belästigen. Es sei nämlich zweifelhaft, ob die Sonne den ganzen Tag scheine, und darum wünschenswerth, die Wäsche in einem Mal zu trocknen, was hinwieder ermöglicht würde durch die Erlaubniß, einen Theil derselben in dem Zwiehan'schen Garten und Hof aufzuhängen. Es sei dies in früheren Jahren auch etwa geschehen, obwol nicht zu einer Servitut erwachsen, wie das Wasserleitungsrecht, und also komme sie selbst pflichtschuldig um die freundliche Vergünstigung anzufragen. Mit großem Vergnügen entsprach Albertus Zwiehan sofort dem Ansuchen, worauf die Frau sich dankend zurückzog und dafür das Fräulein an der Spitze einiger Waschkörbe aus den Jasminbüschen hervortrat, sie selbst das auf eine Kurbel gewickelte Trockenseil tragend. Dieses an den vorhandenen Pfosten, Haken und Baumästen anzubinden reichte jedoch ihre Körperlänge nicht überall aus, so sehr sie sich auch auf die Zehen stellte, und so ergab es sich von selbst, daß Albertus aushalf und das Seil im Zickzack herum führte und festmachte, 142 Cornelia aber dasselbe hinter ihm her trug und abhaspelte. Sie bewegte sich dabei mit viel Anmuth und Lieblichkeit, und der junge Mann wurde darüber so eifrig und warm, daß er hie und da eine Levkoje oder Nelke zertrat. Als es nun an's Aufhängen der Wäsche ging, blieb er in unmännlicher Weise im Garten und war wiederum behülflich, die Körbe zu schleppen und andere Handreichung zu thun. Das Fräulein bemerkte freundlich, daß sie ihre eigene und beste Leibgewandung herüber gebracht und das ältere Zeug jenseits gelassen habe, um auf dem fremden Gebiete nicht allzu schofel zu erscheinen. Der ganze Raum füllte sich also mit ihren Hemden, Strümpfen, Busentüchern und Nachthäubchen, und da eine frische Brise aufging, begann das blüthenweiße Zeug so muthwillig zu flattern, daß alle Hände zu thun bekamen, das luftige Segelwerk festzuhalten.

In großer Aufregung zog er sich nach gethaner Arbeit in seine Zimmer zurück, von deren Fenstern aus er unablässig den inhaltreichen Garten bewachte. Niemand war jetzt dort und Alles still; nur die wie von Luftdämonen beseelten Weiberhülsen säuselten sachte hin und her, bis ein Windstoß sie plötzlich emporwirbelte, die langen weißen Strümpfe gleich Geisterbeinen um sich stießen und schon ein losgerissenes 143 Häubchen wie ein kleiner Luftballon über das Dach wegstieg. Da eilte Albertus Zwiehan besorgt wieder hinunter, um zu retten, was ihm bereits näher zu liegen dünkte, als die eigene Haut. Er schlug sich tapfer mit dem Winde herum; allein die Strümpfe schlugen ihm an die Ohren, die Hemden flatterten um seinen Kopf und verhüllten ihm die Augen und er wurde mit der wilden Leinwand nicht fertig, bis die lachenden Frauen herbeikamen und die Wäsche zusammenrafften.

Einige Tage später wurde er von den Nachbarinnen förmlich zum Kafe eingeladen, um den Dank für seine Gefälligkeit zu empfangen. Zum ersten Mal betrat er den jenseitigen Garten und fand den Tisch in einem offenen Sälchen gedeckt, das hinter der Jasminwand verborgen war. Die alte und die junge Dame beflissen sich auf das Freundlichste um ihn, und nachher mußte er noch in ihre Wohnung hinaufsteigen und sich mit einem kleinen Nachtmahl bewirthen lassen. Natürlich erwiderte er solche Höflichkeiten und lud die Nachbarinnen seinerseits zu einer Gastlichkeit ein, so gut er diese mit Hülfe einer alten Küchenmagd aufzubieten vermochte; kurz es entstand ohne weiteren Verzug ein häufiger Verkehr, und das Fräulein sowol wie Albertus Zwiehan trugen den Schlüssel zum Durchgangsthürchen beständig 144 bei sich. Bald ließ die Mutter ihre Tochter allein mit dem Fremden und sie verloren sich in hundert trauliche Gespräche; Cornelia fragte nach Allem, was Albertus je erlebt oder ihn sonst betraf; er dagegen fühlte sich durch diese Neugierde und Theilnahme geehrt und beglückt und vertraute ihr Alles, um ihre Freundschaft zu erwidern und gewissermaßen sich ganz hinzugeben, ohne allen Rückhalt, sein Herkommen, seinen Besitzstand und sein letztes Geheimniß, das letztere einzig mit der Abweichung, daß sein verschollener Halbbruder wirklich ertrunken sei, statt nur in einem Traume.

Die neue Freundschaft verfehlte nicht ruchbar und als eine bereits abgeschlossene oder wenigstens bevorstehende Verlobung angesehen zu werden. Das bewiesen dem Verliebten einige nicht unterschriebene Briefe, die er nacheinander erhielt und die ihn vor der Verbindung warnten, welche er einzugehen im Begriffe stehe.

Die beiden Frauenzimmer, hieß es, seien nur scheinbar in guten Umständen; in Wirklichkeit hätten sie nichts oder nicht viel mehr, als einen großen Fleiß im Geldborgen, das sie allerdings aus dem Grunde verständen. Sie wüßten es allerwärts so einzurichten, daß man nicht davon spreche, indem sie sich immer edeldenkende und verschwiegene Opfer 145 aussuchten, auch im Nothfall hie und da etwas zurückzahlten auf Kosten dritter Leute; allein die Sache sei dennoch ein öffentliches Geheimniß und man könne nicht zusehen, wie ein so ausgezeichneter Mitbürger, dem die besten Häuser sich aufthäten, in sein Verderben renne. Denn wo eine Untugend hause, sei die zweite und dritte nicht weit, und der Geldmangel sei aller Sünden Angel. Mehr wolle man nicht andeuten.

Als Albertus diese Briefe gelesen, wurde er weder betrübt noch zornig, sondern fröhlichen Herzens, weil er sie für Ausflüsse des Neides hielt und als ein Zeichen betrachtete, daß er nur zuzugreifen brauche, da eine Heirath in der öffentlichen Meinung für so wahrscheinlich und nah bevorstehend galt. Von zärtlichem Mitleide bewegt wünschte er einen angeblichen Nothstand der beiden Frauen als wirklich bestehend herbei, um sich als Hülfespender recht weich in die Arme dankbarer Liebe betten zu können. Selbst für den Fall, daß jene in der That etwas viel Geld brauchen sollten, entwarf er sofort Pläne, seine Mittel nach Nothdurft zu vermehren; er hatte ja ohnedies die Absicht, seine Kenntniß der östlichen Handelsbeziehungen zu verwerthen verwerthen und mit aller Bequemlichkeit und Vorsicht ein Geschäft zu gründen und eine seinen noch jungen Jahren angemessene Thätigkeit 146 zu eröffnen. Mit diesen Gedanken beschäftigt schritt er aufgeregt in seiner Wohnstube umher und arbeitete gleichmäßig den Geschäftsplan und das glänzende Bild der Zukunft aus dem Rohen heraus, wobei ihn immer wärmer das Gefühl eines einflußreichen Beschützers und Retters, eines Beglückers und mächtigen Schöpfers aufschwellte. Um auf diesen Wogen einen Augenblick auszuruhen, stellte er sich an ein Fenster und sah zufällig, wie gegenüber die Spinnerin, die er ganz vergessen, in den Erker trat und eben so zufällig ihn erblickte, ehe sie sich an ihr Rädchen setzte. Schon hatte sie, wie gewöhnlich, ihm wieder den Rücken zugekehrt, der ihm so wohl bekannt war, als sie nochmals umschaute und mit einem langen Blick ihn betrachtend das mysteriöse Gesicht nun voll und ruhig zeigte, das er vorhin nur wie einen Blitz hatte aufleuchten gesehen. Das Antlitz, fast herzförmig, endigte in ein feines kleines Kinn und schien eher wie eine Miniatur auf weißes Elfenbein gemalt als aus Fleisch und Blut zu bestehen; nur der Mund war röthlich wie ein geschlossenes Rosenknöspchen, das viel kleiner erschien, als die großen dunkeln Augen, und alles dies umgab fremdartig eine Hülle von Batistleinwand. Endlich wandte sie sich wieder ab und setzte ihr Rad in Gang; aber als ob sie 147 spürte, daß die Augen des Nachbars an ihr hängen blieben, erhob sie sich und ging nach der dämmernden Tiefe des Zimmers. Dort öffnete sie die Thüre und schritt einen von der Abendsonne durchleuchteten Corridor entlang, bis sie in der jenseitigen Dämmerung wie ein Geist verschwand.

Hiemit lösten sich auch seine vorhinigen Pläne und Luftschlösser in Nichts auf und Albertus hatte sie in diesem Augenblicke schon so vollständig vergessen, als ob statt einiger Minuten hundert Jahre verflossen wären. Er stand und starrte hinüber, wo der Abendschein im Hintergrunde allmälig verblich und die Dämmerung das Zimmer füllte, bis es völlig dunkel war, wie die Stube, in welcher er selber weilte. Nur der Blick jener geheimnißvollen Augen leuchtete noch in seinem Gehirne fort und zwar auch während des nächtlichen Schlafes bis der Morgenstern am Himmel glänzte, dessen Licht seine Augenlider berührt haben mochte; denn er sah es unmittelbar, als er aufwachte. Ihm hatte soeben geträumt, er sitze tief verborgen in dem Gartensälchen der Cornelia zwischen dieser und der unbekannten Spinnerin, die jedoch wie jene seine angetraute Frau sei, und von beiden werde er geliebkos't, während er um Jede von ihnen einen Arm geschlungen hielt. Das schien ihm eine sehr annehmbare 148 und preiswürdige Sachlage zu sein und er hielt sich dabei so still wie die Luft und die reglosen Jasmingebüsche, als plötzlich die Unbekannte sich erhob und ihm mit einem unaussprechlich lieblichen Blicke zuwinkte, ihr zu folgen. Allein die Cornelia umklammerte ihn so fest, daß er sich nicht zu bewegen vermochte und sehen mußte, wie Jene durch einen unendlich langen Baumgang fortschwebte, ein helles Licht in der Hand tragend, welches im Vorübereilen einen Baum nach dem andern beglänzte und wieder im Dunkeln ließ. Zuletzt verschwand sie in der blauen Nacht, in der das Licht allein hängen blieb und das eben der Morgenstern oder Lucifer war, den er beim Erwachen erblickte. Voll unerträglicher Sehnsucht mochte er kaum die schickliche Zeit abwarten, um sich endlich näher nach der Unbekannten zu erkundigen und einen Zugang zu ihr zu finden. Sonderbarer Weise ergriff er zu allererst den Schlüssel des cornelianischen Nachbarpförtchens, schlüpfte hindurch und machte den dortigen Frauen einen Morgenbesuch. Er traf sie am Packen einiger Koffer, da sie auf acht oder vierzehn Tage nach einem kleinen Badeort reisen wollten und die alte Miethkutsche, die sie jährlich dahin brachte, schon erwarteten. Als Zwiehan mit seinen Fragen nach der spinnenden Nachbarin begann, hielt Cornelia 149 ein kleines Weilchen mit ihrer Arbeit inne und sah dem Frager, an einem Koffer knieend, stutzig in's Gesicht. «Das wird wol die Afra Zigonia Mayluft sein!» sagte sie weniger erstaunt als überrascht; denn schon früher hatte sie sich gewundert, daß er die wunderlich schöne Person noch nicht zu kennen schien. Wie sie aber bemerkte, daß er die gehörten Namensworte mit glänzenden Augen wiederholte, unterbrach sie ihn mit der plötzlichen Einladung, sie und die Mutter nach dem Kurorte zu begleiten. Wenn er sich für das Frauenzimmer interessire, fügte sie erröthend hinzu, werde man ihm unterwegs Weiteres mittheilen können, und überdies werde dasselbe, so viel man wisse, in wenigen Tagen auch in das Bad kommen, um mit Freunden zusammen zu treffen. Da habe er dann die beste Gelegenheit, die Schöne in freiem Verkehre zu sehen und kennen zu lernen. Unverzüglich rannte Albertus in seine Behausung zurück, einiges Gepäck zu holen, und eine Stunde später saß er bei den zwei Frauen im Reisewagen und vernahm nun, daß die Fräulein Afra Zigonia Mayluft eigentlich nicht in unserer Stadt gebürtig sei, sondern nur als eine verwaiste Verwandte sich seit einiger Zeit in dem betreffenden Nachbarhause aufhalte und im Uebrigen für eine Fromme und Heilige gelte, ja sogar bereits halb 150 und halb der evangelischen Brüdergemeinde, die man die Herrenhuter nenne, angehören solle. Cornelia und ihre Mutter betrachteten hierauf Herrn Zwiehan genau, um die abschreckende Wirkung zu gewahren, welche sie von diesen Thatsachen erhofften. Aber er schaute nur um so träumerischer vor sich hin, in süßen Gedanken verloren; was er vernommen, schien ihm vielmehr die verlockende Aussicht zu eröffnen, sich an irgend einer unbekannten Glückseligkeit betheiligen zu können. In dem Badeort angelangt, zogen ihn daher seine Freundinnen, um ihn zu zerstreuen, sogleich in einen Kreis lustiger Badegäste, von welchen getrennt eine kleine Gruppe einfach gekleideter Männer und Frauen der Gesundheit pflegte. Immer wurde er andere Wege geführt, als diejenigen, auf welchen diese Stillen in gemäßigten Gesprächen lustwandelten, und so kam es, daß als eines Abends die sogenannte Afra Zigonia in der That angekommen war, er dieselbe erst entdeckte, als sie am andern Morgen früh mit zweien von den religiösen Personen in einen Reisewagen stieg. Er hatte kaum noch die gemessene aber innige Freundlichkeit gesehen, mit welcher die Zurückbleibenden die in Reisekleider gehüllte Gestalt umgaben und begleitet hatten, als der Wagen auch schon davon rollte und bald aus dem Gesichte verschwand, während 151 jene Zurückbleibenden mit andächtig zufriedener Miene an ihm vorübergingen wie Leute, die eine ihnen am Herzen liegende und theure Sache wohl verrichtet haben. «Nun ist das liebe Kind gut aufgehoben!» hörte er sagen, «nun geht sie ihrem Heil entgegen und wird bald in den Gärten des Herrn wandeln!»

Eine unaussprechliche Vorstellung überfiel ihn mit diesen Worten; er eilte beklemmten Herzens, seine Gönnerinnen aufzusuchen und sich nach der Bedeutung des soeben erlebten Vorganges zu erkundigen. Lächelnd theilten sie ihm mit, die Neuigkeit werde just überall besprochen: es heiße, die Afra Zigonia sei nach Sachsen verreist, um in die Brüdergemeinde zu Herrnhut aufgenommen zu werden und dort ihr Leben zu verbringen. «Das ist mein Traum!» sagte er sich; «sie wandelt mit dem Lichte durch die Nacht in den Morgenstern hinein, aber ich lasse mich nicht zurückhalten von dieser Cornelia, sondern folge ihr diesmal nach!» Mit verstellter Ruhe blieb er noch ein paar Tage in dem Bade; dann aber begab er sich ohne Abschied eines frühen Morgens nach Hause, übergab seine Vermögensangelegenheiten dem öffentlichen Notarius, das Haus der Köchin, auch versah er sich mit Geldmitteln und verschwand darauf aus der Stadt, seinem Traumbilde nachzujagen. Da ihm aber die geographischen 152 Verhältnisse der abendländischen Welt nicht geläufig waren und er das Ziel seiner Reise Niemandem verrathen mochte, gelangte er erst nach einigen Irrfahrten in die Gegend von Herrnhut. Er umkreis'te diese Niederlassung der Gottseligen immer näher, drang endlich hinein und bewarb sich um die Aufnahme in ihre Gemeinschaft. Weil er nun weder in seinem Aeußern noch in seiner Sprache, weder in seinen Blicken noch in seinen Bewegungen irgend eine Verwandtschaft oder Kenntniß dessen verrieth, was er erlangen zu wollen vorgab, und sich überhaupt als ein unbeholfener Himmelsbarbar darstellte, so wurde er befremdlich und verdächtig angesehen und nach einigen Fragen mit einer Ablehnung entlassen. Betrübt und unentschlossen stand er da und hatte sogar Thränen in den Augen wegen seiner vergeblichen Reise, als ein Chor lediger Frauen vorüberging, deren letzte die Afra Zigonia war. Als diese ihn erblickte, schien sie ihn zu erkennen oder sich zu besinnen, wo sie den Mann schon gesehen habe; denn sie stand einen Augenblick still, ihn aufmerksam betrachtend, was er sogleich benutzte, sich ihr demüthig grüßend zu nähern und das Bekenntniß zu stammeln, daß er aus heftiger Liebe ihr gefolgt aber mit seiner Bitte um Aufnahme als Bruder abgewiesen sei. Eben so betroffen als mitleidig liebevoll, 153 wie ihm schien, ließ sie ihr Auge auf ihm ruhen, wie von einem inneren Lichte sanft erglänzend und sagte dann mit leiser und doch wohltönender Stimme, ihm sei mehr die Liebe zum Herrn und Erlöser als irdische Liebe von nöthen; aber er solle nicht verstoßen werden und möge einen oder zwei Tage noch im Gasthause warten. Hierauf grüßte sie ihn mit mildem Ernste und ging ihren Schwestern nach. Schon am nächsten Morgen wurde Albertus von einem der Vorsteher aufgesucht und nochmals abgehört und geprüft. Sei es nun, daß er durch die träumerischsüße Hoffnung, die ihn von Neuem erfüllte, ein etwas andächtigeres Aussehen gewonnen, oder daß die Mayluftin einen so bedeutenden Einfluß übte: er wurde auf Probe zugelassen und der untersten Klasse von Neulingen beigesellt, immerhin in der Meinung, daß er sich nach Verlauf einiger Zeit dem Entscheide des Looses über seine endgültige Aufnahme zu unterwerfen habe, wie denn dieses Mittel in wichtigeren Angelegenheiten bekanntlich angewendet wurde, um dem unmittelbaren Kundgeben des göttlichen Willens Raum zu gestatten.

Er mußte nun auf die rechte Art lesen, beten, singen lernen, bescheiden, still und arbeitsam sein und vor Allem über sein sündhaftes und elendiges Wesen nachdenken; da er aber von alledem inwendig nichts fühlte und 154 nur an die, wie er glaubte, von ihm geliebte Afra dachte, so wurde ihm die Sache sehr schwierig und er verrieth sich täglich mit barbarischen Blicken und Worten. Die Geliebte bekam er nur von Weitem in den gottesdienstlichen Versammlungen zu sehen, wo sie in den Reihen der Unvermählten saß, während er im Chore der ledigen Mannsbilder seufzte. Sie schien ihn aber jedesmal mit den Augen zu suchen und einen Augenblick zu betrachten, ob er noch da sei, immer mit jenem großen Kinderblick, der ihn zum ersten Mal schon so plötzlich gerührt hatte. Dann faßte er stets wieder Muth und fuhr in seinem Werke der Heiligwerdung fort. Es gelang aber so kümmerlich, daß nach Verfluß einiger Monate, bevor man weitere Mühen an ihm verschwenden wollte, das Befragen des göttlichen Orakels wirklich angeordnet wurde. In feierlicher Versammlung, in welcher eine kleine Zahl ähnlicher Fälle entschieden werden sollte, beim Schimmer geheimnißvoller Kerzen kniete er abgesondert auf dem Boden, während Gebet und Gesang den Raum erfüllte, bis er an die Urne geführt wurde und in tiefer Stille sein Loos zog. Dasselbe war ihm günstig und entschied für seinen Eintritt in eine etwas vorgerücktere Prüfungsklasse. Als er jetzt wieder in den Reihen der Genossen saß, war er so erschüttert, daß er das 155 Singen und Beten versäumte, welches abermals begann, da nun ein angesehener und vielgereister Missionär an der Stelle kniete, welche Albertus Zwiehan vorhin innegehabt. Bei diesem Missionär handelte es sich darum, ob er eine afrikanische Station mit höchst ungesundem Klima übernehmen dürfe, wie er durchaus begehrte, oder ob er sich mit einer gesünderen Luft begnügen solle, wie die Gemeinde seiner etwas erschöpften Kräfte wegen verlangte. Das Orakel entsprach seinem Begehren, worauf er an den alten Ort zurückkehrte und abermals hinkniete; die Gesänge erschallten von Neuem und Albertus Zwiehan, der sich inzwischen etwas gesammelt, benutzte die wachsende Begeisterung, um den Anblick der Afra Zigonia Mayluft aufzusuchen, die er noch nicht gesehen. Er fand sie nicht an ihrem gewohnten Platze, weil sie still an der Seite des Sendboten kniete, wo das herumschweifende Auge Alberts sie unversehens entdeckte. Denn bei ihr handelte es sich darum, ob es im Willen der Vorsehung liege, daß sie jenem als Ehefrau in die heiße und rauhe Wüste hinaus folgen solle, oder ob ihre Person nicht vielmehr zu fein und zart, zu innerlich und vornehm hiefür beschaffen sei. Aber auch ihre Wünsche erfüllte das Loos, als sie zur Urne geführt wurde, und wie sie nun mit dem Erwählten Hand 156 in Hand zur sofortigen Verlobung schwebte, leuchteten ihre sonst so ruhigen Augen beinah um ein Weniges zu warm und zu hell für die irdische Ursache solchen Glanzes.

Mit offenem Munde und todtenbleich saß Albertus, und nur seine Unfähigkeit, auch nur aufzuathmen oder zu seufzen, verhinderte, daß er eine Aufmerksamkeit erregte. Nachdem alles vorüber, schlich er lautlos auf sein Lager und brachte eine schreckliche Nacht zu; seine ungeschulte, unwissende Selbstsucht würgte ihm wie eine ringelnde Schlange fast das Herz ab; dazwischen sah er immer die Afra mit dem Missionär an der Hand davon schweben. Das war also das Licht, welches sie in jenem trügerischen Traume in der Hand getragen hatte! Ganz abgemattet und niedergeschlagen kam er andern Tages zum Vorschein, so daß er als zum Durchbruche reif erachtet wurde. Um ihn in eine erfrischende Bewegung und Thätigkeit zu versetzen, wurde er zum dienenden Gehülfen eines andern Missionsbeamten bestimmt, welcher auf dem Punkte war, die Niederlassungen in Grönland, Labrador und der Kalmückei zu bereisen. Ohne jeglichen Widerstand ließ er sich dazu vorbereiten und fuhr mit seinem geistlichen Seelenmeister davon, ohne daß er die Afra wieder zu sehen bekommen hätte. Nur 157 ein schön gebundenes, kleines, dickes Büchlein hatte sie ihm zum Andenken gesendet; es enthielt für jeden Tag im Jahr einen Spruch oder Gedicht und überdies war ein Stäbchen von Elfenbein zum prophetischen Zwischenstechen daran befestigt. Mit dem Büchlein in der Hand saß er einige Monate später eines Tages an einem grönländischen Seestrande in der Nähe von St. Jan; schwächlicher Sonnenschein beleuchtete die Gewässer, aus denen hie und da ein Seehund emportauchte. In dieser schläfrigen Lage stach er von ungefähr in das Buch; denn er war von der Arbeit in Magazin und Schreibstube ein wenig ermüdet, und träumte noch so hin, als er eine wunderliche Liederstrophe las: ÷In einem Gärtlein, wo du weißt, Da blüht der Seelen Paradeiß, Da bad't im Brunn' der heilig Geist Die Taubenflüglein silberweiß. Da riecht der himmlische Jasmin, Die Seel' spazieret süß erbaut In Zimmetröslein her und hin, Da küßt der Bräutigam die Braut.¨

Durch die letzteren Zeilen wurde er zuerst halb und dann ganz munter; plötzlich sah er den Garten hinter seinem Hause und in demselben die schlanke Nachbarin Cornelia durch die Jasminbüsche schlüpfen, 158 und obgleich das Büchlein, das er in der Hand hielt, schon seit manchem Jahre gedruckt war, hielt er doch den Liedervers sogleich für eine unmittelbare Eingebung oder vielmehr für einen durch die Afra wunderbar bewirkten Aufruf zur Heimkehr und Heirath mit der Cornelia, die ihm mit jedem Augenblicke, den er darüber nachdachte, wieder wünschenswerther erschien. Aber auch gegen Afra Zigonia empfand er, zum ersten Male seit dem Abenteuer des Loosziehens, ein dankbares Wohlwollen, überzeugt, daß sie weiser sei, als er, und ihn schließlich auf den Weg geleitet habe, den er nie hätte verlassen sollen. Das sei der Sinn ihres Wegganges im Traume und des Lichtes, das sie ihm aufgesteckt. Er packte in der Nacht seine Habseligkeiten zusammen, lief seinen Vorgesetzten davon, fuhr mit einem Walfischfänger südwärts und strebte unaufhaltsam der Heimat zu, wo er an seinem Hause eines Abends anschellte, gerade als er die einst mitgenommene Baarschaft gänzlich aufgezehrt hatte; denn er war jetzt schon im zehnten Monat von Hause abwesend. Er überlegte soeben, ob er, bei anbrechender Dämmerung, noch heute durch das Gartenpförtchen gehen und die verlassene Freundin wohlthätig überraschen solle, als die Hausthüre sich öffnete und ein fremdartiger Mensch vor ihm stand, ein blatternarbiger, 159 gelbbrauner Mann mit gebogener Nase, starkem Schnurrbarte und runden Augen, der als Haustracht türkische Pantoffeln an den Füßen und eine lang herabhängende rothe Kappe auf dem Kopfe trug, wie sie in den Gegenden des mittelländischen Meeres und weiterhin häufig bei Seeleuten gesehen wird. Der fragte nach dem Begehren desjenigen, der geläutet habe.

«In mein Haus will ich!» antwortete dieser verwundert, «ich bin der Herr Hieronymus Zwiehan!»

«Der bin ich selbst,» sagte jener barsch und schlug die Thüre zu.

Noch einige Minuten stand Albertus, bis ihm einfiel, er wolle den Notar aufsuchen, der wol wissen werde, von welchem Insassen sein Haus besetzt sei. Allein der öffentliche Schreiber, der an seinem Abendessen gestört wurde, sah ihn groß an und rief: ob er sich endlich sehen lasse, nachdem er so lange nichts von sich habe hören lassen? (denn damals gab es noch nicht die vielen Publikationsmittel, um einen unbekannt Abwesenden aufzurufen). Im Hause sitze kein Anderer, als der Adoptivsohn und einziger Erbe des verstorbenen Zwiehan, oder wenigstens Einer, der sich gleichmäßig dafür ausgebe, wie Albertus, und ganz die gleichen Schriften besitze. 160 Bereits habe die Mamsell Cornelia So-und-so, die man für die Verlobte des letzteren gehalten, gerichtlich bezeugt, daß sie von Albertus selbst auf dem Wege des Vertrauens das Geheimniß erfahren habe, wie er nicht sein Halbbruder, der ertrunkene Hieronymus, sondern der eigene natürliche Sohn des alten Zwiehans sei. Auf dieses Zeugniß hin habe man dem unvermuthet angekommenen Hieronymus einstweilen den Aufenthalt in dem Hause gestattet; denn wenn es sich so verhalte, so sei nach hiesigem Erbrecht nicht der natürliche Sohn Albertus, sondern der Adoptivsohn rechtmäßiger Erbe und jener könne gehen, wo er wolle, das heißt, insofern er nicht etwa wegen Fälschung des Familienstandes eingesperrt werde. Was er nun dazu sage?

Albertus hatte zwar wenig Ursache mehr, auf seine Träume zu bauen; allein die grimmige Nothwendigkeit zwang ihn, diesmal noch den Hieronymus für ertrunken zu halten; verwirrt und aufgebracht stotterte er, das sei alles nicht wahr und nicht möglich und werde sich leicht aufklären; aber der Notar zuckte die Achseln und ließ sich kaum herbei, dem Unglücklichen aus dem ihm anvertrauten Vermögen etwas Weniges an Geld zu verabreichen, damit er eine Herberge suchen konnte. In der That war der verschollen gewesene Bruder bald nach der 161 Abreise des Albertus in Ostindien unversehens erschienen und den Spuren des letzteren nach der Schweiz gefolgt. Wo er die vielen Jahre sich umgetrieben, wurde nie völlig klar, unter der Hand aber behauptet, er sei bei den Piraten gewesen und habe einen ordentlichen Beutel voll Dukaten zusammengerafft.

Es kam nun zum gerichtlichen Austrag des Streites, welcher von den beiden Halbbrüdern und Bastarden der Adoptivsohn des leichtsinnigen todten Vaters sei. Jeder von ihnen hatte einen Advokaten, der sich um die zu erhoffende Beute tüchtig wehrte, und eine Zeit lang schien bei der Entfernung des ursprünglichen Schauplatzes und dem Mangel an Zeugen der Kampf inne zu stehen, bis der Advokat des Hieronymus, nach Anleitung der Cornelia, einige ältere Männer herbei brachte, welche den alten Zwiehan in seinen jüngeren Jahren, vor der Zeit der Auswanderung, noch wohl gekannt hatten. Diese Männer bezeugten, daß Albertus der eigene Sohn des Alten sein müsse, weil er demselben ihrer deutlichen Erinnerung nach so ähnlich sehe, wie ein Ei dem andern, wodurch der Streit zu Gunsten des wahren Hieronymus entschieden und dieser in das ganze Erbe, wie Albertus es hergeschleppt hatte, eingesetzt, der letztere aber wegen 162 seines betrüglichen Vorgebens, zwar mit Annahme mildernder Umstände, für ein Jahr in's Gefängniß geworfen wurde. So war Albertus Zwiehan um sein natürliches Recht gekommen und sah den Abkömmling eines wildfremden Abenteurers, der selbst ein solcher war, durch die Schuld seiner leiblichen Mutter in den Besitz des ganzen von seinem Vater erworbenen Vermögens gebracht, während er selbst ein Bettler geworden. Cornelia dagegen, deren schön klingender Name einst den einfältigen Albertus so bestochen hatte, vermählte sich unverzüglich mit dem Piraten, dessen mangelhafte und rauhe Sitten sie nicht abschreckten. Um den unglücklichen Albertus auch nach Verbüßung seiner Strafe noch weiter quälen zu können, beredete sie ihren Mann, ihn um Gotteswillen in das Haus aufzunehmen, was auch geschah. Er mußte nun die Arbeit eines Knechtes oder eher einer Magd verrichten; denn er besaß zunächst nicht einen Pfennig, mit welchem er hätte verreisen oder ein Geschäft beginnen können, und war daher genöthigt, sich Allem zu unterziehen. Unkraut jäten, Salat putzen, Wasser tragen ärgerten ihn weniger, als das Einrichten jener Wasserleitung und das Aufhängen der Wäsche, zu welchem ihn die Madame Cornelia Zwiehan regelmäßig mit boshaftem Lächeln anhielt. Eine Abwechslung gewährte 163 ihm das Abschreiben der Familienchronik, welche im Besitze einer alten Frau von Zwiehanscher Abstammung war und dem Hieronymus Zwiehan geliehen wurde. Dieser als der letzte nun legitime Stammhalter des früher nicht unbedeutenden Geschlechtes wollte sich auf dem Wege der Abschrift seiner Vorfahren versichern, da die eigensinnige Alte das Dokument nicht abtrat. Er selbst verstand nicht deutsch zu schreiben, und die Cornelia, die sich ganz einem bequemen Wohlsein ergeben, weigerte sich, die Copie anzufertigen.

Durch das Abschreiben lernte Albertus erst Ansehen und Würde der Familie kennen, aus welcher er abstammte und nun verstoßen war; denn nicht einmal seine Eigenschaft als illegitimer Abkömmling konnte er beweisen, weil hiefür nicht eine einzige Urkunde mehr vorhanden war. Durch die Unterdrückung seines wahren Familienstandes hatte der arme Thor sich selbst heimatlos gemacht, und die Aehnlichkeit mit seinem Vater, welche hingereicht, ihm das Erbe zu rauben, wurde nicht für genügend erachtet, ihm Namen und Bürgerrecht des Vaters zu verschaffen, weil hierüber kein Spruch und keine Notiz vorhanden war.

Um wenigstens eine Spur von seinem Dasein zu hinterlassen, schrieb er heimlich sein Schicksal in 164 das Original der Aufzeichnungen hinein, wozu eine Reihe leer gebliebener Blätter genügenden Raum bot, und brachte das Buch nach beendigter Arbeit sofort jener Alten zurück. Sie las die eingeschaltete Geschichte mit aller Theilnahme, besonders da sie den neuen Stammhalter nicht leiden konnte, und als Albertus Zwiehan bald darauf aus Verdruß über den Verlust seines Daseins, ja seiner Person und Identität krank wurde und starb, ließ sie ihm einen Grabstein setzen und schrieb in die Chronik, mit ihm sei der letzte wirkliche Zwiehan begraben worden und was allfällig in Zukunft noch unter diesem Namen herumlaufen werde, sei die Abkommenschaft eines landstreicherischen fremden Seeräubers.

Es war eine warme Sommernacht, als ich mich dazumal über die Kirchhofmauer schwang und den Schädel, den ich mir bei Anlaß eines Leichenbegängnisses gemerkt, abholte. Er lag in einem hohen grünen Unkraut, die Kinnlade daneben, und war inwendig von einem schwachen bläulichen Lichte erhellt, das leise durch die Augenhöhlen drang, wie wenn das leere Kopfhäuschen des Albertus Zwiehan, insofern es wirklich das seinige gewesen, noch von einstigen Traumgeistern bewohnt wäre. Zwei Glühwürmchen saßen nämlich darin, vielleicht in Hochzeitsgeschäften; ich nahm jedoch an, es seien 165 die Seelen der Cornelia und der Afra, und steckte sie zu Hause in ein Fläschlein mit Weingeist, um ihnen endlich den Garaus zu machen; denn ich glaubte fest, auch die fromme Afra habe den unhaltbaren Menschen absichtlich mit ihrem Rücken angelockt und irregeführt.

Nachdem der Grund des Reisekastens, mit dem eingemauerten Todtenkopfe, dermaßen gelegt war, kam die Mutter heran, um die neue Leibwäsche in gebührlicher Weise hineinzuschichten und mir die solchen Dingen zukommende Sorgfalt einzuprägen. Alles, was sie zum Vorschein brachte, hatte sie selbst gesponnen und weben lassen, eine Anzahl feinere Hemden noch in jungen Jahren; denn da der Anwachs des Hauses so früh abgebrochen worden, so waren die Vorräthe ihres Fleißes zum guten Theile verschont geblieben, und ich nahm auch von diesem wiederum nur einen Theil mit, indessen die Mutter das Uebrige für meine, wie sie hoffte, rechtzeitige Rückkehr zur Erneuerung bereit hielt.

Dann kam ein Feiertagskleid, zum ersten Mal in anständigem Schwarz; galt es ja nun, nicht durch Verletzung der Sitte vom Wege des guten Fortkommens abgedrängt zu werden; überdies glaubte die Mutter, daß ich durch den Besitz eines Sonntagskleides eher im Zusammenhange mit der göttlichen 166 Weltordnung leben würde, wie sie sich auch nicht vorstellen mochte, daß ich in fremden Ländern einstmals Sonn- und Werktags im gleichen Rocke herumlaufen könnte. Sie wiederholte daher während des Packens die schon oft ertheilten Ermahnungen über das Instandhalten der Kleider, wie mit einer einmaligen Vernachlässigung, einem kurzen Mißbrauche schon der frühe Untergang eines Stückes eingeleitet würde, und wie wenig ehrenhaft es sei, einen weggelegten Rock später aus Armuth doch wieder anziehen zu müssen, anstatt ihn von Anfang an zu schonen und möglichst lang in einem ordentlichen Mittelstande zu erhalten. Hiedurch verschaffe man dem Schicksal genügenden Spielraum, sich zu wenden, während beim schnellen Ruiniren eines Kleides ja gar nichts Rechtes vorgehen könne, eh' es abgetragen und verlöchert sei.

Nachdem endlich die übrigen Gewandstücke, sowie die Ausstattung an kurzer Waare hineingebreitet und allerlei Werthlosigkeiten des ärmlichen Bedürfnisses dazwischen gesteckt worden, schlossen wir den Koffer und ein Mann schaffte die kleine Arche zur Post, mit welcher ich am nächsten Morgen abreisen sollte. Mit Schreck blickte die Mutter, die sich gesetzt hatte, auf den leeren Fleck des Stubenbodens, auf welchem der Kasten den ganzen Tag gestanden; 167 auch die Mappen waren schon weggetragen und somit von Allem, was mich anging, nur noch meine Person, und auch die blos für eine kurze Nacht vorhanden. Aber die Mutter überließ sich nicht lange diesem Vorgefühl der Einsamkeit, sondern raffte sich, da es Sonnabend war, nochmals auf, um die Stube in gewohnter resoluter Weise zu reinigen und nicht zu ruhen, bis Alles gethan war und die stille Sauberkeit der Sonntagsfrühe harrte.

Die stieg denn auch mit dem schönsten Maientag herauf, als ich mit dem ersten Morgengrauen erwacht und aus der Stadt auf eine benachbarte Anhöhe gelaufen war, nur um in meiner Ungeduld die Zeit zu verbringen und den letzten Blick auf die Heimat zu werfen. Ich stand unter den Vorbäumen des Waldes; hinter demselben lag der Osten mit dem erschimmernden Morgenroth; zugleich aber erglühten die obersten Spitzen, Kämme und Wände des Hochgebirges im Süden, die dem Osten zugekehrt waren, in ungewohnten Formen, da ich sie zufällig nie so gesehen. Abstürze und Klüfte, allmälig auch ganze hochliegende Gefilde und Ortschaften kamen zum Vorschein, von denen ich keine Vorstellung gehabt; und als endlich auch die alten Kirchen der mir zu Füßen liegenden Stadt durch irgend einen Bergeinschnitt östlich beglänzt wurden, 168 dazu ein wolkenloser Aether sich über das Land ergoß und rings um mich her der Gesang der Vögel ertönte, da erschien mir diese Heimat so neu und fremdartig, als ob ich sie, statt sie zu verlassen, erst jetzt kennen zu lernen hätte. Es war einer jener Fälle, wo ein Altgewohntes, Naheliegendes erst in dem Augenblicke, in welchem wir uns von ihm wenden, einen ungekannten Reiz und Werth enthüllt und die schmerzliche Erfahrung unserer Flüchtigkeit und Beschränktheit wach ruft. Hier reichte der bloße Umstand, die Sache einmal im wörtlichsten Sinne von der anderen Seite beleuchtet zu sehen, hin, mir den Abschied zu erschweren und ein Gefühl der Reue und Unsicherheit zu erwecken, ja mich den fruchtlosesten aller Vorsätze fassen zu lassen, ein fleißiger Frühaufsteher und Zeitbenutzer zu werden, wie wenn ich ein Ackersmann, Jäger oder Soldat wäre, die allerdings mit der ersten Morgenfrühe auf's Feld gehören. Als ein Zeugniß meines Vorsatzes und der besseren Pflichttreue hob ich das weiß und blau gestreifte Federchen eines Hähers vom Boden auf, welches die Farben unsers alten eidgenössischen Standes zeigte, und steckte es auf meine Sammetmütze. Damit eilte ich wieder in die Stadt hinunter, in deren Gassen jetzt die Morgensonne webte und die ersten Kirchenglocken erklangen. Während 169 die Mutter das letzte Frühstück bereitete, machte ich den Umgang, mich bei den Hausgenossen zu verabschieden, welche die einzelnen Stockwerke als Miether bewohnten.

Zu unterst hauste ein Spenglermeister, ein Bearbeiter jenes nützlichen Materials, das an sich fast werthlos, nur durch unendliches Schneiden, Klopfen und Löthen etwas wird und nie zum zweiten Male gebraucht werden kann. Es beruht somit alles auf der zuwege gebrachten Form, mit welcher tausend hohle Räume umschlossen werden, und da wegen des geringen Stoffes Niemand viel Geld daran wenden will, auf einer von früh bis spät andauernden rastlosen Arbeit, damit durch die Menge des Gehämmerten ein bedürfnißgemäßer Ertrag ermöglicht wird. Hiedurch, sowie durch die stäte Vorsicht, welche beim gefährlichen Anschlagen von Dachrinnen erforderlich ist, war der Meister ein etwas grämlicher Formalist geworden, der, streng gegen seine Gesellen, mit Frau und Kindern auch nicht freundlich that. Aus mißtrauischer Bescheidenheit hatte er nie gewagt, etwa einen Verkaufsladen zu eröffnen und sein Geschäft auszudehnen, sondern beschränkte sich darauf, in seiner dunkeln Werkstatt, die in einer entlegenen Gasse lag, vom frühsten Morgen bis in die Nacht zu arbeiten, auch wenn 170 seine Gesellen schon im Bette oder im Wirthshaus waren. Er bezahlte den Miethzins immer pünktlich und verhielt sich der Mutter gegenüber gut und geziemend; mich aber sah er mehr von der Seite an und behandelte mich abgemessen und trocken, weil er, wie ich längst bemerkt, mein bisher so freies und sorgenloses Leben, meinen Beruf, überhaupt alles, was ich that, mißbilligte. Um so überraschter war ich, als er mich jetzt ganz aufgeräumt und freundschaftlich empfing und seine unverhoffte Heiterkeit durch ein frisch rasirtes Gesicht und sonntäglichen Anzug noch verklärt wurde, was ihn freilich nicht hinderte, einen kleinen Knaben durch eine Ohrfeige schnell zum Weinen zu bringen, der, beim Frühstück sitzend, noch mehr Milch verlangte. Gleich darauf begann auch ein Mädchen unterdrückt zu schluchzen, das er plötzlich am Zopf gezerrt, weil es sein Brot hatte auf die Erde fallen lassen. Nachdem auf einen strengen Blick des Mannes die Frau sich mit den Kindern in die Küche zurückgezogen, besprach er in heiterem Ton meine Reise, die Städte, welche ich sehen würde, die Wahrzeichen derselben, die ich besichtigen solle, und nannte mehrere, wie die Handwerksburschen auf der Wanderschaft sie sich zu überliefern pflegen, hier einen steinernen Mann, dort einen schiefen Thurm, anderswo einen hölzernen 171 Affen am Rathhaus. Dann brachte er Speis und Trank zur Sprache, was hier oder dort gut zu trinken oder zu meiden sei, die leckeren Nationalgerichte, die er nie vergessen und auf die ich stoßen werde, je nach Landesart. Da möge ich mir nichts abgehen lassen.

Bedächtig schritt er unversehens zu seinem Schreibtisch, nahm ein Papierchen heraus, in welches ein Brabanterthaler gewickelt war, und überreichte es mir als bescheidenes Reisegeschenk, wie er sagte, mit der Aufforderung, es mit guter Gesundheit fröhlich zu verzehren. Ich durfte es nach der Sitte nicht ablehnen, sondern behielt es mit höflichem Dank in der Hand und stieg eine Treppe höher. Später habe ich erst erfahren, welche Bewandtniß es mit seiner Freundlichkeit hatte. Er war so fröhlich und scheinbar wohlwollend, weil er der Ueberzeugung lebte, ich werde nun lernen, was Leben und Arbeiten sei, und in der Schicksalsschule, der ich so harmlos entgegenreise, gehörig gemaßregelt werden; denn es war mit den nationalen Leckerbissen, die er auf der Wanderschaft genossen haben wollte, nicht weit her; Hunger und Durst hatte er gelitten und jegliche Noth durchgemacht, nicht aus eigenem Verschulden, sondern aus Unstern. Sein heiterer Abschied war daher eine Art Verwünschung, die er mir auf den 172 Weg gab, obgleich zu meinem Besten, wie er meinte.

Auf dem nächsten Stocke, den ich nun besuchte, wohnte ein kleiner Mechanikus, welcher mit allerlei volksthümlichen Genauigkeitswerkzeugen, wie Wagen, Maßstäben, Zirkeln, dann mit Kafemühlen, Waffeleisen, Aepfelschälmaschinen handelte, dergleichen auf Verlangen auch ausbesserte mit Hülfe eines alten Arbeiters. Zugleich aber bekleidete er das Amt eines Eichmeisters über einen Kreis, prüfte Maß und Gewicht und kerbte, schlug und schliff die Zeichen in die betreffenden Gegenstände. Vorzüglich mit den vielen Schenkwirthen führte er einen beständigen Krieg, wenn sie mit allen Ränken und öfterem Wechsel ihres Glasgeschirres das Gesetz zu umgehen suchten. Nun trieb ihn die Leidenschaft, nicht nur darüber zu wachen, daß das Geschirr richtig geeicht sei, sondern auch darüber, daß es gehörig gefüllt werde, und er zog von einem Wirthshaus in's andere, um nachzusehen, wo das Getränke unter dem Strich blieb und die Gäste sich das gefallen ließen. Bei dieser Gelegenheit verlor er selbst das Maß und verfiel einem Trinken unzähliger halber Schöppchen, aus dem er sich nicht mehr losnesteln konnte, so genau und scharf er auch jedes einzelne betrachtete, bevor er es zu sich nahm. Noch 173 unrasirt und im Werktagshabit wartete er jetzt auf seinen Morgenkafe, welchen die Frau still bereitete; denn sie hielt mit ihren spitzigen Strafreden klug zurück, bis der letzte Rest der Weinlaune, aus welchem er noch Kraft zum Widerstande schöpfen konnte, abgestorben und nur noch die Schwäche übrig war, die sie jeden Tag nutzlos mit Worten zusammenhieb. Der Eichmeister goß in ein cylindrisches Gläschen, das zum Ausgleichen und Abwägen kleiner Mengen diente, etwas Kirschgeist, da die Frau aus Neid oder Bosheit sein letztes Kelchgläschen zerbrochen habe.

Diese metrische Erquickung setzte er mir vor, während er sich selbst einen tüchtigen Schluck in ein größeres Glas schenkte als willkommenes Mittel, den Zustand seiner Wehrbarkeit etwas zu verlängern. Im ungekämmten Haare kratzend sah er mich aus gerötheten Augen blitzelnd an, seufzte und beklagte die Unsitte, sich den Sonntag Morgen immer durch das lange Sitzen in der Samstagsnacht zum Voraus zu verderben. Dann sagte er:

«Ich bin Euerer Mutter, Herr Lee, noch den letzten Hauszins schuldig; es wäre daher nicht schicklich, wenn ich Euch ein noch so bescheidenes Reisegeschenk anbieten wollte. Dafür will ich Euch aber einen guten Rath auf den Weg geben, der Euch, 174 insofern Ihr ihn befolget, nützlich sein wird. Haltet immer auf rechte Gesellschaft und einen fröhlichen Sinn; aber Ihr möget reich oder arm, beschäftigt oder müßig, geschickt oder ungeschickt sein, geht niemals am Tage in's Wirthshaus, sondern wartet den Abend ab! Das ist der Standpunkt eines gesitteten und gebildeten Mannes, was ich leider nicht mehr bin! Und auch am Abend gehet eher spät als früh; es giebt nichts, das so ehrbar und angenehm wäre, als der zuletzt erscheinende Gast, vorausgesetzt, daß er nicht aus andern Wirthshäusern kommt. Freilich kann nicht Jeder nach dieser Ehre trachten, weil auch einer oder mehrere die Ersten sein müssen, andere die Mittleren u. s. w.; dann aber nehmt Euer beschiedenes Maß entschlossen zu Euch und brecht eben so entschlossen wieder auf, oder wenigstens hockt nicht mit langweiligem Geschwätz vor leeren Gläsern; lieber lasset diese nochmals füllen, als daß Ihr dem Wirthe auf so niederträchtige Art die Nacht stehlet, wie die Tagediebe dem Herrgott den Tag! Und nun will ich Euch zum guten Abschied noch eichen, daß Ihr in allen Dingen Maß haltet!»

Er holte ein längliches Futteral herbei, nahm aus demselben ein amtliches Urmaß, fein aus glänzendem Messing gearbeitet, legte es mir an den Hals und sagte:

175 «Bis hier hinauf und nicht weiter dürfen Glück und Unglück, Freude und Kummer, Lust und Elend gehen und reichen! Mag's in der Brust stürmen und wogen, der Athem in der Kehle stocken! Der Kopf soll oben bleiben bis in den Tod!»

Da der blanke Metallstab sich kalt anfühlte, so hatte ich am Halse die Empfindung, wie wenn eine gebieterische Einwirkung in der That stattgefunden hätte, und ich wußte nicht, ob Thorheit oder Weisheit aus dem Manne sprach. Auch lachte er gleich mir, als er sich zu seinem Frühstück setzte und ich meines Weges weiterging.

Nun kam ich an eine verschlossene Thüre, was ich eigentlich hätte vermuthen können. Dort wohnte nämlich ein unverheiratheter kleiner Beamter, der jeden Sonntag, wenn das Wetter es irgend erlaubte, früh wegging und den ganzen Tag fortblieb, um ja nicht zu irgend einer unvorhergesehenen Verrichtung oder Arbeit geholt zu werden. So warf er auch jeden Tag, sobald es sechs Uhr schlug, die Feder weg und verließ das Lokal, mochte die Arbeit noch so dringend sein. Den Posten, den er bekleidete, verfluchte er unablässig, obgleich er ihm Jahre lang nachgelaufen war und fast kniefällig darum angehalten hatte. Er nannte sich ein Opfer «enttäuschter Grundsätze» und besuchte nur solche Gesellschaften, 176 wo seine Vorgesetzten geschmäht wurden, und er verbreitete dort die Meinung, daß er nicht an bessere Stellen befördert werde, weil er den Rücken nicht zu beugen verstehe. Der eigentliche Grund seines Sitzenbleibens war freilich die Unfähigkeit, etwas Besseres zu leisten, wie er ja schon durch seine Redeblume der «enttäuschten Grundsätze» bewies, daß ihm die Kenntniß des richtigen Sprachgebrauchs fehlte. Trotz aller Unzufriedenheit hing er aber wie eine Klette an seinem Posten und wäre mit Feuerhaken nicht von demselben loszureißen gewesen; denn er gewährte ihm, wenn auch kein glänzendes, so doch ein sicheres und gemächliches Auskommen. Auch hütete er sich, da seine Trägheit eine vorsätzliche war und er es in diesem Punkte halten konnte, wie er wollte, er hütete sich vorsichtig, unter die Linie hinabzugehen, wo er weggeschickt worden wäre, wogegen er sich aus periodischen Verweisen und Aufmunterungen nichts machte. Ich liebte diesen Hausgenossen um so weniger, als er zuweilen ein stiller Vorwurf für mich war, trotz seines keineswegs mustergültigen Charakters; denn meine Mutter hatte, im Hinblick auf sein sorgloses und geruhiges Leben, schon mehr als einmal die schüchterne Frage aufgeworfen, ob es doch nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn wir, dem Rathe jenes Magistraten 177 folgend, eine solche Laufbahn gewählt hätten, auf der ein so dummer Kerl so behaglich einherwandle, während ich in die weite Welt müsse und nicht wisse, wie es mir ergehen werde. Ich hatte mich aber begnügt, auf die miserable Figur hinzuweisen, die ein solcher Kerl mache, der nichts Höheres kenne und nichts erfahren habe. Als ich nun vor der Thüre stand, an welcher ein artiges Messingplättchen seinen Namen und den Titel seines Aemtchens zeigte, hörte ich im Innern den Pendelschlag der Wanduhr langsam und friedlich hin und her gehen. Es herrschte eine so tiefe Stille und Ruhe in dem Gemach, daß die Uhr sich der Abwesenheit des unzufriedenen Gesellen förmlich zu freuen schien. An dem Thürpfosten lehnend horchte ich eine Weile dem eintönig vielsagenden Liede der Zeitmesserin, die niemals denselben Augenblick zweimal mißt. Ich hörte wol etwas heraus, aber nicht das Rechte, weil ich jung war, und stürmte endlich in unsere eigene Wohnung hinauf.

Dort harrte die Mutter mit der letzten kleinen gemeinsamen Mahlzeit, die sie bereitet; die nächste sollte sie nun allein verzehren. Die Morgensonne erfüllte das Gemach mit ihrem Scheine und ich betrachtete, als wir einsilbig am Tische saßen, durch die Stille wie befremdet, die schlichten weißen Vorhänge, 178 das alte Wandgetäfer, das Hausgeräthe, wie wenn ich alles dies nie wieder sehen sollte. Das Frühstück war etwas reichlicher als gewöhnlich bedacht, einestheils damit ich nicht in den nächsten Stunden schon hungrig zu werden und Geld auszugeben brauchte, anderntheils weil die Mutter sich mit dem Reste den übrigen Tag hindurch nähren und heute für sich allein nicht mehr kochen wollte. Als sie das beiläufig sagte, ward ich ganz betreten und wollte erwidern, sie müsse das ja nicht thun, wenn ich nicht eine traurige Vorstellung mit mir nehmen sollte. Allein ich brachte kein Wort hervor, an dergleichen Aeußerungen nicht gewöhnt, indessen die Mutter nach Worten suchte, um diejenigen letzten Ermahnungen an mich zu richten, die sonst einem Vater obliegen. Da sie aber die Welt nicht kannte, noch die Thätigkeiten und Lebensarten, denen ich entgegenging, und doch wohl fühlte, daß etwas nicht richtig sei in meinen Geschichten und Hoffnungen, ohne daß sie nachweisen konnte, worin es lag, so beschränkte sie sich schließlich auf den kurzen Zuspruch, ich solle Gott nie vergessen. Dieses Allgemeine, welches freilich alles umfaßte und ausdrückte, was sie mir hätte sagen können, weil ich ein ungebrochenes theistisches Glauben und Fühlen in mir trug, nahm ich mit dem Schweigen entgegen, 179 das von selbst eine Bejahung ist. Und da zugleich die Kirchenglocken einfielen und eine um die andere rasch zusammenklangen, so blieb jenes Wort das letzte zwischen uns gesprochene; denn die Minute war da, wo ich aufzubrechen hatte. Ich sprang auf, nahm Mantel und Tasche und gab der Mutter die Hand zum Lebewohl. Unter der Stubenthüre, als sie mich begleiten wollte, drängte ich sie sanft zurück, zog die Thüre zu und eilte allein auf die Post, von wo ich bald darauf in einem der schweren mit fünf Pferden bespannten Eilwagen saß, die jeden Morgen im Trabe die steilen, schlecht gepflasterten Gassen der Bergstadt hinunter rasselten.

Etwa fünf Stunden später fuhr ich über eine lange hölzerne Brücke. Als ich mich aus dem Schlage bog, sah ich einen starken Strom unter mir daher ziehen, dessen an sich klargrünes Wasser, das junge Buchenlaub, das die Uferhänge bedeckte, sowie die tiefe Bläue des Maihimmels vermischt widerstrahlend, in einem so wunderbaren Blaugrün heraufleuchtete, daß der Anblick mich wie ein Zauber befiel und erst, als die Erscheinung rasch wieder verschwand und es hieß: «das war der Rhein!» mir das Herz mit starken Schlägen pochte. Denn ich befand mich auf deutschem Boden und hatte von jetzt an das Recht und die Pflicht, die Sprache der 180 Bücher zu reden, aus denen meine Jugend sich herangebildet hatte und meine liebsten Träume gestiegen waren. Daß es nicht in meinem Erinnern leben konnte, ich sei nur von einem Gau des alten Alemaniens in den andern hinüber, aus dem alten Schwaben in das alte Schwaben gegangen, dafür hatte der Lauf der Geschichte gesorgt, und darum war mir das herrliche Funkeln der grünblauen Flamme des Rheinwassers wie der Geistergruß eines geheimnißvollen Zauberreiches gewesen, das ich betreten.

Ich sollte freilich auf unerwartete Weise aus solchen Träumen geweckt und meine Weiterreise zur seltsamsten Pönitenzfahrt werden, die je Einer gemacht. Denn bei der ersten Wechselstelle der nachbarländischen Post lag auch die Zollstätte mit dem fürstlichen Kronwappen, und während das Gepäck der übrigen Reisenden kaum geöffnet und leichthin geprüft wurde, erregte mein unförmlicher Koffer eine genauere Aufmerksamkeit der Zollbeamten; was am gestrigen Abend so sorglich eingepackt worden, mußte unbarmherzig herausgenommen und auseinander gelegt werden bis auf die Bücher am Grunde und diese wurden erst recht abgedeckt. So kam der Schädel des armen Zwiehan zu Tage und erweckte wiederum eine Neugierde anderer Art, kurz, es 181 wurde nicht geruht, bis der ganze Inhalt meiner Kiste auf dem fremden Boden umher gestreut lag. Mit kaltem Lächeln schauten sodann die martialischen Grenzwächter zu, als ich hastig und bekümmert meine Habseligkeiten wieder in den Kasten warf und preßte und kaum alles unterbringen konnte, während die übrigen Reisenden bereits im neuen Postwagen saßen und der Wagenführer mich zur Eile antrieb. Er half mir noch den Deckel zudrücken und schließen, und als die Bediensteten das schwere Möbel wegtrugen, lag richtig der Schädel auf der leeren Stelle und war, hinter dem Koffer versteckt, vergessen worden. Er hätte auch nicht mehr Platz gefunden. So hob ich ihn denn auf, nahm ihn unter den Arm, trug ihn zum Wagen und hielt ihn auf der ganzen Reise auf dem Schoße, in ein Tuch gewickelt, das ich für etwaigen Nachtfrost zum Schutze des Halses mit mir führte. Eine Art natürlicher Pietät oder Gewissensfurcht hielt mich ab, das unbequeme Wesen unterwegs auf gute Weise wegzuwerfen oder zurück zu lassen, nachdem ich es einmal zu leichtsinnig vom Friedhofe geraubt hatte; wie ja auch der verworrenste Mensch immer noch Anlaß findet, mit einem Zuge der Menschlichkeit, wenn auch noch so wunderlich angewendet, sich auszuweisen.

Mit dem Sonnenuntergange des zweiten Tages 182 erreichte ich das Ziel meiner Reise, die große Hauptstadt, welche mit ihren Steinmassen und großen Baumgruppen auf einer weiten Ebene sich dehnte. Meinen verhüllten Todtenkopf in der Hand suchte ich bald das notirte Wirthshaus und durchwanderte so einen guten Theil der Stadt. Da glühten im letzten Abendscheine griechische Giebelfelder und gothische Thürme; Säulenreihen tauchten ihre geschmückten Häupter noch in den Rosenglanz, helle gegossene Erzbilder, funkelneu, schimmerten aus dem Helldunkel der Dämmerung, wie wenn sie noch das warme Tageslicht von sich gäben, indessen bemalte offene Hallen schon durch Laternenlicht erleuchtet waren und von geputzten Leuten begangen wurden. Steinbilder ragten in langen Reihen von hohen Zinnen in die dunkelblaue Luft, Paläste, Theater, Kirchen bildeten große Gesammtbilder in allen möglichen Bauarten, neu und glänzend, und wechselten mit dunkeln Massen geschwärzter Kuppeln und Dächer der Raths- und Bürgerhäuser. Aus Kirchen und mächtigen Schenkhäusern erscholl Musik, Geläute, Orgel- und Harfenspiel; aus mystisch-verzierten Kapellenthüren drangen Weihrauchwolken auf die Gasse; schöne und fratzenhafte Künstlergestalten gingen schaarenweise vorüber, Studenten in verschnürten Röcken und silbergestickten Mützen kamen 183 daher, gepanzerte Reiter mit glänzenden Stahlhelmen ritten gemächlich und stolz auf ihre Nachtwache, während Courtisanen mit blanken Schultern nach erhellten Tanzsälen zogen, von denen Pauken und Trompeten herabtönten. Alte dicke Weiber verbeugten sich vor dünnen schwarzen Priestern, die zahlreich umhergingen; in offenen Hausfluren dagegen saßen wohlgenährte Bürger hinter gebratenen jungen Gänsen und mächtigen Krügen; Wagen mit Mohren und Jägern fuhren vorbei, kurz, ich hatte genug zu sehen, wohin ich kam, und wurde darüber so müde, daß ich froh war, als ich endlich in dem mir angewiesenen Zimmer des Gasthofes Mantel und Todtenkopf ablegen konnte.

 


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