GH 3.01

Dritter Band.

001 Erstes Kapitel.

Arbeit und Beschaulichkeit.

Ich schlief fest und traumlos bis zum Mittag; als ich erwachte, wehte noch immer der warme Südwind und es regnete fort. Ich sah aus dem Fenster und erblickte das Thal auf und nieder, wie Hunderte von Männern am Wasser arbeiteten, um die Wehren und Dämme herzustellen, da in den Bergen aller Schnee schmelzen mußte und eine große Fluth zu erwarten war. Das Flüßchen rauschte schon stark und grau gelblich daher; für unser Haus war gar keine Gefahr, da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag, der die Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die Wiesen zu schützen, und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher ging ich auch hinaus und sah die Männer eben so rüstig und entschlossen bei der Arbeit, als sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz und Steinen, standen bis über die Kniee in Schlamm und Wasser, schwangen Aexte 002 und trugen Faschinen und Balken umher, und wenn so acht Mann unter einem schweren langen Baume einher gingen, hielten die Witzbolde unter ihnen keinen Einfall zurück; nur der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabakspfeifen sah. Ich konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege; nachdem ich daher eine Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert, kehrte ich oben durch das Dorf zurück und sah auf diesem Gange die Thätigkeit auf allen ihren gewohnten Wegen. Wer nicht am Wasser beschäftigt war, der fuhr in's Holz, um die dortige Arbeit noch schnell abzuthun, und auf einem Acker sah ich einen Mann so ruhig und aufmerksam pflügen, als ob es weder der Nachtag eines Festes, noch eine Gefahr im Lande wäre. Ich schämte mich, allein so müßig und zwecklos umherzugehen, und um nur etwas Entschiedenes zu thun, entschloß ich mich, sogleich nach der Stadt zurückzukehren. Zwar hatte ich leider nicht viel zu versäumen und meine ungeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja sie kam mir schaal und nichtig vor; da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich durch Koth und Regen in die Nacht hinein wandern mußte, so ließ eine ascetische Laune mir diesen Gang als eine Wohlthat erscheinen, und ich 003 machte mich trotz aller Einreden meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg.

So stürmisch und mühevoll dieser war, legte ich doch die bedeutende Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Innern erwachten alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Räthsel des Lebens, wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich unversehens vor der Stadt zu befinden. Als ich vor unser Haus kam, merkte ich an den dunkeln Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heimkehrenden Hausgenossen schlüpfte ich in's Haus und auf meine Kammer, und am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet zum Frühstück erscheinen sah.

Ich bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter aus Gefälligkeit von einem Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unterzubringen wußte; es war von der größten Einfachheit, leicht gebaut und nur mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel. Aber auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen, alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken 004 versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalten. Es waren Goethe's sämmtliche Werke, welche ein Trödler, der mich mit alten Büchern und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldenthum zu verlocken wußte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzubieten. Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in unserer Stube etwas zurecht hämmerte, dabei von ungefähr gesagt: «Der große Goethe ist gestorben,» und dies Wort klang mir immer wieder nach. Der unbekannte Todte schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen und überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren Hand verschwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging, da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das Schönste auseinander, verbreiteten sich über das Ruhbett und fielen über dessen Rand auf den Boden, daß ich alle Hände voll zu thun hatte, den Reichthum zusammenzuhalten. Ich entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom Lotterbettchen und las dreißig Tage lang, indessen es noch einmal Winter 005 und wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber, den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Ich griff zuerst nach Allem, was sich durch den Druck als Dramatisch zeigte, dann las ich alles Gereimte, dann die Romane, dann die italienische Reise, und als sich der Strom hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief, ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zu einander und dazwischen einzelne seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto Cellini. So hatte ich noch ein Mal diesen Himmel durchschweift und Vieles wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern: Dichtung und Wahrheit. Ich war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst ein anderweitiger Käufer gezeigt habe. Unter diesen Umständen mußte der Schatz baar bezahlt werden, was jetzt über meine Kräfte ging; die Mutter sah wohl, daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein dreißigtägiges Liegen und Lesen machte sie unentschlossen und darüber ergriff der Mann wieder seine Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und empfahl sich.

006 Es war, als ob eine Schaar glänzender und singender Geister die Stube verließen, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah mich um, und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten. Ich machte mich in's Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und indem meine Blicke Alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des Einzelnen zu eigennützigem Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt; sie steht auch höher, als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und dauernde Gluth zu geben. Es kam mir nun Alles und immer neu, schön und merkwürdig vor und ich begann, nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben. Obgleich 007 ich nicht straks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief, so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen dreißig Tagen, sowie deren Gesammteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich zuzuschreiben sind.

Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muß es auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirkender Theil von ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so anzuwenden, daß er sich eher leidend und zusehend verhalten und die Dinge an sich vorüberziehen lassen, als ihnen nachjagen soll; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so beschreiben, wie der, welcher am Wege steht. Dieser ist darum nicht überflüssig oder müßig, und der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen, und wenn er ein rechter Seher ist, so kommt der Augenblick, wo er sich dem Zuge anschließt mit seinem goldenen Spiegel, gleich dem achten Könige im Macbeth, der in seinem Spiegel noch viele Könige sehen ließ. Auch nicht ohne {äußere} That und Mühe ist das Sehen des ruhig Leidenden, gleichwie der 008 Zuschauer eines Festzuges genug Mühe hat, einen guten Platz zu erringen oder zu behaupten. Dies ist die Erhaltung der Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen.

Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. Ich hatte mir, ohne zu wissen wann und wie, angewöhnt, Alles, was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand, poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten Berufes, Farben wie Formen nannte ich nicht malerisch, sondern immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins werth macht; aber in Bezug auf Manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich nun, daß das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Ueberschwängliche nicht poetisch sind und daß, wie dort die Ruhe und Stille in der Bewegung, hier nur Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleich bedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen, mit einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit der Kunst nicht 009 mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf. Dies ist zwar eine alte Geschichte, indem man schon im Aristoteles ersehen kann, daß seine stofflichen Betrachtungen über die prosaisch-politische Redekunst zugleich die besten Recepte auch für den Dichter sind.

Denn wie es mir scheint, geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung, Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf Einen Lebensgrund, und in diesem Bestreben das Nothwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst; darum unterscheiden sich die Künstler nur dadurch von den anderen Menschen, daß sie das Wesentliche gleich sehen und es mit Fülle darzustellen wissen, während die Anderen dies wieder erkennen müssen und darüber erstaunen, und darum sind auch alle die keine Meister, zu deren Verständniß es einer besonderen Geschmacksrichtung oder einer künstlichen Schule bedarf.

Ich hatte es weder mit dem menschlichen Wort, noch mit der menschlichen Gestalt zu thun und fühlte mich nur glücklich und zufrieden, daß ich auf das bescheidenste Gebiet mit meinen Fuß setzen konnte, auf den irdischen Grund und Boden, auf dem sich der Mensch bewegt, und so in der poetischen Welt wenigstens einen Teppichbewahrer abgeben durfte. 010 Goethe hatte ja viel und mit Liebe von landschaftlichen Dingen gesprochen und durch diese Brücke glaubte ich ohne Unbescheidenheit mich ein wenig mit seiner Welt verbinden zu können.

Ich wollte sogleich anfangen, nun so recht mit Liebe und Aufmerksamkeit die Dinge zu behandeln und mich ganz an die Natur zu halten, nichts Ueberflüssiges oder Müßiges zu machen und mir bei jedem Striche ganz klar zu sein. Im Geiste sah ich schon einen reichen Schatz von Arbeiten vor mir, welche alle hübsch, werth- und gehaltvoll aussahen, angefüllt mit zarten und starken Strichen, von denen keiner ohne Bedeutung war. Ich setzte mich in's Freie, um das erste Blatt dieser vortrefflichen Sammlung zu beginnen; aber nun ergab es sich, daß ich eben da fortfahren mußte, wo ich zuletzt aufgehört hatte, und daß ich durchaus nicht im Stande war, plötzlich etwas Neues zu schaffen, weil ich dazu erst etwas Neues hätte sehen müssen. Da mir aber nicht Ein Blatt eines Meisters zu Gebote stand und die prächtigen Blätter meiner Phantasie sogleich in Nichts sich auflösten, wenn ich den Stift auf das Papier setzte, so brachte ich ein trübseliges Gekritzel zu Stande, indem ich aus meiner alten Weise herauszukommen suchte, welche ich verachtete, während ich sie jetzt sogar nur verdarb. So quälte 011 ich mich mehrere Tage herum, in Gedanken immer eine gute und sachgemäße Arbeit sehend, aber rathlos mit der Hand. Es wurde mir angst und bange, ich glaubte jetzt sogleich verzweifeln zu müssen, wenn es mir nicht gelänge, und seufzend bat ich Gott, mir aus der Klemme zu helfen. Ich betete noch mit den gleichen kindlichen Worten, wie schon vor zehn Jahren, immer das Gleiche wiederholend, so daß es mir selbst auffiel, als ich halblaut vor mich hin flüsterte. Darüber nachsinnend hielt ich mit der hastigen Arbeit inne und sah in Gedanken verloren auf das Papier.

 


Fassungen       Keller Seite       HILFE