GH 2.06

078 Sechstes Kapitel.

Schwindelhaber.

Als der Frühling kam, welchen ich voll Ungeduld erwartet hatte, begab ich mich in den ersten warmen Tagen in's Freie, ausgerüstet mit der erworbenen Fertigkeit, um an die Stelle der papiernen Vorbilder die Natur selbst zu setzen. Das Refektorium sah voll Achtung und mit geheimem Neide auf meine umständlichen Zurüstungen; denn es war das erste Mal, daß eines seiner Mitglieder die Sache so großartig betrieb, und das Zeichnen «nach der Natur» war bisher ein wunderbarer Mythus gewesen. Ich selbst ging nicht mehr mit der unverschämten, aber gut gemeinten Zutraulichkeit des letzten Sommers vor die runden, körperlichen und sonnebeleuchteten Gegenstände der Natur, sondern mit einer weit gefährlicheren und selbstgefälligen Bornirtheit. Denn was mir nicht klar war oder zu schwierig erschien, das warf ich, mich selbst betrügend, durcheinander und verhüllte es mit meiner 079 unseligen Pinselgewandtheit, da ich, anstatt bescheiden mit dem Stifte anzufangen, sogleich mit den angewöhnten Tuschschalen, Wasserglas und Pinsel hinausging und bestrebt war, ganze Blätter in allen vier Ecken bildartig anzufüllen. Ich ergriff entweder ganze Aussichten mit See und Gebirgen, oder ging im Walde den Bergbächen nach, wo ich eine Menge kleiner und hübscher Wasserfälle fand, welche sich ansehnlich zwischen vier Striche einrahmen ließen. Das lebendige und zarte Spiel des Wassers im Fallen, Schäumen und eiligen Weiterfließen, seine Durchsichtigkeit und tausendfältige Widerspiegelung ergötzte mich, aber ich bannte es in die plumpen Formeln meiner Virtuosität, daß Leben und Glanz verloren gingen, während meine Mittel nicht hinreichten, das bewegliche Wesen wiederzugeben. Leichter hätte ich die mannigfaltigen Steine und Felstrümmer der Bäche, in reicher Unordnung über einander geworfen, beherrschen können, wenn nicht mein künstlerisches Gewissen verdunkelt gewesen wäre. Wol regte sich dieses oft mahnend, wenn ich perspektivische Feinheiten und Verkürzungen der Steine, trotzdem daß ich sie sah und fühlte, überging und verhudelte, statt den bedeutenden Formen nachzugehen, mit der Selbstentschuldigung, daß es auf diese oder jene Fläche nicht ankomme und die zufällige Natur ja 080 auch so aussehen könnte, wie ich sie nachbildete; allein die ganze Weise meines Arbeitens ließ solche Gewissensbisse nicht zur Geltung kommen, und der Meister, wenn ich ihm meine Machwerke vorzeigte, war nicht darauf eingerichtet, der fehlenden Naturwahrheit nachzuspüren, die sich gerade in den vernachlässigten Zügen hätte zeigen sollen; sondern er beurtheilte die Sachen immer von seiner Stubenkunst aus.

Abgesehen von seinem Grundsatze der Reinlichkeit und Durchsichtigkeit des Vortrages, hegte er nur noch eine einzige Tradition, die er mir zu überliefern für angemessen hielt, nämlich die des Sonderbaren und Krankhaften, was mit dem Malerischen verwechselt wurde. Er ermunterte mich, hohle, zerrissene Weidenstrünke, verwitterte Bäume und abenteuerliche Felsgespenster aufzusuchen mit den bunten Farben der Fäulniß und des Zerfalles, und pries mir diese Dinge als interessante Gegenstände an. Das sagte mir sehr zu, indem es meine Phantasie reizte, und ich begab mich eifrig auf die Jagd nach solchen Erscheinungen. Doch die Natur bot sie mir nur spärlich, sich einer volleren Gesundheit erfreuend, als mit meinen Wünschen verträglich war, und was ich an unglücklichem Gewächse vorfand, das wurde meinen überreizten Augen bald zu blöde und harmlos, 081 wie einem Trinker, der nach immer stärkerem Schnapse verlangt. Das blühende Leben in Berg und Wald fing daher an, mir gleichgültig zu werden im Einzelnen, und ich streifte vom Morgen bis zum Abend in der Wildniß umher. Ich drang immer tiefer in bisher nicht gesehene Winkel und Gründe; fand ich eine recht abgelegene und geheimnißvolle Stelle, so ließ ich mich dort nieder und fertigte rasch eine Zeichnung eigener Erfindung an, um ein Produkt nach Hause zu bringen. In derselben häufte ich die seltsamsten Gebilde zusammen, die meine Phantasie hervorzutreiben vermochte, indem ich die bisher wahrgenommenen Eigenthümlichkeiten der Natur mit meiner erlangten Fertigkeit verschmolz und so Dinge hervorbrachte, die ich Herrn Habersaat als in der Natur bestehend vorlegte und aus denen er nicht klug werden konnte. Er gratulirte mir zu meinen Entdeckungen und fand seine Aussprüche über meinen Eifer und mein Talent bestätigt, da ich hiermit beweise, daß ich unverkennbar ein scharfes und glückliches Auge für das Malerische hätte und Dinge auffände, an welchen tausend Andere vorübergingen. Diese gutmüthige Täuschung erweckte mir eine üble Lust, dergleichen fortzusetzen und es förmlich darauf anzulegen, den guten Mann zu hintergehen. Ich erfand, irgendwo 082 im Dunkel des Waldes sitzend, immer tollere und muthwilligere Fratzen von Felsen und Bäumen, und freute mich im Voraus, daß sie mein Lehrer für wahr und in nächster Umgegend vorhanden erachten würde. Doch mag es mir zu einiger Entschuldigung gereichen, daß ich in alten Kupferblättern, z. B. von Swanefeldt, die abenteuerlichsten Formationen als löbliche Meisterwerke vorgebildet sah und selbst der guten Meinung lebte, dieses sei das Wahre und immerhin eine treffliche Uebung. Denn schon waren die edlen und gesunden Formen Claude Lorrain's im flüchtigen Jugendgemüthe wieder unter die Oberfläche getreten. Während der Winterabende war im Refektorium etwas Figurenzeichnen getrieben worden, und ich hatte mir, als ich eine Menge radirter, bekleideter Staffagefiguren kopirte, einige oberflächliche Uebung im Entwerfen solcher erworben. So erfand ich nun zu meinen wunderlichen Landschaftsstudien noch viel wunderlichere Menschen, zerlumpte Kerle, die ich dem Refektorium zutrug, um ein tüchtiges Gelächter einzuheimsen. Es war ein nichtsnutziges und verrücktes Geschlecht, welches in Verbindung mit der seltsamen Gegend eine Welt bildete, die nur in meinem Gehirne vorhanden war und endlich doch meinem Vorgesetzten verdächtig wurde. Doch 083 bemerkte er nicht viel hierüber, sondern ließ mich meine Wege gehen, da ihm einerseits das frische Gemüth mangelte, um den Ränken meines Treibens nachzuspüren und mich darüber zu ertappen, und anderseits die Ueberlegenheit des eigenen Wissens. Diese beiden Vermögen bilden ja das Geheimniß aller Erziehung: unverwischte lebendige Jugendlichkeit, welche allein die Jugend kennt und durchdringt, und die sichere Ueberlegenheit der Person in allen Fällen. Eines kann oft das Andere zur Nothdurft ersetzen, wo aber beide fehlen, da ist die Jugend eine verschlossene Muschel in der Hand des Lehrers, die er nur durch Zertrümmerung öffnen kann. Beide Eigenschaften gehen aber nur aus Einem und demselben letzten Grunde hervor: aus unbedingter Ehrlichkeit, Reinheit und Unbefangenheit des Bewußtseins.

Der Sommer war nun auf seine volle Höhe geschritten, als ich meinem geheimen Verlangen nach der andern Heimat, dem entlegenen Dorflande, nachgab und mit meinen Siebensachen hinauszog. Die Mutter blieb wieder zurück in entsagender Unbeweglichkeit und Selbstbeschränkung, ungeachtet aller freundlichen Aufforderungen, die Wohnung doch ganz zu schließen und wieder einmal an den Orten ihrer Jugend sich zu ergehen. Ich aber führte die 084 umfangreichen Früchte meiner zwischenweiligen Thätigkeit mit mir, da ich mittelst derselben ein günstiges Aufsehen zu erregen gedachte.

Die zahlreichen, kräftig geschwärzten Blätter verursachten im Hause meines Oheims allerdings einige Verwunderung, und im Allgemeinen sah man die Sache mit ziemlichem Respekt an; als jedoch der Oheim die Zeichnungen betrachtete, welche ich nach der Natur gefertigt haben wollte, (denn ich glaubte als eine Art Münchhausen nachgerade selbst daran, vorzüglich weil die Sachen doch unter freiem Himmel entstanden waren), da schüttelte er bedenklich den Kopf und wunderte sich, wo ich denn meine Augen gehabt hätte. In seinem realistischen Sinne, als Land- und Forstmann, fand er trotz aller Unkunde in Kunstdingen den Fehler schnell und leicht heraus.

«Diese Bäume,» sagte er, «sehen ja einer dem andern ähnlich und alle zusammen gar keinem wirklichen! Diese Felsen und Steine könnten keinen Augenblick so aufeinanderliegen, ohne zusammenzufallen! Hier ist ein Wasserfall, dessen Masse einen der größeren Fälle verkündet, die aber über kleinliche Bachsteine stürzt, als ob ein Regiment Soldaten über einen Span stolperte; hierzu wäre eine tüchtige Felswand erforderlich; indessen nimmt es mich eigentlich Wunder, wo zum Teufel in der Nähe der Stadt 085 ein solcher Fall zu finden ist! Dann möchte ich auch wissen, was an solchen verfaulten Weidenstöcken Zeichnenswerthes ist, da dünkte mich doch eine gesunde Eiche oder Buche erbaulicher u. s. f.»

Die Frauensleute hingegen ärgerten sich über meine Vagabunden, Kesselflicker und Fratzengesichter, und begriffen nicht, warum ich im Felde nicht lieber ein artiges vorübergehendes Landmädchen oder einen anständigen Ackersmann abgebildet habe, als mich fortwährend mit solchen Unholden zu beschäftigen; die Söhne belachten meine ungeheuerlichen Berghöhlen, die unmöglichen und lächerlichen Brücken, die menschenähnlichen Steinköpfe und Baumkrüppel, und gaben jeder solchen Tollheit einen lustigen Namen, dessen Lächerlichkeit auf mich zu fallen schien. Ich stand beschämt da als ein Mensch, der voll närrischer und eitler Dinge ist, und die mitgebrachte künstliche Krankhaftigkeit verkroch sich vor der einfachen Gesundheit dieses Hauses und der ländlichen Luft.

Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft stellte mir der Oheim, um mich wieder auf eine reale Bahn zu leiten, die Aufgabe, seine Besitzung, Haus, Garten und Bäume, genau und bedächtig zu zeichnen und ein getreues Bild davon zu entwerfen. Er machte mich aufmerksam auf alle Eigenthümlichkeiten 086 und auf das, was er besonders hervorgehoben wünschte, und wenn seine Andeutungen auch eher dem Bedürfnisse eines rüstigen Besitzers, als denjenigen eines Kunstverständigen entsprachen, so ward ich doch dadurch genöthigt, die Gegenstände wieder einmal genau anzusehen und in allen ihren eigenthümlichen Oberflächen zu verfolgen. Die allereinfachsten Dinge am Hause selbst, sogar die Ziegel auf dem Dache, gaben mir nun wieder mehr zu schaffen, als ich je gedacht hatte, und veranlaßten mich, auch die umstehenden Bäume in gleicher Weise gewissenhafter zu zeichnen; ich lernte die aufrichtige Arbeit und Mühe wieder kennen, und indem darüber eine Arbeit entstand, die mich in ihrer anspruchlosen Durchgeführtheit selbst unendlich mehr befriedigte, als die marktschreierischen Produkte der jüngsten Zeit, erwarb ich mir mit saurer Mühe den Sinn des Schlichten, aber Wahren.

Inzwischen erfreute ich mich des Wiederfindens alles Dessen, was ich im letzten Jahre hier verlassen, beobachtete alle Veränderungen, welche etwa vorgefallen, und harrte im Stillen auf den Augenblick, wo ich Anna wiedersehen oder wenigstens zuerst ihren Namen hören würde. Aber schon waren einige Tage verflossen, ohne daß die geringste Erwähnung fiel, und je länger dies andauerte, desto 087 minder brachte ich die Frage nach ihr hervor. Man schien sie völlig vergessen zu haben, als wäre sie niemals da gewesen, und, was mich innerlich kränkte, Niemand schien im geringsten zu ahnen, daß ich irgend eine Berechtigung oder ein Bedürfniß besitzen könnte, von ihr zu hören. Wol ging ich halbwegs über den Berg, oder in den Schatten des Flußthales, allein jedesmal kehrte ich plötzlich um aus unerklärlicher Furcht, ihr zu begegnen. Ich ging auf den Kirchhof und stand an dem Grabe der Großmutter, welche nun schon seit einem Jahre in der Erde lag; aber die Luft war windstill vom Gedächtnisse Anna's, die Gräser begehrten nichts von ihr zu wissen, die Blumen flüsterten nicht ihren Namen, Berg und Thal schwiegen von ihr, nur mein Herz tönte ihn laut hinaus in die undankbare Stille.

Endlich wurde ich gefragt, warum ich den Schulmeister nicht besuche? und da ergab es sich zufällig, daß Anna schon seit einem halben Jahre nicht mehr im Lande sei und daß man meine Kunde hierüber vorausgesetzt habe. Ihr Vater hatte, in seiner steten Sehnsucht nach Bildung und Feinheit der Seele und in Betracht, daß nach seinem Tode sein Kind, das einmal für eine Bäuerin zu zart sei, verlassen in der rauhen dörflichen Umgebung bleiben würde, sich plötzlich entschlossen, Anna in eine 088 Bildungsanstalt der französischen Schweiz zu bringen, wo sie sich bessere Kenntnisse und Selbständigkeit des Geistes erwerben sollte. Er ließ sich, als sie ihre Abneigung dagegen aussprach, durch ihre Thränen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung seiner Wünsche bedacht, und begleitete das ungern scheidende Kind in das Haus des fernen, vornehm-¦religiösen Erziehers, wo sie nun noch wenigstens ein volles Jahr zu bleiben hatte. Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag aus blauem Himmel.

Ich ging nun alle Tage zu ihrem Vater, begleitete ihn auf seinen Wegen und hörte von ihr sprechen; oft blieb ich mehrere Tage dort, alsdann wohnte ich in ihrem Kämmerchen, wagte mich jedoch fast nicht zu rühren darin und betrachtete die wenigen einfachen Gegenstände, welche es enthielt, mit heiliger Scheu. Es war klein und enge; die Abendsonne und der Mondschein füllten es immer ganz aus, daß kein dunkler Punkt darin blieb und es bei jener wie ein rothgoldenes, bei diesem wie ein silbernes Juwelenkästchen aussah, dessen Kleinod ich nicht verfehlte mir hineinzudenken.

Wenn ich nach malerischen Gegenständen umherstreifte, so suchte ich vorzüglich die Stellen auf, wo ich mit Anna geweilt hatte; so war die geheimnißvolle Felswand am Wasser, wo ich mit ihr 089 geruhet und jene Erscheinung gesehen, schon von mir gezeichnet worden, und ich konnte mich nun nicht enthalten, auf der schneeweißen Wand des Kämmerchens ein sauberes Viereck zu ziehen und das Bild mit der Heidenstube so gut ich konnte hineinzumalen. Dies sollte ein stiller Gruß für sie sein und ihr später bezeugen, wie beständig ich an sie gedacht.

Diese fortwährende Erinnerung an sie und ihre Abwesenheit machten mich in's Geheim immer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde; ich begann lange Liebesbriefe an sie zu schreiben, die ich zuerst verbrannte, dann aufbewahrte, und zuletzt wurde ich so verwegen, Alles, was ich für Anna fühlte, auf ein offenes Blatt zu schreiben, in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen, und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende That für mich und ein Bekenntniß meines Geheimnisses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe Niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten 090 wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte unterwegs doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte.

Dies erfuhr ich erst später, denn während meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich nie in ihr Haus und vermied den Weg desselben sorgfältig. Das Jahr, um welches ich älter geworden, ließ mich mit Beschämung auf das vertrauliche Verhältniß von früher zurückblicken und flößte mir eine trotzige Scheu ein vor der kräftigen und stolzen Gestalt; ich verbarg mich, ohne zu grüßen, rasch, als sie einmal am Hause vorüberging, und sah ihr doch verlangend nach, wenn ich sie von fern durch Gärten und Kornfelder schreiten sah.

 


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