GH 1.13

173 Dreizehntes Kapitel.

Waffenfrühling. Frühes Verschulden.

Ich war nun zwölf Jahre alt, so daß meine Mutter auf meine weitere Schulbildung denken mußte. Der Plan des Vaters, daß ich der Reihe nach die von freisinnigen Vereinen begründeten Privatanstalten besuchen sollte, war nun zerschnitten, indem dieselben inzwischen durch wohleingerichtete öffentliche Schulen überflüssig geworden; denn die abermalige Regeneration der Schweiz hatte zuerst auf diesen Punkt ihr Augenmerk gerichtet. Der alte Gelehrten- und Lehrerstand der Städte wurde durch einberufene deutsche Schulmänner reichlich erweitert und in den meisten Cantonen an eine große Zwillingsschule vertheilt, welche aus einem Gymnasium und einer Realschule bestand. Bei der letzteren brachte mich die Mutter nach mehreren Berathungen und feierlichen Gängen unter, und die Leistungen meiner bescheidenen Armenschule, aus welcher ich halb wehmüthig und halb fröhlich schied, erwiesen sich bei der Aufnahmeprüfung 174 so genügend, daß ich neben den Zöglingen der guten alten Stadtschulen vollkommen bestand. Denn diese wohlhabenden Bürgerkinder waren nun ebenfalls auf die neuen Einrichtungen angewiesen. So fand ich mich plötzlich in eine ganz andere Umgebung versetzt. Statt wie früher der bestgekleidete und vornehmste meiner Mitschüler zu sein, war ich in meinen grünen Jäckchen, welche ich auf's äußerste ausnutzen mußte, nun einer der unansehnlichsten und bescheidensten, und das nicht nur in Betracht der Kleidung, sondern auch des Benehmens. Die Mehrzahl der Knaben gehörte dem altherkömmlichen Bürgerstande an; einige waren vornehme feine Herrenkinder und einige hinwieder stammten von reichen Dorfmagnaten; alle aber hatten ein sicheres Auftreten und Gebahren, entschiedene Manieren und einen fixen Jargon im Sprechen und Spielen, vor welchem ich blöde und unsicher dastand. Wenn sie sich stritten, so schlugen sie sich gleich mit raschen Bewegungen in's Gesicht, daß es klatschte, und mehr Mühe, als das neue Lernen, machte mir das Zurechtfinden in diese neue Umgangsweise, wenn ich nicht zu viel Unbilden erleiden wollte. Ich erkannte nun erst, wie mild und gutmüthig die Gesellschaft der armen Kinder gewesen war, und schlüpfte noch oft zu ihnen, die mich mit wehmüthigem 175 Neide von meinen jetzigen Verhältnissen erzählen hörten.

In der That brachte jeder Tag neue Veränderungen in meine bisherige Lebensweise. Seit alter Zeit war die Jugend der Städte in den Waffen geübt worden, vom zehnten Jahre an bis beinahe zum wirklichen Militärdienste des Jünglingsalters; nur war es mehr eine Sache der Lust und des freien Willens gewesen und wer seine Kinder nicht wollte Theil nehmen lassen, war nicht gezwungen. Nun aber wurden die Waffenübungen für die sämmtliche schulpflichtige Jugend gesetzlich geboten, so daß jede Cantonsschule zugleich ein soldatisches Corps bildete. Mit den kriegerischen Uebungen war das Turnen verwandt, zu welchem wir ebenfalls angehalten wurden, so daß ein Abend exercirt und den andern gesprungen, geklettert und geschwommen wurde. Ich war bisher aufgewachsen, wie ein Gras, mich biegend und schmiegend, wie jedes Lüftchen der Lebensregungen und der Laune es wollte; Niemand hatte mir gesagt, mich grad zu halten, kein Mann mich an See und Fluß geführt und da hineingeworfen, nur in der Aufregung hatte ich ein und andern Sprung gethan, den ich mit Vorsatz nicht zu wiederholen vermochte. Mein Temperament aber hatte mich nicht dazu getrieben, wie etwa die Söhne anderer 176 Wittwen, da ich keinen Werth darauf legte und viel zu beschaulich war. Meine jetzigen Schulgenossen hingegen bis auf den Kleinsten herab schwammen alle wie die Fische im See herum, sprangen und kletterten, und es war hauptsächlich ihr Spott, welcher mich zwang, mir einige Haltung und Gewandtheit zu erwerben, da sonst wol mein Eifer bald erkaltet wäre.

Aber noch viel tiefer sollten die Veränderungen in mein Leben einschneiden. Ich war nun in eine Umgebung gerathen, welche sämmtlich mit einem mehr oder minder genugsamen Taschengelde versehen war, theils in Folge häuslicher Wohlhabenheit, theils auch nur in Folge herkömmlichen Brauches und sorgloser Prahlerei der Eltern. An Gelegenheit, Ausgaben zu machen, fehlte es noch weniger, da nicht nur bei den gewöhnlichen Uebungen und Spielen auf den entlegenen Plätzen Obst und Backwerk zu kaufen üblich war, sondern auch bei größeren Turnfahrten und militärischen Ausflügen mit klingendem Spiel es für männlich galt, sich in den entfernten Dörfern hinter Brot und Wein zu setzen. Dazu kamen noch die Ausgaben für allerhand Spielereien, welche in der Schule abwechselnd Mode wurden unter dem Vorwande nützlicher Beschäftigung, ferner der lehrreiche Besuch aller fremden Sehenswürdigkeiten, 177 von welch' Allem sich regelmäßig entfernt halten zu müssen, einen unerträglichen Anstrich von Dürftigkeit und Verlassenheit verlieh. Meine Mutter bestritt mit gewissenhaftem Sinne alle die ungewohnten Ausgaben für Lehrmittel, Instrumente und Material und gab mir hierin sogar für eine gewisse Verschwendung Raum. Mit den feinen Zirkeln des Vaters durchstach ich das schönste Papier in der Klasse; jede Gelegenheit nahm ich wahr, ein neues Heft zu errichten, und meine Bücher waren immer dauerhaft gebunden. Allein in allem Andern, das nur entfernt unnöthig schien, beharrte sie eigensinnig auf dem Grundsatze, daß kein Pfennig unnütz dürfe ausgegeben werden und daß ich dies frühzeitig lernen müsse. Nur für die Hauptausflüge und Unternehmungen, von denen wegzubleiben ein zu großer Schmerz für mich gewesen wäre, gab sie mir ein kärgliches Geld, welches jedes Mal schon in der Mitte des frohen Tages aufgezehrt war. Dabei hielt sie mich in weiblicher Unkenntniß der Welt nicht etwa in der Abgeschiedenheit zurück, wie es sich zu ihrer strengen Sparsamkeit geschickt hätte, sondern ließ mich meine ganze Zeit in der Gemeinschaft der Anderen zubringen, mich nur unter lauter wohlgezogenen Knaben und unter der Aufsicht des großen, angesehenen Lehrerpersonales wähnend, während gerade 178 dadurch das Mitmachen und Vergleichen unvermeidlich wurde und ich in tausend Verlegenheiten und schiefe Stellungen gerieth. In der Einfachheit und Unschuld ihres Gemüthes und ihres Lebenslaufes hatte sie keine Ahnung von dem unheilvollen Giftkraute, welches falsche Scham genannt wird und in den frühesten Tagen des Lebens um so mehr zu wuchern beginnt, als es von der Dummheit der alten Menschen eher gehätschelt und gepflegt, als ausgereutet wird. Unter tausend Jugendfreunden und Mitgliedern von Pestalozzi-Stiftungen giebt es vielleicht keine zwölf, welche aus ihren eigenen Erinnerungen sich noch auf das ABC des kindlichen Gemüthes besinnen und wissen, wie sich daraus die verhängnißvollen Worte bilden, und man darf sie eigentlich nicht einmal darauf aufmerksam machen, sonst werfen sie sich sogleich auf dieses Gebiet und errichten darüber ein Statut.

Auf Pfingsten ward einst ein großer jugendlicher Feldzug angeordnet; sämmtliche kleine Mannschaft, einige Hundert an der Zahl, sollte mit klingendem Spiel ausrücken und, über Berg und Thal marschirend, die bewaffnete Jugend einer benachbarten Stadt besuchen, um mit derselben gemeinschaftliche Paraden und Uebungen abzuhalten. Es herrschte eine allgemeine Aufregung, gemischt aus der Freude 179 der Erwartung und aus der Lust der Vorbereitung. Kleine Tornister wurden vorschriftsmäßig bepackt, Patronen wurden so viele als möglich über die bestimmte Zahl angefertigt, unsere Zweipfünderkanonen, sowie die Fahnen bekränzt, und überdies ging unter der Hand das Gerede, wie unsere Nachbaren nicht nur schmucke und gedrillte Soldaten, sondern auch aufgeweckte und lustige Zecher und Kameraden wären, daß es also nicht nur gelte, sich möglichst blank und strack zu halten, sondern Jeder sich gut mit Taschengeld zu versehen hätte, um den berühmten Nachbaren auf jede Weise die Stirne zu bieten. Dazu wußten wir, daß dort die weibliche Jugend ebenfalls Theil nehmen, festlich gekleidet und bekränzt uns beim Einmarsche begrüßen und daß nach dem gemeinschaftlichen Mahle getanzt würde. Auch in dieser Hinsicht waren wir nicht gesonnen, uns etwas zu vergeben; es hieß, Jeder solle sich weiße Handschuhe verschaffen, um beim Balle eben so galant als militärisch zu erscheinen, und alle diese Dinge wurden hinter dem Rücken der Aufseher mit solcher Wichtigkeit verhandelt, daß es mir angst und bange ward, Allem zu genügen. Zwar war ich einer der Ersten, der die Handschuhe aufzuweisen hatte, indem meine Mutter auf meine Klage aus den begrabenen Vorräthen ihrer Jugend 180 ein Paar lange Handschuhe von feinem weißem Leder hervorzog und unbedenklich die Hände vorn abschnitt, welche mir vortrefflich paßten. Hingegen in Betreff des Geldes lebte ich der betrübten Aussicht, jedenfalls eine gedrückte und enthaltsame Rolle spielen zu müssen. In solchen Betrachtungen saß ich am Vorabend der Freudentage in einem Winkel, als mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf fuhr, ich das Hinausgehen der Mutter abwartete und dann zu dem Möbel eilte, das mein kleines Schatzkästchen barg. Ich öffnete es zur Hälfte und nahm unbesehen ein großes Geldstück heraus, das zu oberst lag; die anderen rückten alle ein klein wenig von der Stelle und machten ein leises Silbergeräusch, in dessen klangvoller Reinheit jedoch eine gewisse Gewalt ertönte, die mich schaudern machte. Schnell brachte ich meine Beute zur Seite, befand mich aber nun in einer sonderbaren Stimmung, die mich scheu und wortkarg gegen die Mutter werden ließ. Denn wenn der frühere Eingriff mehr die Folge eines vereinzelten äußeren Zwanges gewesen und mir kein böses Gewissen hinterlassen hatte, so war das jetzige Unterfangen freiwillig und vorsätzlich; ich that etwas, wovon ich wußte, daß es die Mutter nimmer zugeben würde; auch die Schönheit und der Glanz der Münze schienen von der profanen Verausgabung 181 abzumahnen. Jedoch verhinderte der Umstand, daß ich mich selbst bestahl zum Zwecke der Nothhülfe in einem kritischen Falle, ein eigentliches Diebsgefühl; es war mehr etwas von dem Bewußtsein, welches im verlornen Sohne dämmern mochte, als er eines schönen Morgens mit seinem väterlichen Erbtheil auszog, es zu verschwenden.

Am Pfingsttage war ich schon früh auf den Füßen; unsere Trommler, als die allerkleinsten auch die muntersten Bursche, durchzogen in ansehnlichem Haufen die Stadt, umschwärmt von marschbereiten Schülern, und ich beeilte mich, zu ihnen zu stoßen. Meine Mutter hatte aber noch gar viel zu besorgen; sie füllte meinen Tornister mit Eßwaaren, hing mir ein artiges Reisefläschchen um, mit Wein gefüllt, steckte mir noch hie und da etwas in die Taschen und gab mir gute Verhaltungsregeln. Ich hatte längst mein Gewehr auf der Schulter und die Patrontasche umgehängt, worin auch mein großer Thaler steckte, und wollte mich endlich ihren Händen entreißen, als sie ganz verwundert sagte, ich werde doch etwas Geld mitnehmen wollen? Hierauf nahm sie das bereits Abgezählte hervor und unterwies mich, wie ich es einzutheilen hätte. Es war zwar nicht überreichlich, aber doch anständig und vollkommen hinreichend und selbst für unvorhergesehene 182 Fälle berechnet. In einem Papiere war noch ein besonderes Stück eingewickelt, welches ich in dem gastfreundlichen Hause, wo ich einquartirt würde, den Dienstboten zu geben hätte. Wenn ich die Sache recht betrachtete, so war dies auch die erste Gelegenheit, wo eine solche Ausstattung eigentlich nothwendig schien, und die Mutter ließ es also nicht an dem Ihrigen fehlen. Aber nichts desto minder war ich überrascht; ich gerieth in die größte Verlegenheit und Aufregung, und indem ich die Treppen hinunterstieg, drangen mir seltener Weise Thränen aus den Augen, daß ich sie hinter der Hausthür abtrocknen mußte, ehe ich auf die Straße trat und zu dem fröhlichen Haufen stieß. Der allgemeine Jubel hätte in meinem Gemüthe, welches durch die liebevolle Sorge der Mutter bewegt war, einen um so empfänglicheren Grund gefunden, wenn nicht der Thaler in der Tasche mir wie ein Stein auf dem Herzen gelegen hätte. Jedoch als sich die ganze Schaar zusammenfand, das Kommando ertönte und wir uns ordneten und abzogen, wurden meine düstern Gedanken gewaltsam unterdrückt, und als ich, zur Vorhut eingetheilt, schon auf den freien Höhen ging unter dem morgenfrischen Himmel, und der lange Zug, schimmernd und singend, mit wehender Fahne, sich zu unsern Füßen heranbewegte, da vergaß ich 183 Alles und lebte nur dem Augenblicke, welcher, Perle für Perle, von der glänzenden Schnur der nächsten Erwartung fiel. Wir führten ein lustiges Vorhutleben; ein alter Kriegsmann, in fremden Diensten ergraut und nun dazu verwendet, uns kleinen Nesthüpfern das Handwerk beizubringen, leitete uns an zu allerlei Schabernack und ließ sich unablässig bestürmen, aus unsern Feldflaschen zu trinken, was er mit scharfer Kritik des Inhaltes that. Wir waren stolz, keinen der Schulmänner bei uns zu haben, welche die große Colonne begleiteten, und hörten andächtig die Kriegsabenteuer, so uns der alte Soldat erzählte.

Zur Mittagszeit machte der Zug in einem sonnigen unbewohnten Thalkessel Halt; der wilde Boden war mit vielen einzelnen Eichen besetzt, um welche sich das junge Volk lagerte. Wir Leute der Vorhut aber standen auf einem Berge und schauten zufrieden auf das fröhliche Gewühl hinunter. Wir waren still geworden und schlürften den stillen glanzvollen Tag ein; der alte Feldwebel lag froh an der Erde und blinzte in den ruhevollen Horizont hinaus, über blaue Ströme und Seen hin. Obgleich wir noch nichts von landschaftlicher Schönheit zu sagen wußten und Einige vielleicht in ihrem Leben nie dazu kamen, fühlten wir Alle doch ganz 184 die Natur, und das umsomehr, als wir mit unserem Freudenzuge eine würdige Staffage in der Landschaft bildeten, selbst handelnd darin auftraten und daher der empfindsamen Sehnsucht unthätiger Naturbewunderer enthoben waren. Denn ich habe erst später erfahren und eingesehen, daß das müssige und einsame Genießen der gewaltigen Natur das Gemüth verweichlicht und verzehrt, ohne dasselbe zu sättigen, während ihre Kraft und Schönheit es stärkt und nährt, wenn wir selbst auch in unserm äußern Erscheinen etwas sind und bedeuten, ihr gegenüber. Und selbst dann ist sie in ihrer Stille uns manchmal noch zu gewaltig; wo kein rauschendes Wasser ist und gar keine Wolken ziehen, da macht man gern ein Feuer, um sie zur Bewegung zu reizen und sie nur ein bischen athmen zu sehen. So trugen wir einiges Reisig zusammen und fachten es an; die rothen Kohlen knisterten so leis und angenehm, daß auch unser graue und rauhe Führer vergnügt hineinsah, während der blaue Rauch dem Heerhaufen im Thale ein Zeichen unseres Aufenthaltes war; trotz der mittäglichen Sonnenhitze schien uns die erhöhte Glut des Feuers lieblich; wir verlöschten es ungern, als wir abzogen. Gar zu gern hätten wir einige Schüsse in die stille Luft gesandt, wenn es nicht streng untersagt gewesen 185 wäre; ein Knabe hatte schon geladen und mußte den Schuß kunstgerecht wieder aus dem Gewehre ziehen, was ihm so peinlich war, als einem Schwätzer das Unterdrücken eines Geheimnisses.

Im Scheine des Abendgoldes sahen wir endlich die befreundete Stadt vor uns, aus deren mit Blumen und grünen Zweigen bekleidetem, alterthümlichen Thore die so wie wir gerüstete Jugend uns entgegen trat, umgeben von den schaulustigen und freundlichen Eltern und Geschwistern. Ihre Artillerie löste uns zu Ehren eine Anzahl von Schüssen; wir betrachteten mit kritischem Auge, wie die kleinen Kanoniere neben der Mündung mit ebenso zierlicher Verrenkung sich zurückbogen, wenn die Lunte sich dem Brander näherte, und nach dem Schusse ebenso hampelmännisch sich mit dem Wischer auslegten, wie das Alles bei uns üblich war. Noch mehr Ursache zur Eifersucht gaben uns die hübschen Percussionsgewehre, womit unsere Kameraden versehen waren, da wir selbst nur alte Steinschlösser hatten, welche sich dann und wann erlaubten zu versagen. Die Regierung dieses Standes war ein wenig im Geruche, in ihrem aufgeweckten Sinne für alles Gute und Schöne manchmal mehr Aufwand zu machen, als sich mit haushälterischer Bedächtigkeit vertrüge, und hatte demgemäß für ihre 186 Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit, wo dergleichen erst bei größeren Militärstaaten in der Einführung begriffen waren. So hörten wir denn, während unsere Freunde uns wohlgefällig erklärten, wie bei ihnen während der Ladung die Bewegung von «Pulver auf Pfann'» nun wegfiele, unsere erwachsenen Begleiter heimlich einen bedächtigen Tadel über solchen Aufwand aussprechen. Doch waren wir endlich ermüdet und gaben uns willig den Einladungen der Familien hin, welche sich so eifrig um unsere Beherbergung stritten, daß unsere ganze Schaar in ihren offenen Armen so schnell verschwand, wie ein flüchtiger Regenschauer im heißen durstigen Erdreiche. Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte häuslicher Wirthlichkeit versetzt als Gegenstand festlichen Wohlwollens und belohnten diese Gastfreundschaft dadurch, daß wir, als ob wir in Feindesland wären, beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben die großen Gastbetten stellten, welche zu ersteigen wir allen unseren Turnerkünsten aufbieten mußten.

Das Fest des anderen Tages erfüllte alle Erwartungen. Der Wetteifer ließ beide Parteien bei den Uebungen gleich wohl bestehen; gegen die Percussionsgewehre unserer Nebenbuhler aber hatten wir einen anderen Trumpf auszuspielen. Indem ihre 187 Artillerie nämlich nur blind zu schießen gewohnt war und keine Kugeln kannte, schoß die unserige so geschickt nach dem Ziele, daß das bei solcher Gelegenheit stehende Sprüchwort: «die Kleinen machten es wahrlich besser, denn die Großen!» diesmal nicht ganz unrichtig war und die Nachbaren dem ernsthaften Richten der Geschütze verwundert zuschauten.

Ein großes Festmahl, welches einige Tausend junge und alte Menschen vereinigte, wurde auf einer grünen Wiese eingenommen. Beliebte Jugendfreunde hielten Tischreden und trafen in denselben das Rechte, indem sie, anstatt uns in hohlem, frühreifem Ernste zu halten, in reinem Humor den Ton unschuldiger Fröhlichkeit anstimmten, ihr Alter vergaßen, ohne kindisch zu thun, und uns dadurch desto leichter lehrten, die Freude nicht ohne Witz zu genießen. Darauf zog eine Reihe feiner Mädchen aus dem Thore an uns vorbei auf einen geebneten Rasenplatz und lud uns mit Gesang zu Spiel und Tänzen ein. Sie waren alle weiß und roth gekleidet und entfalteten sich in der lieblichsten Blüthe vom kindlichen Lockenkopfe bis zur angehenden Jungfrau; hinter dem weiten Kranze ragte manch weibliches Haupt in reifer Schönheit, um die zarten Pflänzlinge zu überwachen und bei guter Gelegenheit selbst noch ein bischen jugendlicher über den Rasen zu 188 schlüpfen, als in sonstigen Tagen erlaubt war. Hatten doch die Männer ihrerseits die Gelegenheit auch ersehen und die Lust der Kinder bereits zu ihrer eigenen Sache erklärt und schon mit mancher Flasche besiegelt! Unsere tapfere Schaar näherte sich in dichtem Haufen dem flüsternden Kreise der Schönen, Keiner wollte recht der Vorderste sein, unsere Sprödigkeit ließ uns fast feindlich und düster aussehen, während das Anziehen der weißen Handschuhe ein weitgehendes Flimmern und Schimmern verursachte. Doch es zeigte sich nun, daß die Hälfte der Handschuhe überflüssig war, indem wir in zwei verschiedene Theile zerfielen, in solche Knaben nämlich, welche größere Schwestern zu Hause hatten, und in solche, welche dieses angenehme Glück nicht kannten. Die Ersteren zeigten sich Alle als zierliche Tänzer, welche bald gesucht und ausgezeichnet wurden, indessen die Letzteren wie ungeleckte Bären über den Rasen stolperten und nach einigen mißlungenen Abenteuern sich aus den Reihen stahlen und bei den Trinktischen zusammenfanden, wo wir mit energischem Gesang ein wildes Soldatenleben führten, als rauhe Krieger und Weiberfeinde, und uns gegenseitig einzubilden suchten, daß die Mädchen doch häufig nach unserem tüchtigen Treiben herüber schielten. Unser Zechen bestand zwar mehr in einer bescheidenen 189 Nachahmung der Alten und überwand den natürlichen Widerwillen gegen Unmäßigkeit nicht, der noch in jenem Lebensalter liegt; doch bot es hinlänglichen Spielraum für unsere kleinen Leidenschaften. Der Weinbau dieser Landschaft war bedeutender und edler als bei uns; daher hatten unsere jungen Nachbaren schon eine entschiedenere Färbung in ihrer Fröhlichkeit und vertrugen ein stärkeres Glas Wein, als wir, so daß sie ihren Ruf vollkommen rechtfertigten. Da galt es nun, sich hervorzuthun; ich gab mich diesem Bestreben ohne Rückhalt hin, meine wohlversehene Kasse verlieh mir die nöthige Sicherheit und Freiheit, und dieser folgte alsobald eine gewisse Achtung meiner Umgebung. Wir durchzogen Arm in Arm die Stadt und die Lustplätze vor derselben; das schöne Wetter, die Freude, der Wein regten mich auf und machten mich geschwätzig und ausgelassen, keck und gewandt; aus einem stillen und blöden Fernesteher war ich urplötzlich ein lauter Tonangeber geworden, der sich in übermüthigen Bemerkungen und Erfindung von Schwänken erging und welchen die übrigen Wortführer, die sich bisher wenig aus mir gemacht, sogleich anerkannten und hätschelten. Die Eigenschaft als Fremder, der neue Schauplatz erhöhte noch die Stimmung; es ist schwer zu entscheiden, was größer 190 war, ob meine Redseligkeit, mein Freudenrausch, oder meine erwachte Eitelkeit; kurz ich schwamm in einem ganz neuen Glücke, welches am dritten Tage wo möglich noch zunahm, als wir heimwärts zogen und die allseitige Zufriedenheit, sowie die freiere Ordnung und Haltung eine neue Reihe fröhlicher Auftritte veranlaßten.

Als ich mit Sonnenuntergang das Haus meiner Mutter betrat, bestaubt und sonnverbrannt, die Mütze mit einem Tannenreise geschmückt, die Mündung des Gewehrchens und der eigene Mund prahlerisch von Pulver geschwärzt, da war ich nicht mehr der Gleiche, wie ich ausgezogen, sondern Einer, der sich mit den kecksten Führern der Knabenwelt in verschiedene Verabredungen und Versprechungen eingelassen hatte zur Fortsetzung des begonnenen Tones. Hauptsächlich sollten die tanzkundigen Feinthuer oder Weichlinge, wie wir sie nannten, verhindert werden, uns bei der einheimischen Schönheit etwa in den Schatten zu stellen; wir wollten daher ihren zierlichen Künsten ein derbes militärisches Wesen, kühne Thaten und allerlei Streifereien und Unternehmungen entgegensetzen zur Begründung eines bedenklichen Ruhmes. Voll von diesen Ideen und noch voll der durchlebten Freude, die ich so wenig erschöpft hatte, als sie mich, fühlte ich mich in der 191 besten Laune und erging mich in unserem Hause in lauten Erzählungen und prahlerischem, barschem Wesen, bis ich durch einige magische Witzkörner, die meine Mutter in die unbescheidene Brandung warf, für einmal zu Ruhe und Schlaf gebracht wurde.

 


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