Mehr um für seine verwirrten Gedanken ein Unterkommen zu finden, als aus einem festen Entschlusse, drehte nun Heinrich den Fechter herum und zeichnete denselben während mehrerer Tage von verschiedenen Seiten. Sobald aber das erste instinctive Geschick und Feuer sich abgekühlt, drängte es ihn, die Erscheinungen, welche sich auf dieser bewegten Oberfläche zeigten, in ihrem Grund und Wesen näher zu kennen. • In der Meinung, keine Zeit mehr zu verlieren, ging er vor Allem aus, eine genauere Kunde vom menschlichen Körper zu erwerben, und suchte zu diesem Zwecke einige junge Mediciner auf, die er als Landsleute kennen gelernt und zuweilen gesehen hatte. Sie zeigten ihm bereitwillig ihre anatomischen 041 Atlanten, erklärten aus ihrem Wissen heraus, was ihnen gut dünkte, und führten ihn in die öffentlichen Sammlungen, wohl auch durch die Säle, wo ein blühendes Geschlecht von Jünglingen, geleitet von gewandten Männern, mit vergnügtem Eifer einen Vorrath von Leichen zerlegte.
Als Heinrich erstaunte, so viele begeisterte Leute zu sehen, welche ein und denselben Gegenstand in allseitigster Bestrebung hin und her wandten, und sich der bloßen Erkenntniß freuten, ohne Etwas dazu noch davon zu thun, noch die mindeste Erfindungslust zu besitzen, als er noch mehr erstaunte über die reiche Welt selbst, welche sich bei näherer Einsicht an diesem einzigen Gegenstande selbst aufthat, mit weiten unerforschten Gebieten, Vermuthungen, Hoffnungen, welche so voll und wichtig klangen, wie diejenigen, welche die Vorgänge des Weltraumes, des gestirnten Himmels zum Gegenstande hatten; als er endlich nicht wußte, wie er sich zu all diesem verhalten sollte, rieth ihm ein junger Doctor, eine berühmte Vorlesung über Anthropologie zu besuchen, welche 042 eben in diesen Tagen ihren Anfang nahm. Der kluge junge Mann wußte wohl, daß dergleichen allgemeine, einleitende Lehren am besten geeignet wären, die erste verzeihliche Neugierde zu stillen, den Nichtberufenen aber gerade dadurch abhielten, sich dann ferner da zwecklos umherzutreiben, wo er nicht hingehörte.
So trat Heinrich zum ersten Male in das weitläufige, palastartige Universitätsgebäude und sah sich unter die summende Menge junger Leute verwickelt, welche aus allen Sälen strömte und auf den Gängen und Treppen sich kreuzte. Heinrich mußte alle diese jungen Männer als seit zartester Jugend der Schule angehörend sich denken, unter dem doppelten Schutze des Staates und der Familie ununterbrochen lernend in's männliche Alter und in die Selbständigkeit hinüberreifend, und zwar so, daß mit der letzten Prüfung zugleich der sichere Eintritt in das bürgerliche Leben verbunden war. Sie bildeten gewissermaßen die Staatsjugend, gegenüber welcher er sich als obscuren Gegenstand, als Stoff des Staates fühlte, besonders da sein heimathliches demokratisches 043 Bewußtsein hier zurücktrat vor der allgemeinen Kluft, welche durch alle europäische Erziehung sich ausdehnt. Diese durcheinanderwogenden Jünglinge erschienen ihm auf den ersten Blick rücksichtslos und selbstgefällig, und in Erwartung von Amt und Würden, welche sie zu verhöhnen vorgaben, einstweilen ihren Entwickelungszustand zu einer Art souverainer Autorität machend, von welcher aus Alles sich bemessen und verachten ließe; ja innerhalb derselben schien es noch verschiedene Kasten, Stufen und Abzeichen zu geben, als reichliche Gelegenheit, schon hier, unter dem Deckmantel der akademischen Freiheit, den Corporalsstab der Autorität tüchtig zu schwingen, und mancher jugendliche Führer sah schon leibhaftig aus, wie ein Recruten quälender Corporal.
• Doch diese Eindrücke wechselten rasch mit anderen, als Heinrich in den bezeichneten Hörsaal trat, dessen Bänke noch leer waren. Die kahle Wand, die schwarze Tafel an derselben, die zerschnittenen und mit Tinte beklecksten Tische, Alles erweckte in ihm das Gefühl, als verwirkliche sich 044 jener ängstliche Traum aller Autodidakten, welche sich im Mannesalter, ja mit grauen Haaren in die Schulstube versetzt sehen, mitten unter ein Geschlecht muthwilliger Knaben, den alten strengen Lehrer vor sich, der sie beschämt und um ganze Reihen von blühenden Buben hinunterrücken läßt. Er fürchtete sich, aufgefordert zu werden, aufzustehen und Rechenschaft zu geben von Allem, was er nicht gelernt habe.
• Nun füllte sich aber allmälig der Saal, und voll Verwunderung änderte sich Heinrich's Stimmung wieder, als er die gedrängte Versammlung übersah. Neben einer Menge junger Leute seines Alters, welche höchst selbständig und rücksichtslos ihre Plätze einnahmen und behaupteten, erschienen Viele vorgerückteren Alters, gut oder schlecht gekleidet, welche schon stiller und bescheidener unterzukommen suchten, und sogar einige alte Herren mit weißem Haar, selbst rühmliche Lehrer in anderen Gebieten, nahmen entlegene Seitenplätze ein, um dort zu sehen, was es noch für sie zu lernen gäbe. • So mochten über hundert Zuhörer versammelt sein, welche des Vortragenden harrten, 045 Jeder mit anderer Empfänglichkeit, anderen Absichten und anderen Erfahrungen, so daß eigentlich Jeder im wahren Sinne des Wortes hier ein Autodidakt war, das heißt, ein Solcher, der sich am Ende selbst zu dem macht, was er ist und wird. Dies wurde in der That augenscheinlich, als der berühmte Mann endlich in die Thür trat, sich das Haar zurecht strich, rasch und anständig nach seinem Känzelchen eilte und dort mit achtungsvoller Anrede seinen Vortrag begann, nicht wie Einer, der streng und trocken lehren will, sondern wie ein Künstler, welcher durch Artigkeit, Wahl der Worte, Verbindung der Gedanken, durch Geist und Witz sich hervorthun möchte und sichtlich bestrebt ist, sich den Beifall auch der geringsten seiner Zuhörer zu erwerben. Aus der leichten Anordnung und dem rednerischen fließenden Vortrage des Gegenstandes, ohne alle geschriebene Vorlage, machten sich nicht im mindesten die mühseligen Studien und die gewissenhaft sorgfältigen Arbeiten fühlbar, welche sie gekostet hatten; die schnell vorübergehende anschauliche Rede schien mehr eine Anregung und 046 Aufforderung zu eigener Belehrung, als eine feststehende unveränderliche Lehre zu sein, bei Jedem wieder anders wirkend und sein unmittelbares Selbsturtheil erweckend. Der gleiche Gegenstand führte den Einen sofort und vielleicht für immer zu philosophischem Denken, den Anderen zu umfassender Naturbetrachtung, den Dritten zur besonderen Erforschung des menschlichen Körpers oder zur Heilkunst; der Vierte endlich, durch die Darstellung des Nahrungsprocesses, verfiel gar auf nationalökonomische Studien und wurde vielleicht ein großer Politicus, während der Fünfte, Sechste und Siebente die gleichen Dinge nur anhörten und niederschrieben, um sie in einem halben Jahre gänzlich zu vergessen und später als große Theologen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Fleischeslust, Herzensverstocktheit, Augen- und Ohrendienst zu reden, ohne eine klare Vorstellung von den betreffenden Organen zu besitzen.
• Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war, zu äußerer plastischer Verwendung einige gute Kenntnisse zu holen, wirkte schon die erste Stunde so, daß er sowohl seinen Zweck als alle seine 047 Verhältnisse vergaß und allein gespannt war auf die zuströmende Erfahrung. Hauptsächlich beschäftigte ihn alsobald die wunderbar scheinende Zweckmäßgkeit in den Einzelheiten des thierischen Organismus; jede neue Thatsache schien ihm ein Beweis zu sein von der Scharfsinnigkeit und Geschicklichkeit Gottes, und obgleich er sich sein Leben lang die ganze Welt nur als vorgedacht und geschaffen vorgestellt hatte, so war es ihm nun bei diesem ersten Einblicke zu Muth, als ob er bisher eigentlich gar nichts gewußt hätte von der Erschaffung der Creatur, dagegen jetzt mit der lebendigsten Ueberzeugung wider Jedermann das Dasein und die Weisheit des Schöpfers behaupten könne und wolle. Aber nachdem der kluge Lehrer die Trefflichkeit und Unentbehrlichkeit der Dinge auf das Schönste geschildert, ließ er sie unvermerkt in sich selbst ruhen und so vollkommen in einander aufgehen, daß die ausschweifenden Schöpfergedanken eben so unvermerkt zurückkehrten und in den geschlossenen Kreis der Thatsachen gebannt blieben, welcher jener Schlange der Ewigkeit gleicht, die sich selbst in den Schwanz 048 beißt. Und wo ein Theil noch unerklärlich war und dunkel in's Fabelhafte verschwand, da holte der Redner ein helles Licht aus dem Erklärten und ließ es in jene Dunkelheit glänzen, so daß wenigstens alle unbescheidenen und ungehörigen Seitengedanken vertrieben wurden und der dunkle Gegenstand unberührt und jungfräulich seiner Zeit harrte, wie eine ferne Küste im Frühlichte. Selbst da, wo er entsagen zu müssen glaubte auf eine jemalige Erkenntniß, that er dies mit der überzeugenden Hinweisung, daß doch Alles mit rechten Dingen zuginge und in der Gränze des menschlichen Wahrnehmungsvermögens keineswegs eine Gränze der Folgerichtigkeit und Einheit der Natur läge. Hierbei brauchte er keinerlei gewaltsame Reden und vermied gewisse theologische Ausdrücke so gut, wie den Widerspruch dagegen; die Stumpfsinnigen und Eingenommenen merkten auch von Allem nichts, und schrieben unverdrossen nieder, was ihnen zweckdienlich schien für Eigenliebe und aufzustellende Meinungen, während die Unbefangenen alle Hintergedanken fahren ließen und bei des Lehrers klugen Wendungen 049 mit frohem Lächeln die Achtung vor dem reinen Wissen lernten.
• Auch im zuhörenden Heinrich traten die willkürlichen Voraussetzungen und Anwendungen bald in den Hintergrund, ohne daß er wußte, wie ihm geschah, als er sich den Einwirkungen der einfachen Thatsachen hingab; denn das Suchen nach Wahrheit ist immer ohne Arg, unverfänglich und schuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es aufhört, fängt die Lüge an bei Christ und Heide. Er versäumte nun keine Stunde in dem Hörsaal und nahm begierig ein neues Ganzes in sich auf, welches er vom Anfang bis zum Ende verstand und übersehen konnte. Wie ein Alp fiel es ihm vom Herzen, daß er nun doch noch etwas zu wissen anfing; im gleichen Augenblicke bereute er auch nicht mehr die gewaltsame und lange Unterbrechung des Lernens, da dasselbe dem Stillen des leiblichen Hungers gleicht; sobald der Mensch zu essen hat, empfindet er nichts mehr von der Pein und der Ungeduld des Hungers. Das Glück des Wissens gehört auch dadurch zum wahren Glücke, daß es einfach und rückhaltlos 050 und ob es früh oder spät eintrete, immer ganz das ist, was es sein kann, ohne Reue über das Versäumte zu erwecken; es weiset vorwärts und nicht zurück und läßt über dem unabänderlichen Bestand und Leben des Gesetzes die eigene Vergänglichkeit vergessen.
• Heinrich wurde von Wohlwollen und Liebe erfüllt gegen den beredten Lehrer, von dem er nicht gekannt war und mit welchem er nicht ein Wort gesprochen hatte; denn es ist nicht eine schlimme Eigenschaft des Menschen, daß er für geistige Wohlthaten dankbarer ist als für leibliche, und sogar in dem erhöhten Maße, daß die Dankbarkeit und Anhänglichkeit wächst, je weniger selbst die geistige Wohlthat irgend einem unmittelbaren äußerlichen Nutzen Vorschub zu leisten scheint. Nur wenn leibliches Wohlthun so hingebend und unwandelbar ist, daß es Zeugniß giebt von einer moralischen Kraft, also dem Empfänger wiederum zu einer geistigen Erfahrung und Wohlthat, zu einem inneren Halt- und Stützpunkte wird, erreicht seine Dankbarkeit eine schönere Höhe, welche ihn selber bildet und veredelt. 051 Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und Güte irgendwo sind, ist ja die schönste, die man machen kann, und selbst die Seele des Lasterhaften reibt sich vor Vergnügen ihre unsichtbaren dunklen Hände, wenn sie sich überzeugt, daß Andere für sie gut und tugendhaft sind.
Mit dem praktischen Sinne und dem raschen Aneignungsvermögen des Autodidakten fand sich Heinrich zurecht in der reichen Welt, die sich ihm aufthat; mit der plastischen Anschauungsweise, welche er als Künstler mitbrachte, wußte er die verschiedenen Momente des organischen Wesens lebendig aufzufassen, auseinander zu halten, wieder zu verbinden und sich deutlich einzuprägen, und so die Kunde von dem, woraus er eigentlich bestand, wodurch er athmete und lebte, in dem edelsten Theile desselben selbst aufzubewahren und mit sich herumzutragen, ein Vorgang, dessen Natürlichkeit jetzt endlich wohl so einleuchtend werden dürfte, daß er zum Gegenstande allgemeinster Erziehung gemacht wird. Mit dieser Kenntniß, auf welche der Mensch das erste Anrecht hat, müßten alle Volksschulen abschließen; 052 sie ist es, welche alle anderen von selbst anzieht, und in nothwendigster Weise sehr zweckmäßig gerade je nach Beschaffenheit des lernenden jungen Menschen. Alle Einwürfe von Altklugheit, Halbverständniß oder gar von Verbreitung einer allgemeinen Hypochondrie in das unbefangene Volksgemüth werden verstummen, sobald die classische Form für den großen öffentlichen Unterricht vom leiblichen Menschen gefunden ist.
• Die Kenntniß vom Charakteristischen und Wesentlichen der Dinge läßt diejenige vom letzten Grunde einstweilen eher vermissen oder führt wenigstens auf den Weg, denselben auf eine vernünftigere und mildere Weise zu suchen, während sie zugleich alle unnützen, müßigen Mährchen und Vorurtheile hinwegräumt und dem Menschen einen schönen, wirklichen Stoff und Halt zum Nachdenken giebt, ein Nachdenken, welches dann zu dem einzig möglichen Ideal, zu dem, was wirklich besteht, hinführt. Welch' ein Unterschied ist zwischen dem theosophischen Phantasten, der immerdar von der Quelle des Lichtes, als von einem irgendwo in's Centrum gesetzten sprühenden 053 Feuertopfe spricht, und zwischen dem sterbenden Goethe, welcher nach mehr Licht rief, aber ein besseres Recht dazu besaß, als jener, der nie sich um einen wahrhaften wirklichen Lichtstrahl bekümmert hat. Welch' ein Ersatz für das hergebrachte begriffslose Wort Ewigkeit ist die Kenntnißnahme von der Entfernung der Himmelskörper und der Schnelligkeit des Lichtes, von der Thatsache, daß wir allaugenblicklich Licht, also Körper mit ihren Schicksalen, in ihrem Bestehen, wahrnehmen, welches vor einem Jahre, vor hundert, tausend und mehr Jahren gewesen ist, daß wir also mit Einem Blicke tausend Existenzen tausend verschiedener Zeiträume auffassen, vom nächsten Baume an, welchen wir gleichzeitig mit seinem wirklichen augenblicklichen Dasein wahrnehmen, bis zu dem fernen Stern, dessen Licht länger unterweges ist, als das Menschengeschlecht unsers Wissens besteht, und der vielleicht schon nicht mehr war, ehe dasselbe begann, und den wir doch jetzt erst sehen.
Wo bleibt da noch eine Unruhe, ein zweifelhaftes Sehnen nach einer unbegriffenen Ewigkeit, 054 wenn wir sehen, daß Alles entsteht und vergeht, sein Dasein abmißt nach einander und doch wieder zumal ist.
Das Licht hat aber den Sehnerv gereift und ihn mit der Blume des Auges gekrönt, gleich wie die Sonne die Knospen der Pflanzen erschließt; es hat das Auge scheinbar selbständig sich gegenüber gesetzt, so daß, wenn das Auge des Thieres und des bewußtlosen Menschen sich schließt, für dasselbe auch kein Licht mehr in der Welt ist; aber im bewußten Menschen bleibt die Erfahrung, und durch die Generationen vereinigt die eingeborne Kunde wieder die Welle mit der Quelle, das Auge mit dem Lichte, so daß beide Eines sind, und wenn ein Auge sich schließet, so weiß es: noch ist das Licht da und genug Augen, es zu sehen. Das Licht hat den Gesichtssinn hervorgerufen, die Erfahrung ist die Blüthe des Gesichtssinnes und ihre Frucht ist der selbstbewußte Geist; durch diesen aber gestaltet sich das Körperliche selbst um, bildet sich aus, und das Licht kehrt in sich selber zurück aus dem von Geist strahlenden Auge. Denn der Geist, welchen 055 die Materie die Macht hat in sich zu halten, hat seinerseits die Kraft, in seinen Organen dieselbe zu modificiren und zu veredeln, Alles mit «natürlichen Dingen», und jeder Lebende, der mit Vernunft lebt und insofern er sich fortpflanzt oder erhebliche Geistesthaten übt, hat im strengsten Sinne des Wortes seinen bestimmten Antheil z. B. an der Ausbildung und Vergeistigung des menschlichen Gehirnes, seinen ganz persönlichen, wenn auch unmeßbaren Antheil.
Nur diesen Kreislauf können wir sehen und erkennen, und wir thun es; was darüber hinaus liegen sollte, das geht uns zunächst nichts an, und darf uns nichts angehen; denn so erfordert es die große Oekonomie des Weltlebens und der Welterkenntniß. Sollte wider allen sinnlichen Anschein und alles sinnliche Gefühl ein übernatürliches geistiges Gottwesen der Urgrund der Natur und unser Aller sein, so würde erst recht dieses Wesen selbst solche Oekonomie in die Welt gelegt und angeordnet haben, auf daß Alles seinen Gang gehe und Nichts vorweggenommen werde. Diese Oekonomie verlangt, daß wir an das Natürliche 056 glauben, so lange wir es nicht ausgemessen haben und mit unseren kleinen Schädeln an den Rand gestoßen sind, und sie ist es, welche uns zuruft: Was wollet ihr aus der Schule laufen und suchet ein Verdienst darin, an das Uebernatürliche zu glauben, welches der Tod des Natürlichen ist, so lange eure kühnsten und erhabensten übernatürlichen Einbildungen und Vorstellungen noch tausendmal dunkler, ungewisser und kleiner sind, als die natürlichen Wirklichkeiten, zu deren Erkenntniß und Begriff ihr ein sicheres Pfand in der Hand habt? Ist das Verdienst, Treue, Ausdauer und Weisheit? Nein, es ist Untreue, Feldflüchtigkeit und Thorheit! Dergleichen Dinge ließ der vortragende Lehrer, nicht in solchen Ausdrücken, aber mit solchen Eindrücken seine Zuhörer gelegentlich zwischen den Zeilen lesen. Heinrich gehörte zu denen, welche recht wohl zwischen den Zeilen zu lesen wußten, und zwar weil er einen natürlichen Sinn für das Erhebliche besaß, auf welches es ankommt, und mit der Aufmerksamkeit und dem raschen Instincte der Autodidakten das Wesentliche ersah, das hinter 057 den Dingen liegt. Er merkte auch bald, daß es sich um nichts Geringeres, als um seinen Glauben an Gott und Unsterblichkeit handle; aber indem er denselben für lange geborgen und es nicht für nöthig hielt, auf seine Rettung bedacht zu sein, war er um so freisinniger beflissen, Alles aufzufassen und zu begreifen, was die innere Nothwendigkeit, Identität und Selbständigkeit der natürlichen Dinge bewies; denn eine wahrhaft wahre und freie Natur steht nicht an, sondern sie sucht es geflissentlich, Zugeständnisse zu machen, wo sie nur immer kann, gleich jenem idealen Könige, der noch nie dagewesen ist, und von welchem man träumt, daß er nicht aus Klugheit, sondern um ihrer selbst willen und rein zu seinem Vergnügen Concessionen mache. Rechthaberei und Noth sind die Mütter der Lüge; aber die Nothlüge ist ein unschuldiges Engelskind gegenüber der Lüge aus Rechthaberei, welche Eines ist mit Hochmuth, Eitelkeit, Engherzigkeit und nackter Selbstsucht und nie ein Zugeständniß macht, eben um keines zu machen. So entstand aus der Lüge die Rechtgläubigkeit auf Erden und aus der 058 Rechtgläubigkeit wieder die Lüge; freilich auch ein Kreislauf und eine Identität!
Heinrich freute sich im Gegentheile, im Namen seines liberalen und generösen Gottes jedes Fleckchen Welt einzuräumen, das sich selbst bewirthschaften konnte, und er gab sich redliche Mühe, ein festes Bewußtsein von solcher freien Nothwendigkeit oder nothwendigen Freiheit zu gewinnen, nicht zweifelnd, daß Alles zur größeren Ehre Gottes geschehe wie des Menschen, dessen Ehre mit der größeren Selbständigkeit und Verantwortlichkeit wachsen mußte.
Er suchte sich daher auch außer den anthropologischen Stunden so gut als möglich zu unterrichten, und wie er z. B. durch die Lehre vom Auge zum ersten Male veranlaßt wurde, sich in das Wesen des Lichtes einen Blick zu verschaffen, dadurch in die unendlichen Räume der Außenwelt geführt ward und von da wieder in den selbstbewußten Punkt seines eigenen sehenden Auges zurückkehrte, so geschah es noch in manch' anderer Hinsicht, und alles das ohne zu große Mühe noch Zeitaufwand. Die Ergebnisse der wahren 059 Wissenschaft haben die gute Eigenschaft, daß sie sich auf den ersten Blick von allem Phantastischen und Willkürlichen unterscheiden und in kürzerer oder längerer Zeit zum überzeugenden festen Lehrsatz eignen ohne fortwährende Probe ihres besonderen Rechenexempels. Der Satz, daß die Erde sich um die Sonne bewegt, wird in allen Kinderschulen gelehrt, und die Kinder nehmen ihn in ihr Wissen auf, ohne die physikalische Untersuchung seines Beweises anzustellen, während sie für ein einziges religiöses Dogma bis zu ihrer Mündigwerdung mit allem katechetischen Apparate unterwiesen werden, ohne am Ende mehr zu wissen als am Anfange, und ohne wider den Zweifel geschützt zu sein. Noch nie hat es einen Krieg gegeben wegen verschiedener Meinungen über Naturgesetze, weil ihre Art friedfertig, rein und genügend ist, und es gelang den Theologen nicht einmal, eine wehrbare Secte für die stehende Erde oder zum Schutze der mosaischen Schöpfungsgeschichte auf die Beine zu bringen; Religionskriege aber wird es geben, so lange es Priester, Dogmen und Bekenntnisse giebt. Im Kleinen schaut 060 man diesen Vorgang alle Tage; hat Jemand eine gute Wahrheit oder Thatsache geäußert, und sie wird ihm angezweifelt, so fällt es ihm nicht ein, darüber aufgebracht zu werden und sich in's Zeug zu werfen; wenn derselbe Mensch aber eine Sache erzählt oder vorgiebt, von der er doch nicht so recht überzeugt und überführt ist, so wird er alsobald in die größte Hitze gerathen und Ehre, Gut und Leben verpfänden, am liebsten aber demjenigen gleich an den Kragen gehen, der ihm einen Zweifel entgegensetzt. Wenn ein Bauersmann sagt: Ich habe das Korn besehen; es ist reif! der Nachbar aber erwiedert: Ich glaube nicht, daß es reif ist! so wird er ruhig sprechen: Das ist eure Sache! Ich halt' es für reif und werde es schneiden! Wenn derselbe Bauer aber sagt: Ich sah vergangene Nacht einen Geist auf meinem Markstein sitzen, und der Nachbar spricht: Das ist nicht möglich, denn es giebt keine Geister! so wird der Bauer einen großen Lärm erheben, erstlich weil man ihm abstreitet, was er mit eigenen Augen gesehen haben will, zweitens weil man die Geister läugnet, und endlich weil 061 man in Folge dessen wohl gar nicht an ein «anderes Leben» und an eine Wiedervergeltung nach dem Tode glaubt. Ja, er wird deswegen vielleicht dem Nachbar gar nicht antworten, aber demselben nichts mehr vertrauen und allen Umgang mit ihm abbrechen; und doch hätte er als Bauer mehr Grund, jenem zu mißtrauen, welcher die Reife des Kornes nicht zu beurtheilen weiß, da derselbe in seinen Augen nothwendig ein schlechter Landwirth sein muß. Aber er thut dies im Grunde auch ganz gewiß; nur macht er kein Aufhebens davon und läßt es sich nicht anmerken, da er über die Sache klar und ruhig ist, da er sie übersieht und weiß, daß Zank die Wahrheit nicht ändert, das Korn nicht unreif macht und die Regeln des Ackerbaues nicht aufhebt. Sein Lärm gegen den Gespensterläugner hingegen ist ein blinder Lärm und Trotz, der mehr gegen sich selbst gerichtet ist, gegen die Dunkelheit und Unsicherheit des eigenen Bewußtseins über den kitzligen Punkt. Und so ist es von je gewesen, ist es und wird es sein. Jeder, der einem Anderen moralische oder physische Gewalt anthut wegen dessen, 062 was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht weiß, giebt mit jedem Gewaltstreiche sich selbst eine Ohrfeige, und dieser geheime Uebelstand verleiht solchem Streite den schmerzlichen, bitterlichen und fanatischen Charakter, den Religionskriegen das vertracte hypochondrische Ansehen.
Ketzer braten ist ein durchaus hypochondrisches, trübsinniges Vergnügen, ein selbstquälerisches und wehmüthiges Geschäft und gar nicht so lustig, wie es den Anschein hat.
Heinrich faßte indessen alles Wissen, das er erwarb, sogleich in ausdrucksvolle poetische Vorstellungen, wie sie aus dem Wesen des Gegenstandes hervorgingen und mit demselben Eines waren, so daß, wenn er damit hantirte, er die allerschönsten Symbole besaß, die in Wirklichkeit und ohne Auslegerei die Sache selbst waren und nicht etwa darüber schwammen, wie die Fettaugen über einer Wassersuppe. So waren ihm die beiden Systeme des Blutkreislaufes und der Nerven mit dem Gehirne, jedes in sich geschlossen und in sich zurückkehrend, wie die runde Welt, und doch jedes das andere bedingend, die schönsten 063 plastischen Charakterwesen, welche ihm allezeit bewundernswerth, geheimnißvoll und anlockend waren, ohne mystisch zu sein. Das schöne rothe Blut, sicht-, fühl- und hörbar, unablässig umgetrieben und wandernd, gegenüber dem unbeweglichen, still verharrenden und farblosen Nervensystem, welches doch der allgegenwärtige und allmächtige Herr der Bewegung ist, mit geheimnißvoller Blitzesschnelle herrschend, während jenes in ehrlicher und handgreiflicher Arbeit wandern muß, das Blut war ihm der allgemeine Strom organischen Lebens, angefüllt mit sphärischen Körpern, jeder schon eine kleine Welt und ungezählt, wie die Sterne des Himmels; und jeder dieser Myriaden Körper, der einige Pulsschläge lang kreiste, ehe er unterging, war ihm so wichtig und merkwürdig, wie jene leuchtenden Globen, welche Millionen Jahre sich im Strome fortschwingen, ehe sie eben auch wieder anderen Platz machen. Wenn man dem Menschen einen bestimmten Theil seines Blutes entzieht und weggießt, so wird er dadurch weder verstümmelt, noch verändert, und jenes Blut ersetzt sich unaufhörlich; daher sah der grüne 064 Heinrich recht eigentlich in ihm das rothe Lebensbächlein, das vorüber fließt, an welchem erst die bleiche geheimnißvolle Individualität des Nervensystemes sitzt, wie der Knabe an der Quelle, immer durstig daraus trinkend, behende um sich schauend und dabei ein wahrer Hexenmeister von Proteus, bald Gesicht, bald Gehör, bald Geruch, bald Gefühl, jetzt Bewegung und jetzt Gedanke und Bewußtsein, und doch bezwingbar wie Proteus, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen, wenn man das seltsame Wesen unerschrocken greift und festhält.
Die Menschen, insofern sie sich unterrichten, zerfallen unter sich vorzüglich in zwei verschiedene Arten oder Classen; die eine derselben lernt ohne plastischen und drastischen Anknüpfungspunkt Alles, was ihr unter die Zähne geräth, Alles zumal, Alles mit gleicher Leichtigkeit oder Schwierigkeit, das Wichtige wie das Unwichtige, und Alles zu äußerlichem Gebrauche, schnell es ausgebend und noch schneller vergessend, oder auch wohl die tönende Formel unermüdlich wiederholend, während der lebendige Inhalt schon längst 065 todt und verschwunden ist. Da diese Heerschaar das Wesentliche vom Unwesentlichen, wie es von Zeit und Umständen bedingt wird, nie unterscheidet, sondern beides mit gleichem Eifer betreibt, das Wesentliche aber seiner gewichtigeren Natur nach unter diesem Eifer leicht zu Boden fällt, so bleibt ihr meistens die Spreu des Unwesentlichen zwischen den Fingern, welche sie hastig hin und her wendet, besieht und an die Nase hält. Weil sie das Wesentliche immer entschlüpfen läßt, so hält sie es für schwieriger und höchst geheimnißvoll, zunftmäßig und exclusiv, streitet sich darüber mit den Manieren und Eigenschaften des Unwesentlichen, mit dem sie es gewöhnlich zu thun hat, oder behandelt dieses mit dem Gewichte des Wesentlichen, welches ihr längst unter den Händen verschwunden ist. In der That ist aber beides gleich leicht und gleich schwer zu lernen, das Wesentliche und das Unwesentliche, wenn es nur zur rechten Stunde geschieht, und die Verkennung dieser Thatsache, welche mit dem ganzen Gesetz der Natur innig verbunden und vereint ist, bringt den Lärm und Ruf der falschen Gelehrsamkeit 066 hervor, welche die Welt erfüllt, verwirrt und verdunkelt, statt sie zu erhellen.
Die zweite Classe der Lernenden besteht aus denjenigen, welche Nichts lernen, ohne daß der innere Antrieb und die Einsicht des vernünftigen Zweckes mit dem äußeren Anlasse zusammenfällt, welche absolut Nichts verstehen, was nicht vernünftig und wesentlich für sie ist, denen alle Mittel furchtbare Räthsel sind, so lange sie nicht das Gesetz einsehen, das sie bewegt, und den Zweck, um dessentwillen sie da sind. Vor allem Unwesentlichen stehen diese wie Dummköpfe und begreifen das Treiben der Welt nicht, und sie verharren in ihrer Demuth und halten das auch wohl für etwas, was sie eben nicht verstehen; gewohnt, selbst nur das Wesentliche und Lebendige zu begreifen und zu verstehen, setzen sie dies auch von allen Anderen voraus, welche vorgeben, etwas zu verstehen. Aus diesem letzteren Umstande, wenn sie endlich doch einen Zipfel erhaschen, sich Luft verschaffen und mit der ersten Classe zusammenstoßen, entstehen alsdann neue sonderbare Mißverständnisse und Verwirrungen, indem die Leute 067 des Wesentlichen den Leuten des Unwesentlichen das, worauf es ankommt, entgegen halten, was diese nicht verstehen; diese aber das, worauf es nicht ankommt, hervorkehren, was jene hinwieder nicht begreifen. Beide Abtheilungen verfallen aber einer sehr tragischen Schuld; die eine, weil sie sich immer mit Dingen abgiebt, auf welche es unter den gegebenen Umständen niemals ankommt, läßt sich eine muthwillige und unnütze Thätigkeit zu Schulden kommen; die andere, weil in der allgemeinen Verwirrung ihr leicht Alles eitel und werthlos erscheint, hat eine Neigung, es dem Zufall zu überlassen, ob er ihr Anknüpfungspunkte zum Erfassen und Durcharbeiten zuführen wolle, und einen bedenklichen Hang zur Trägheit, anstatt die Dinge zu schütteln und das Wesentliche aus freiem Entschlusse an die Oberfläche und an sich heranzuziehen. Jene leben daher in munterer Begehungssünde, diese leiden an Unterlassungssünden.
• Heinrich fühlte plötzlich, daß er, was wenigstens das Unterlassen betrifft, bisanher zu der letzteren Sündenschaar gehört habe, als der Professor 068 die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen über den sogenannten freien Willen abschloß. Denn obgleich er schon hundertmal diesen Ausdruck gehört und gelesen, auch genügsam wilde Philosophie und Theologie, wie sie in seinem Garten wuchs, getrieben hatte, so war es ihm doch noch nie eingefallen, darüber nachzudenken, oder hielt höchstens den «freien Willen» für eine Art müßigen Lückenbüßers für zusammengesetzte Dinge, woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er dazu nicht reif und befähigt war, ehe er die fragliche Sache näher kannte und verstand. • Es giebt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, sondern auch aufzubauen wissen müsse, welche von gemüthlichen und oberflächlichen Leuten allerwege angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Thätigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg tritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo man abspricht oder negirt, was man nicht durchlebt und durchdacht hat, sonst aber ist sie überall ein Unsinn; denn man reißt nicht immer nieder, um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum 069 für das Licht und die frische Luft der Welt zu gewinnen, welche von selbst überall da Platz nehmen, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den Dingen in's Gesicht sieht und sie mit Aufrichtigkeit gegen sich selbst behandelt, so ist Nichts negativ, sondern Alles ist positiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen, und die wahre Philosophie kennt keinen andern Nihilismus, als die Sünde wider den Geist, d. h. das Beharren im selbstgefühlten Unsinn zu einem eigennützigen oder eitlen Zwecke.
Was aber Heinrich besonders zu seinen Gedanken über den freien Willen antrieb, das war die auffallende Energie, welche in den kurzen Bemerkungen des Lehrers lag, gegen dessen sonstige Gewohnheit in solchen heikeln Punkten. Denn es war das Steckenpferd des sonst durchaus unbefangenen und duldsamen Mannes, die Lehre vom freien Willen des Menschen überall anzugreifen und abzuthun, wo und wie er ihr nur beikommen konnte, und er ließ sich desnahen sogar in seinen Vorlesungen an dieser Stelle jedesmal zu einer kurzen aber sehr kräftigen Demonstration 070 gegen das Dasein der moralischen Kraft, die man freien Willen nennt, hinreißen in einem auf die Spitze getriebenen materialistischen Sinne. Diese Absonderlichkeit war nun zwar durchaus keine negative nihilistische Manie, sondern sie ruhte auf der «positiven» Grundlage einer durchgeführten Nachsicht und Geduldsamkeit für die Irrthümer, Schwächen und trübselig thierischen Handlungen der schlechtbestellten Menschenkinder; aber nichts desto minder hatte sie ihren Grund in der unglücklichen Neigung vieler, selbst ausgezeichneter Naturalisten, auch an ungehöriger Stelle die Materie auf abstoßende und ganz überflüssige Weise zu betonen. Wenn man aus einem grünen Tannenbaum drei Dinge macht: eine Wiege, einen Tisch und einen Sarg, so sagt man nicht, so lange diese Dinge ihre nutzbare Bestimmung erfüllen: bringt mir das Tannenholz, das dermalen eine Wiege formirt; setzt euch an das Tannenholz, welches auf vier Beinen sich zum Tische erhebt, legt mich in das sechsbretterige Tannenholz; sondern man nennt diese Gegenstände schlechtweg eine Wiege, einen Tisch und einen Sarg, 071 und erst wenn sie ihre vergängliche Bestimmung erfüllt haben, erinnert man sich wieder an das Holz, aus welchem sie gemacht, und man sagt beim Anblicke ihrer Trümmer: dies ist altes Tannenholz, lasset es uns verbrennen; Alles zu seiner Zeit!
Ihre Zeit hat auch die Rose. Wer wird, wenn sie erblüht, um sie herum springen und rufen: He! Dies ist nichts als Pottasche und einige andere Stoffe, in den Boden damit, auf daß der unsterbliche Stoffwechsel nicht aufgehalten werde! Nein, man sagt: Dies ist zur Zeit eine Rose für uns und nichts Anderes, freuen wir uns ihrer, so lange sie blüht!
Während Schiller, der idealste Dichter einer großen Nation, seine unsterblichen Werke schrieb, konnte er nicht anders arbeiten, als wenn eine Schublade seines Schreibtisches gänzlich mit faulen Aepfeln angefüllt war, deren Ausdünstung er begierig einathmete, und Goethe, den großen Realisten, befiel eine halbe Ohnmacht, als er sich einst an Schiller's Schreibtisch setzte. So niederschlagend dieser ausgesuchte Fall für alle verklärten 072 und übernatürlichen Idealisten sein mag, so wird während des Genusses von Schiller's Geistesthaten deswegen Niemand an die faulen Aepfel denken oder mit besonderer Aufmerksamkeit bei ihrer Erinnerung verweilen.
Aber der Professor konnte sich von der Vorstellung des ununterbrochenen activen und passiven Verhaltens des Gehirnes und der Nerven, als des hervorbringenden lebendigen Ackergrundes, niemals trennen zu Gunsten des Hervorgebrachten, der moralischen Frucht, als ob eine Aehre und eine Erdscholle nicht unzweifelhaft zwei Dinge, zwei Gegenstände wären. Das kam daher, daß er jedesmal auf diesem Punkte einer kleinen Verwirrung anheimfiel, welche seine Begeisterung für seinen materiellen Gegenstand anrichtete, und in welcher er ein wenig zu jener großen Schule derer gehörte, die das Wesentliche vom Unwesentlichen nicht zu unterscheiden wissen; denn in dem Augenblicke, wo es sich um eine moralische Welt handelt, hört die Materie, so fest jene an diese geschmiedet ist, auf, das Höchste zu sein, und nach dem Edleren muß 073 man trachten, sonst wird das, was man schon hat, blind und unedel.
• Es reizte Heinrich, auch in dieser Frage die Welt seinem Gotte, zwar immer in dessen Namen, unabhängig gegenüber zu stellen und einen moralischen freien Willen des Menschen, als in dessen Gesammtorganismus begründet und als dessen höchstes Gut, aufzufinden. Sogleich sagte ihm ein guter Sinn, daß wenn auch dieser freie Wille ursprünglich in den ersten Geschlechtern und auch jetzt noch in wilden Völkerstämmen und verwahrlosten Einzelnen nicht vorhanden, derselbe sich doch einfinden und auswachsen mußte, sobald überhaupt die Frage nach ihm sich einfand, und daß, wenn Voltaire's Trumpf: «wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man einen erfinden!» viel mehr eine Blasphemie als eine «positive» Redensart war, es sich nicht also verhalte, wenn man dieselbe auf das Dasein des freien Willens anwende, und man vielmehr nach Menschenpflicht und Recht sagen müsse: Wenn es bis diesen Augenblick wirklich keinen freien Willen gegeben hätte, so wäre es «des Schweißes der Edlen» werth, 074 einen solchen zu erringen, hervorzubringen und seinem Geschlechte für alle Zeiten zu übertragen.
Gegenüber den materialistischen sowohl, als den mystischen Gegnern des freien Willens, den Leuten von der Gnadenwahl, steht die rationelle Richtung, die Vernunftgläubigkeit von Gottes Gnaden, die Bekennerin des bestimmten und unbeschränkten freien Willens, göttlichen Ursprungs, unzweifelhafter Allmacht und der untrügliche Richter seiner selbst. Aber diese Richtung hegt, bei diesem Anlasse, eben so wenig Achtung vor dem Körperlich-Organischen und dessen bedingender Continuität, als die Materialisten von der gröbsten Sorte vor dem vermeintlichen Abstractum, und ihr absoluter rationalistischer freier Wille ist ein kleiner Springinsfeld, dessen Leben, Meinungen und Thaten eben auch nicht weiter reichen, als es gelegentlich allerlei Umstände erlauben wollen. Heinrich, welcher seinen bisherigen Meinungen nach ganz dazu angethan war, sich zu dieser Fahne zu schlagen, hatte jetzt schon zu viel Aufmerksamkeit und Achtung für das Leibhafte und dessen gesetzliche Macht erworben, als daß er es 075 unbedingt gethan hätte. Vielmehr gerieth er auf den natürlichen Gedanken, daß das Wahrste und Beste hier wohl in der Mitte liegen dürfte, daß innerhalb des ununterbrochenen organischen Verhaltens, der darin eingeschachtelten Reihenfolge der Eindrücke, Erfahrungen und Vorstellungen, zuinnerst der moralische Fruchtkern eines freien Willens keime zum emporstrebenden Baume, dessen Aeste gleichwohl wieder sich zum Grunde hinabbögen, dem sie entsprossen, um dort unablässig auf's Neue Wurzeln zu schlagen.
• «Diesen Proceß,» sagte er sich, «kann man am füglichsten mit einer Reitbahn vergleichen. Der Boden derselben ist das Leben dieser Welt, über welches es gilt hinwegzukommen auf gute Manier, und kann zugleich den festen derben Grund aller Materie vorstellen. Das wohlgeartete und geschulte Pferd ist das besondere, immer noch materielle Organ, der Reiter darauf der gute menschliche Wille, welcher jenes zu beherrschen und zum freien Willen zu werden trachtet, um auf edlere Weise über jenen derben Grund wegzukommen; der Stallmeister endlich mit seinen hohen Stiefeln 076 und seiner Peitsche ist das moralische Gesetz, das aber einzig und allein auf die Natur und Eigenschaften des Pferdes gegründet ist und ohne dieses gar nicht vorhanden wäre, nicht 'gedacht werden könnte', wie die Juden sagen. Das Pferd aber würde ein Unding sein, wenn nicht der Boden da wäre, auf welchem es traben kann, so daß also sämmtliche Glieder dieses Kreises durch einander bedingt sind und keines sein Dasein ohne das andere hat, ausgenommen den Boden der stummen und blinden Materie, welcher daliegt, ob Jemand über ihn hinreite oder nicht. Nichtsdestoweniger giebt es gute und schlechte Reitschüler, und zwar nicht allein nach der körperlichen Befähigung, sondern auch, und zwar vorzüglich, in Folge des freien entschlossenen Zusammennehmens. Den Beweis dafür liefert das erste beste Reiterregiment, das uns über den Weg reitet. Die tausend Mann Gemeine, welche keine Wahl hatten, mehr oder weniger aufmerksam zu lernen, sondern durch eine eiserne Disciplin in den Sattel gewöhnt wurden, sind alle gleich zuverlässige und brave Reiter, keiner zeichnet sich besonders 077 aus, keiner bleibt zurück, und um das Bild von einem tüchtigen und gesunden Schlendrian des gemeinen Lebens vollständig zu machen, kommen ihnen die zusammengedrängten und in die Reihe gewöhnten Pferde auf halbem Wege entgegen, und was der Reiter etwa versäumen sollte, thut unfehlbar sein Organ, das Pferd, von selbst. Erst wo dieser Zwang und Schlendrian, oder das bitter Nothwendige der Masse aufhört und wo die Freiheit beginnt, beim hochlöblichen Offiziercorps, giebt es sogenannte gute Reiter, schlechtere Reiter und vorzügliche Reiter; denn diese haben es in ihrer Gewalt, über das geforderte Maß hinaus mehr oder weniger zu leisten. Das Ausgezeichnete, Kühne, was der Gemeine erst im Drange der Schlacht, in unausweichlicher Gefahr und Noth unwillkürlich und unbewußt thut, die großen Sätze und Sprünge übt der Offizier alle Tage zu seinem Vergnügen, aus freiem Willen und gewissermaßen theoretisch; doch fern sei es von ihm, daß er deswegen allmächtig sei und nicht trotz allem Muth und aller seiner Kunst von einem erschreckten Pferde einmal abgeworfen, 078 oder von seinem allzu überlegenen Thiere bewogen werden könne, durch ein anderes Sträßlein zu reiten, als er eigentlich gewollt hat. Ob nun ein gutes Reiterregiment denkbar wäre, das aus lauter Offizieren bestände, das heißt aus Leuten, welche ihren freien Willen zur Grundlage ihrer Tüchtigkeit machten, und in Betracht, daß Bürgerwehrcavallerie, wo dies der Fall ist, nicht viel taugt, dies zu beantworten, gehört nicht hierher, da jedes Gleichniß hinkt, welches man über seine Bestimmung hinaus verfolgt.»
• «Wird der Steuermann,» fuhr Heinrich fort, «zufälliger Stürme wegen, die ihn verschlagen können, der Abhängigkeit wegen von günstigen Winden, wegen schlechtbestellten Fahrzeuges und unvermutheter Klippen, wegen verhüllter Leitsterne und verdunkelter Sonne sagen: es giebt keine Steuermannskunst! und es aufgeben, nach bestem Vermögen sein vorgenommenes Ziel zu erreichen?
• Nein, gerade die Unerbittlichkeit, aber auch die Folgerichtigkeit, Nothwendigkeit der tausend ineinandergreifenden Bedingungen in ihrer Klarheit müssen uns reizen, das Steuer nicht fahren 079 zu lassen und wenigstens die Ehre eines tüchtigen Schwimmers zu erkämpfen, welcher in möglichst gerader Richtung quer durch einen stark ziehenden Strom schwimmt. Nur Zwei werden nicht über solchen Strom gelangen: derjenige, welcher sich nicht die Kraft zutraut und sich von den Wellen widerstandlos fortreißen läßt, und der Andere, welcher vorgiebt, er brauche gar nicht zu schwimmen, er wolle hinüberfliegen in der Luft, er wolle nur noch ein Weilchen warten, bis es ihm recht gelegen und angenehm sei!»
• Dann kam Heinrich noch einmal auf den Satz zurück, wiederholte ihn und befestigte ihn recht in sich: die Frage nach einem gesetzmäßigen freien Willen ist zugleich in ihrem Entstehen die Ursache und Erfüllung derselben, und wer einmal diese Frage gethan, hat die Verantwortung für eine sittliche Bejahung auf sich genommen.
Dies war einstweilen das Schlußergebniß, welches er aus jenen anthropologischen Vorlesungen davontrug, und indem er dasselbe sich ernsthaft vorsagte, merkte er erst, daß er bis jetzt vom Zufälligen sich habe treiben lassen, wie ein Blatt 080 auf dem Bache; oder er dachte sogleich an seine aufgeschriebene Jugendgeschichte, die in seinem alten Koffer lag, und an alles seither Erlebte, und Alles kam ihm nunmehr mit Einem Blicke vor wie ein unbewußter Traum. Zugleich fühlte er aber, daß er von nun an sein Schifflein tapfer lenken und seines Glückes und des Guten Schmied sein müsse, und ein sonderbares, verantwortlichkeitsschwangeres Wesen kräuselte sich tief in seinem Gemüthe, wie er es bis jetzt noch nie empfunden zu haben sich erinnerte.