GHA 1.02

029 Zweites Kapitel.

Indem eine Grundlinie der Landschaft nach der anderen sich verschob und veränderte, und aus dem heiteren Ziehen und Weben ein ganz neuer Gesichtskreis hervorging, welcher allmälig wieder in einen neuen sich auflöste, war Heinrich, mit hellen Jugendaugen aufmerkend, seinem eigenen Wesen zurückgegeben. Die verlassene Mutter und Heimath bildeten wohl eine zarte und weiche Grundlage in seinem Gemüthe; doch auf ihr spielten mit ungebrochenen Farben alle Bilder der neuen Welt, welche ihm aufging. Denn obgleich schon ziemlich die weite Welt in leicht erfaßten Bildern seinem innern Sinne vorbeigezogen war und besonders sein Künstlergedächtniß die Formen und Gestalten der fernsten Zonen bewahrte, so war ihm doch jetzt die kleinste Neuheit, 030 welche durch jede weitere Stunde Wegs gebracht wurde, das Nächste und Wichtigste. Eine neue Art von bemalten Fensterladen oder Wirthshausschildern, eine eigenthümliche Gattung von Brunnensäulen oder Dachgiebeln in diesem oder jenem Dorfe, besonders aber die bald vor- bald seitwärts, bald fern bald nah, immer frisch auftauchenden Bergzüge und Erdwellen machten ihm die größte Freude. Es war ein windstiller, lieblicher Frühlingstag. Lange Zeit sah er eine milde weiße Wolke über dem Horizonte stehen, zu seiner Rechten, oder auch zur Linken, wie der Wagen eben fuhr; die sanften, bald fern blauen, bald nah grünen oder braunen Wogen der Erde flossen still darunter hin, sie aber blieb immer dieselbe, bis sie endlich, als er sie eine Weile vergessen hatte und wieder suchte, auch verschwunden war. Am Meisten freute ihn jedoch, wenn er, immer mehr sich von der Geburtsstadt entfernend, stets noch an einem ihm unbekannten Orte ein bekanntes Gesicht vorübergleiten sah, das er sonst an Wochenmärkten oder Festtagen in der beschränkten Stadt bemerkt hatte; wohl zehn Stunden 031 von zu Hause weg, sah er sogar an einem Brunnen noch ein schönes falbes Pferd trinken, welches ihm zu Hause schon öfters aufgefallen war, als vor ein buntes Wägelchen gespannt, auf welchem ein dicker Müller saß. Richtig ließ sich auch der Müller im Sonntagsstaate sehen und Heinrich wußte nun, wo das falbe Pferd zu Hause war. Dieses waren Alles noch Zeichen der Heimath, freundliche Begleiter und so zu sagen die letzten Thürsteher, welche ihn wohlwollend entließen.

Aber nicht nur in der äußern Umgebung, auch an sich selbst empfand er den Reiz eines neuen Lebens. Dann und wann begegnete ein reisender Handwerksbursch, ein alter zitternder Mann, ein verlaufenes bleiches Bettlerkind dem dahinrollenden Wagen. Während keiner der andern Reisenden sich regte, wenn die demüthig Flehenden mühsam eine Weile neben dem schnellen Fuhrwerke hertrabten, suchte Heinrich immer mit eifriger Hast seine Münze hervor und beeilte sich, sie zu befriedigen. Dabei fiel es ihm nicht schwer, es mit einer Miene zu thun, welche den Bettler 032 gewissermaßen zu ihm herauf hob, statt noch mehr abwärts zu drücken, und je nach dem besonderen Erscheinen des Bittenden, leuchtete aus Heinrichs Augen ein Strahl des Verständnisses, der unbefangenen Theilnahme, eines sinnigen Humores oder auch ein Anflug mürrischen, lakonischen Vorwurfes; immer aber gab er und die von ihm Beschenkten blieben oft überrascht und nachdenklich stehen. Weil Gewohnheit und Sitte nur eine kleine Gabe, ein Unmerkliches verlangen, so hielt er es um so mehr für würdelos, je einen Armen erfolglos bitten zu lassen, möge nun geholfen werden oder nicht, möge Erleichterung oder Liederlichkeit gepflanzt werden; ein gewisser menschlicher Anstand schien ihm unbedingt zu gebieten, daß mit einer Art Zuvorkommenheit diese kleinen Angelegenheiten abgethan würden. Er hatte noch nicht die Kenntniß erworben, daß bei dem faulen und haltlosen Theile der Armen durch wiederholtes Abweisen jenes Gekränktsein und dadurch jener Stolz geweckt werden müssen, welche endlich Selbstvertrauen hervorbringen.

Allein bisher war es ihm nur spärlich vergönnt, 033 dem Zuge seines Herzens zu folgen. Indem er als einziges Kind bei seiner vorsichtigen und haushälterischen Mutter lebte, welche, während er seinen Träumen nachhing, ihm so zu sagen den Löffel in die Hand gab, geschah es selten, daß er mit etwelcher Münze versehen und wenn er es war, so brannte sie ihm in der Hand, bis er sie ausgegeben hatte. So kam es, daß ihn immer ein Schrecken überfiel, sobald er von fern einen Bettler ahnte und ihm auszuweichen suchte. Konnte dies nicht geschehen, so ging er rasch abweisend vorbei, und wenn der Bettler nachlief, hüllte er seine Verlegenheit in einen rauhen, unwilligen Ton, wobei aber sein weißes Gesicht eine flammende Röthe überlief. Er konnte so rechte Unglückstage haben, wo er viele und verschiedenste arme Teufel antraf, ohne einem Einzigen etwas geben zu können und er mußte fortwährend ein böses Gesicht machen; denn als er einst ganz gemüthlich und vertraulich einem großen Schlingel gesagt hatte, er besäße selbst kein Geld, forderte ihn dieser höhnisch auf, mit ihm betteln zu gehen. In allem diesen lag nun 034 freilich, wie viele Leute sagen würden, mehr ein unbefugter Hochmuth, als eine demüthige Barmherzigkeit; vielleicht aber könnte man auch sagen: Es ist die königliche Gesinnung eines ursprünglichen und reinen Menschen, welche, allgemein verbreitet, die Gesellschaft in eine Republik von lauter liebevollen und wahrhaft adelich gesinnten Königen verwandeln würde; es ist die immerwährende Erhebung des Herzens, welche nach der That trachtet; es ist die göttliche Einfalt, welche nur ein Ja und ein Nein kennt und letzteres verwahrt und verbirgt wie ein schneidendes Schwert.

Wenigstens fuhr Heinrich wie ein wahrer König in die helle Welt hinaus. Er war nun sich selbst überlassen und konnte in den Kreis seines Geschickes aufnehmen, was sein leichtes Herz begehrte; und indem er gewissenhaft den Armen seinen Kreuzer mittheilte, rechnete er dieses zu den seinem Leben nöthigen Ausgaben. Er dachte übermüthig: Zwei Pfennige sind immer genug, um den Einen wegzuschenken! und so trug er wenige Thaler in der Tasche, aber ein 035 Herz voll Hoffnung und blühenden Weltmuthes in der Brust. Wäre er ein König dieser Welt gewesen, so hätte er vermuthlich viele Millionen «verschleudert», so aber konnte er nichts vergeuden, als das Wenige, was er besaß: seines und seiner Mutter Leben.

Gegen Mittag fuhr der Postwagen durch ein großes ansehnliches Dorf, wie sie in der flachern Schweiz häufig sind, wo Fleiß und Betriebsamkeit, im Lichte fröhlicher Aufklärung und unter oder vielmehr auf den Flügeln der Freiheit, aus dem schönen Lande nur Eine freie und offene Stadt erbauen. Weiß und glänzend standen die Häuser längs der breiten saubern Landstraße, dehnten sich aber auch in die Runde, mannigfaltig durch Baumgärten schimmernd. Auch vor dem geringsten war ein Blumengärtchen zu sehen und im ärmsten derselben blühten eine Hyazinthe oder einige Tulpen hervor, Pflanzen, welche sonst nur von Vermöglicheren gezogen wurden. Es ist aber auch nichts so erbaulich, als wenn durch einen ganzen Landstrich eine fromme Blumenliebe herrscht. Ohne daß die Hausväter im Geringsten 036 etwa unnütze Ausgaben zu beklagen hätten, wissen die Frauen und Töchter durch allerlei liebenswürdigen Verkehr ihren Gärten und Fenstern jede Zierde zu verschaffen, welche etwa noch fehlen mag, und wenn eine neue Pflanze in die Gegend kommt, so wird das Mittheilen von Reisern, Samen, Knollen und Zwiebeln so eifrig und sorgsam betrieben, es herrschen so strenge Gesetze der Gefälligkeit und des Anstandes darüber, daß in kurzer Zeit jedes Haus im Besitze des neuen Blumenwunders ist. So sind in neuerer Zeit eine der schönsten Erscheinungen die Georginen. Vor zehn oder funfzehn Jahren blühten sie nur noch in den stattlich umhegten Gärten der Reichen, in der Nähe der Städte, oder vor glänzenden Landhäusern; dann verbreiteten sie sich unter dem Mittelstande, sich zugleich in hundertfarbigen Arten entfaltend durch die Kunst der Gärtner, und jetzt steht ein Strauch dieser merkwürdigen Blume, wo nur ein Fleck Erde vor der Hütte des ländlichen Tagelöhners frei ist. Wie die flüchtig wandernden Stammväter eines später großen Weltvolkes sind die ersten einfachen Exemplare 037 der Georginen aus dem fernen Reiche der Montezumas herübergekommen und schon bedecken ihre Enkel zahllos unsere Gärten, aus der Tiefe ihrer Lebenskraft entwickeln sie eine endlose Farbenpracht, wie sie die Hochebenen Mexikos nie gesehen haben. Kinder des neuweltlichen Westens, herrschen sie nun neben den Kindern des alten Ostens, den Rosen, wie sonst keine Blume. Freilich noch immer geben diese allein den süßen Duft und jenes kühlende Rosenwasser, welches krank geweinte Augen erfrischt, und noch immer eignen sie sich am Besten dazu, einen vollen Becher zu schmücken. Aber darin wetteifern die bunten Schaaren Amerikas mit dem glühenden Rosenvolke des Morgenlandes, daß sie mit unverwüstlicher Lebenslust unser Herz bis an das Ende des Jahres begleiten und ihre sammtenen Brüste öffnen, bis der kalte Schnee in sie fällt.

Hell und aufgeweckt erschien das Dorf, durch welches die Reisenden fuhren, in vielen Erdgeschossen erblickte man die Abzeichen von Gewerben: Uhrmachern, Kürschnern, sogar Goldschmieden und von Krämereien, welche man sonst nur 038 in den Städten findet; einige Häuser erschienen so herrisch, die Gärten davor so wohlgepflegt, daß man in den Besitzern mit Recht reiche Dorfmagnaten vermuthete. Doch wenn auch der Eine, gleich einem Deputirten der französischen Bourgeoisie, im eleganten Schlafrock, die Cigarre im Munde, aus dem Fenster schaute, so stand dafür der Andere in bloßen weißen Hemdsärmeln auf der Hausflur, und seine braunen Hände verkündeten, ungeachtet des städtischen Hauses, den rüstigen Ackersmann, ja vor einem seiner Fenster hing zum Durchlüften die Uniform eines gemeinen Soldaten, während aus der Dachluke seines Knechtes diejenige eines Unteroffiziers in der Frühlingsluft flaggte. Bei all' dieser Stattlichkeit war nun aber das Schulhaus doch das schönste Gebäude im Dorfe, welches in der ganzen Gegend öfter der Fall war. Auf einem freien geebneten Platze ragte es mit hohen blinkenden Fenstern empor und verrieth heitere geräumige Säle; von seiner Front schimmerte in kolossalen goldenen Buchstaben das Wort Schulhaus. Hier, auf dem sonnigen Vorplatze und 039 auf der breiten steinernen Treppe, welche fast tempelartig den ganzen vorderen Sockel bekleidete, mochte der Ort sein, welchen sonst die alten Dorflinden bezeichnen; denn eine Gruppe älterer und jüngerer Männer unterhielt sich hier behaglich, sie schienen zu politisiren; aber ihre Unterredung war um so ruhiger, bewußter und ernster, als sie vielleicht, dieselbe bethätigend, noch am gleichen Tage einer wichtigen öffentlichen Pflichterfüllung beizuwohnen hatten. Die Physiognomien dieser Männer waren durchaus nicht national über Einen Leisten geschlagen, auch war da nichts Pittoreskes, weder in Tracht, noch in Haar- und Bartwuchs zu bemerken; es herrschte jene Verschiedenheit und Individualität, wie sie durch die unbeschränkte persönliche Freiheit erzeugt wird, jene Freiheit, welche bei einer unerschütterlichen Strenge der Gesetze Jedem sein Schicksal läßt und ihn zum Schmied seines eigenen Glückes macht. So erschienen hier die Einen von rastloser Arbeit gebräunt und getrocknet, zäh und hart, Andere in Energie und Gewandtheit aufblühend, Andere wieder von Speculation gefurcht. 040 Alle aber waren äußerlich ruhig, ungebeugt und sahen kundig und auch ziemlich proceßerfahren in die Welt.

So übereinstimmend mit seinen rührigen Bewohnern nun das schöne Dorf dastand, um so fremdartiger ragte die Kirche aus ihm hervor. Dem Style oder besser Nichtstyle nach stammte sie aus dem achtzehnten Jahrhundert, ein ovales nüchternes Gebäude mit kreisrunden Fenstern, förmlichen Löchern, war nicht alt und nicht neu, weder der verbrauchte Baustoff, noch die magern geschmacklosen Verzierungen so wenig als der gedankenlose Thurm, thaten die mindeste Wirkung; man ahnte schon von außen die langweiligen hölzernen Bankreihen und die kleinliche Gipsbekleidung des Inneren, den unförmlich bauchigen Taufstein, das lächerliche braune Kanzelfaß; ohne Begeisterung gebaut und keine erweckend, verkündete das Gebäude den untröstlichen Schlendrian, mit welchem es gebraucht wurde. Es sah aus, wie ein unnützes sonderbares Möbel in einem Hause, welches der Besitzer aber eigensinnig um keinen Preis veräußern will, weil 041 er seit langen Jahren gewohnt ist, seinen Hut darauf zu stellen, wenn er nach Hause kehrt, oder, wenn man ein wenig artiger sein will, weil sein Firniß auf eine ihm angenehme Weise den Sonnenblick auffängt und auf den Stubenboden wirft.

Aus diesem herzlos unschönen Gebäude nun bewegte sich ein langer Zug sechszehnjähriger Confirmandinnen quer über die Straße, von einem dicken jovialen Pfarrherrn angeführt, so daß der Postwagen anhalten mußte bis alle vorbei waren. Schwarz gekleidet, mit gebeugten Häuptern, die thränenden Augen in weiße Taschentücher gedrückt, wallten die zarten Gestalten paarweise langsam vorüber, die keuschen Lippen noch feucht von dem Weine, welchen man ihnen als Blut zu trinken, in der Kehle noch das Brot, welches man ihnen als Menschenfleisch zu essen gegeben hatte. Diese dunkle Mädchenschaar mit dem rothnasigen Pfarrer an der Spitze, kam Heinrich vor, wie ein Flug gefangener Nachtigallen aus dem Morgenlande, welche ein betrunkener Vogelhändler zum Verkauf umher führt. 042 Der Zug schlängelte sich aber auch traumhaft genug unter dem klaren Himmel und durch Land und Leute hin.

Wenn wir solche Dinge in der Weise schildern, wie sie sich dem jungen Wanderer eindrückten, so wird man in derselben nicht die rücksichtslose Art der Jugend verkennen, welche mit einer gewissen, übrigens gesunden Unbestechlichkeit zwischen dem scheinbaren und dem wirklich Anstößigen durchaus keinen Unterschied zugeben will. Da religiöse Gegenstände vor Allem nur Sache des Herzens sind, so bringt dieses in seiner aufwachenden Blüthezeit das Recht zur Geltung, die Ueberlieferungen mit seinen angebornen reinen Trieben in Einklang zu setzen. Wer erinnert sich nicht jener glücklichen Tage, wo man im geräuschvollen schwindelnden Kreisen dieses Rundes erwachend, mit den neuen feinen Fühlhörnern der jungen Seele um sich tastend, von keiner Autorität Notiz nehmen und den Maßstab seines unverdorbenen Gefühles auch an das Ehrwürdigste und Höchste legen will? Wer will wohl bestreiten, daß vielleicht, wenn das Ursprüngliche und 043 also auch wohl Göttliche, das in der jungen Menschenseele liegt, nicht in das hanfene, dürrgeflochtene Netz eines Katechismus, heiße er wie er wolle, abgefangen würde, die schneidende blutige Kritik des Mannesalters und die wildesten Kämpfe verhütet würden? Heinrich hegte eine besondere Pietät gerade für die Begriffe Brot und Wein, das Brot schien ihm so sehr die ewig unveränderte unterste Grundlage aller Erden- und Menschheitsgeschichten, der Wein aber die edelste Gabe der geistdurchdrungenen lebenswarmen Natur zu sein, daß Nichts ihn so geeignet dünkte zur Feier eines gemeinsamen symbolischen Mahles der Liebe, als edles weißes Weizenbrot und reiner goldener Wein. Daher war es ihm auch anstößig, diese wichtigen, aber einfachen und reinlichen Begriffe mit einer heidnisch-mystischen und wie ihm vorkam, widermenschlichen Mischung zu trüben. Auf das Historische des vorhandenen Sacramentes konnte er nun um so weniger Rücksicht nehmen, als ihm die theologischen Einsichten und Kenntnisse abgingen.

Als die Sonne sich bereits zu neigen anfing, 044 machte der Wagen an einem Dorfe wieder Halt, damit die Pferde gewechselt werden konnten. Heinrich trat mit den andern Reisenden in das Gasthaus, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Der Eine wählte ein Glas Wein, der Andere eine Schale Kaffee, der Dritte verlangte schnell etwas Kräftiges zu essen, es ging geräuschvoll zu mit Genießen, Geldwechseln und Bezahlen; Alle thaten wichtig, zerstreut oder nur auf sich achtsam und liefen stumm an einander vorbei in der Stube umher. Auch Heinrich spreizte sich, ließ es sich schmecken und zum Ueberfluß noch eine schlechte Cigarre geben, welche er ungeschickt in Brand zu stecken suchte. Da gewahrte er in einem Winkel der Stube eine ärmliche Frau mit ihrem jungen Sohne, welcher ein großes Felleisen neben sich auf der Bank stehen hatte. Beide waren ihm als Nachbarsleute bekannt. Er grüßte sie und vernahm, daß auch dieser junge Bursche, welcher das Handwerk eines Malers und Lackirers erlernt hatte, heute die Reise in die Fremde antrat, daß seine Mutter, die Feiertage benutzend, lange vor Tagesanbruch 045 sich mit ihm auf den Weg gemacht und sie so, die Fuß- und Feldwege aufsuchend, bis hierher gekommen seien, wo sie sich nun trennen wollten. Die gute Frau gedachte dann bis zur völligen Dunkelheit noch ein Stück Weges zurück zu wandern und bei bekannten Landleuten übernacht zu bleiben. Sie tranken einen blassen dünnen Wein und aßen Brot und Käse dazu; doch war es eine Freude zu sehen, wie sorglich die Frau die «Gottesgabe» behandelte, ihrem Sohne zuschob und für sich fast nur die Krumen zusammen scharrte. Dazwischen schärfte sie ihm ein, wie er seinen Meistern gehorchen, bescheiden und fleißig sein und keine Händel suchen sollte. Dann mußte er seinen Geldbeutel nochmals hervorziehen; vier oder fünf neue große Geldstücke wurden als bekannte Größen einstweilen bei Seite gelegt, dagegen eine Handvoll kleineres Geld überzählt, betrachtet und ausgeschieden. Der Junge steckte seinen Schatz wieder ein, die Mutter aber entwickelte aus einem Zipfel ihres Schnupftuches etwas Kupfermünze und bezahlte die Zeche.

Inzwischen rollte das bewegliche Wanderhaus 046 mit seinen ewig wechselnden Bewohnern wieder auf der Straße, eine Anhöhe hinan und der kühlen Nacht entgegen. Heinrich schaute fortwährend zurück nach Süden; rein, wie seine schuldlose Jugend, ruhte die Luft auf den Gebirgszügen seiner Heimath, aber diese waren ihm in ihrer jetzigen Gestalt fast ebenso fremd, wie die Schwarzwaldhöhen im dämmernden Norden, denen er sich allmälig näherte, und über welchen röthliche Wolkengebilde einen räthselhaften Vorhang vor das deutsche Land zogen.

Fern hinter dem Wagen sah er seinen jungen Nachbar den Hügel hinankeuchen, noch kaum erkennbar mit seinem schweren Felleisen. Ueber denselben hinweg gleiteten Heinrichs Augen noch einmal nach dem südlichen Horizonte; er suchte diejenige Stelle am Himmel, welche über seiner Stadt, ja über seinem Hause liegen mochte und fand sie freilich nicht. Desto deutlicher hingegen sah er nun, als er sich in den Wagen zurücklehnend die Augen schloß, die mütterliche Wohnstube mit allen ihren Gegenständen, er sah seine Mutter einsam umher gehen, ihr Abendbrot bereitend, 047 dann aber kummervoll am Tische vor dem Ungenossenen dasitzen. Er sah sie darauf einen Band eines großen Andachtswerkes, fast ihre ganze Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hineinblicken, ohne zu lesen; endlich ergriff sie die stille Lampe und ging langsam nach dem Alkoven, hinter dessen schneeweißen Vorhängen Heinrichs Wiege gestanden hatte. Hier mußte er den Mantel ein wenig vor sein Gesicht drücken, es war ihm, als ob er schon Jahre lang und tausend Stunden weit in der Ferne gelebt hätte und es befiel ihn eine plötzliche Angst, daß er die Stube nie mehr betreten dürfe.

Er konnte sich nicht enthalten, jene Familien bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und eine hübsche runde Zahl Geschwister nebst übriger Verwandtschaft in sich vereinigen, wo, wenn ja Eines aus ihrem Schooße scheidet, ein Andres dafür zurückkehrt und über jedes außerordentliche Ereigniß ein behaglicher Familienrath abgehalten wird, und selbst bei einem Todesfalle vertheilt sich der Schmerz in kleinere Lasten auf die zahlreichen Häupter, so daß oft wenige Wochen hinreichen, 048 denselben in ein fast angenehm-wehmüthiges Erinnern zu verwandeln. Wie verschieden dagegen war seine eigne Lage! Das ganze Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden die auseinander gerissen, so kannte jede die Einsamkeit der anderen und der Trennungsschmerz wurde so verdoppelt.

«Haben wohl», dachte er, «jene Propheten nicht Unrecht, welche die jetzige Bedeutung der Familie vernichten wollen? Wie kühl, wie ruhig könnten nun meine Mutter und ich sein, wenn das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn nach jeder Trennung man sich gesichert in den Schooß der Gesammtheit zurückflüchten könnte, wohl wissend, daß der andere Theil auch darin seine Wurzeln hat, welche nie durchschnitten werden können, und wenn endlich dem zufolge die verwandtschaftlichen Leiden beseitigt würden!»

Im Mittelalter wurde der Tod als ein menschliches Skelett abgebildet und es hat sich daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt; sogar leblose Gegenstände, wie Meerschiffe, wurden skeletisirt und mußten auf dem Meere als 049 Todtenschiff spuken. Denkt man sich solcher Weise das fliegende Gerippe einer Krähe, so war es der Schatten derselben, welchem der Gedanke glich, der so eben über Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne schien reichlich durch das dürre Gitter der Knöchlein und Gebeine.

«Nein,» rief ihm sein innerstes Gefühl zu, «der Zustand, den sich diese Menschen wünschen, gleicht zu sehr der stabilen gedankenlosen Seligkeit, welche das höchste Ziel der meisten Christen ist. Man muß wohl unterscheiden zwischen Leiden und Leiden; das Eine ist zu dulden, ja zu ehren, während das Andere unzulässig ist!»

«Der beste Maßstab,» dachte er weiter, «ist vielleicht der ästhetische. Alle Leiden lassen sich in schöne und unschöne eintheilen, in sittliche und unsittliche, unsittlich für die, welche sie ansehen und in ihrer Nähe dulden. Eine Waise, die auf einem Grabhügel in Thränen zerfließt, ist schön und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben wohlthuend sein; aber ein Kind, welches verkommen und hungerig im Staube liegt, ist eine Schande für die ganze Landschaft, und für es 050 selbst erwächst nicht die mindeste ersprießliche Regung aus diesem Zustande; eine greise Mutter, welche ihre Kinder und Enkel dahin sterben sieht, wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebensabend ist für sie und andere feierlicher; aber eine alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den Tagelohn arbeitet, eine Bürde auf dem gebeugten Rücken, ist ein peinlicher Anblick und gereicht ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der Jüngling, der mit mächtigen Leidenschaften ringt und seine Grundsätze dem Leben Schritt für Schritt abstreitet, ist, so unglücklich er sich oft fühlt, bei alledem wohl daran, während uns der Bauernknecht in den Augen weh thut, der verachtet und vergessen, unwissend und trotzig vor seiner Stallthüre liegt und nach nichts verlangt, als nach seinem Vesperbrot. Jener Jüngling gewinnt in jedem Sturme und seine Energie erfreut den Zuschauer, dieser unglückliche Faulpelz aber wird durch das langweilige Tröpfeln seiner naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz, man soll nur dasjenige Unglück dulden, was seinem Träger zur eigentlichen Zierde gereicht, alles 051 Andere ist in einer anständigen Gesellschaft auszurotten.»

So speculirte Heinrich in der Finsterniß seines Postwagens; er vergaß indessen eine Hauptsache, nämlich daß seine anständigen und unanständigen Leiden manchmal so durcheinander gemischt und mit Schuld und Unschuld so durchwebt sind, daß ein eigener Linné nöthig wäre, sie einzureihen, und gerade für den Aesthetiker könnten bei unvorsichtigem Aufräumen die seltensten Exemplare verloren gehen.

 


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