Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)        NG_01

Neuere Gedichte 1851

 

Jahreszeiten.


001 Lied der Sonne.

Aus den braunen Schollen
Springt die Saat empor,
Grüne Knospen trollen
Tausendfach hervor.

Und es ruft die Sonne:
Fort den blassen Schein!
Wieder will ich Wonne,
Gluth und Leben sein!

Wieder selig zittern
Auf dem blauen Meer,
Oder zu Gewittern
Führen das Wolkenheer!

Durch Millionen Röhren
Zieh'n der Erde Saft,
Daß man leis kann hören
Seine Wanderschaft!

In den Frühlingsregen
Sieben Farben streu'n
Und auf Weg und Stegen
Meinen goldnen Schein!

Ruh'n am Gletscherhange,
Wo der Adler minnt,
Auf der Menschenwange,
Wo die Thräne rinnt!

Dringen in der Herzen
Kalte Finsterniß,
Blenden alle Schmerzen
Aus dem tiefsten Riß!

Hängt – ich bin die Sonnen! –
Vor das Kerkerthor,
Was ihr habt gesponnen
Winterlang, hervor!

O ihr Gramspelunken,
Sendet an den Tag,
Was in euch versunken
Leben, weben mag!

Alle finstern Hütten
Sollen Mann und Maus
Auf die Aue schütten,
An mein Licht heraus!

Auf den grünen Plätzen
Wimmle es herum,
Wende seine
Fetzen
Vor mir um und um,

Daß durch jeden Schaden
Leuchten ich und dann
Mit der Liebe goldnem Faden
Ihn verweben kann!

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

002 Der junge Bettler.

Ich wandle taumelnd, wie im Traum
Der Frühling tanzt auf Berg und Haide,

Und zierlich schürzt die Birk' den Saum
An ihrem grünen Seidenkleide;
Mein Bettelsack, tanz' mit den Reigen,
Schwing' dich hinauf zum tollen Ritt!
«O Birke! wieg' auf deinen Zweigen
Mein armes Ränzel freundlich mit!

Was macht mein junges Bettlerherz
Der Haide grüner Glanz so traurig?

Was bettelt es und was begehrt's,
Was weht durch mich so süß und schaurig?
Rasch möcht' ich in den Himmel greifen
Und meine Lippen zucken leis –
O könnt' ich singen oder pfeifen
Was mir im Blute gährt so heiß!

O traute Birk'! im Morgenstrahl
Sah ich am Quell mein Mädchen stehen
,
Dann aber froh aus unserm Thal
Mit Wanderschritten eilend gehen;
Sie ist dies Jahr so schön geworden,
Ich sah's mit süßem Schrecken ein!
Was aber soll bei Bettlerhorden
Der reichen Schönheit Prunk und Schein?

Beschränke dich, du eitle Brust!
Was schiert dich all' dies stolze Blühen?

Umsonst! mich will die fremde Lust
Weit in die goldne Ferne ziehen!
O süße Schwester Birke, senke
Mein Säcklein wieder mir herab,
Und einen deiner Aeste schenke
Mir noch zum Wanderbettelstab!

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

003 Der Taugenichts.

Die ersten Veilchen waren schon
Erwacht im stillen Thal,
Das Bettelpack schlug auf den Thron
Im Feld zum ersten Mal.
Der Alte auf dem Rücken lag,
Die Mutter wusch am See;
Bestaubt und unrein schmolz im Hag
Das letzte Häuflein Schnee.

Der Vollmond warf den Silberschein
Dem Bettler in die Hand,
Bestreut der Frau mit Edelstein
Die Lumpen, die sie wand;
Ein linder West blies in die Gluth
Von einem Dorngeflecht,
Drauf kocht' in Bettelmannes Hut
Ein sündengrauer Hecht.

Da kam der kleine Betteljung,
Vor Hunger schwach und matt,
Doch glühend in Begeisterung
Vom Streifen durch die Stadt,
Hielt eine Hyazinth empor
In dunkelblauer Luft;
Die Blume war von selt'nem Flor
süß ihr Duft.

Der Vater rief: Wohl hast du mir
Viel Pfennige gebracht?
Der Knabe rief: O sehet hier
Der Blume Zauberpracht!
Ich lag am goldnen Gitterthor
Vom Morgen bis zur Nacht,
Die Blume aus dem Wunderflor
Zu stehlen nur bedacht!

Seht nur, wie vornehm und wie fein,
Wie zierlich sie gebaut!
Ich habe starr nach ihrem Schein
Den ganzen Tag geschaut.
O schlaget nicht mich armen Wicht,
Laßt euren Stecken ruh'n!
Ich will ja nichts, mich hungert nicht,
Ich will's nicht wieder thun!

O sehet nur, ich werde toll,
Die Glöcklein alle an!
Ihr Duft, so fremd und wundervoll,
Hat mir es angethan!
Auch alle Blumen nun im Feld
Lieb' ich von heute an;
Die Hexe, welche neue Welt
Hat sie mir aufgethan!

O wehe mir geschlagnem Tropf!
Brach nun der Alte aus:
Mein Kind kommt mit verrücktem Kopf,
Anstatt mit Brot nach Haus!
Du Taugenichts, du Tagedieb,
Und deiner Aeltern Schmach!
Und rüstig langt er Hieb auf Hieb
Dem armen Jungen nach.

Im Zorn fraß er den Hecht, noch eh'
Er gar gesotten war,
Warf weit die Gräte in den See
Und stülpt' den Filz auf's Haar.
Die Mutter schmält' mit lindem Wort,
Den mißgerathnen Sohn,
Der warf die Blume zitternd fort
Und hinkte still davon.

Es perlte seiner Thränen Fluß,
Er legte sich in's Gras
Und zog aus seinem wunden Fuß
Ein Stücklein scharfes Glas.
Der Gott der Taugenichtse rief
Der guten Nachtigall,
Daß sie dem Kind ein Liedlein pfiff
Zum Schlaf mit süßem Schall.

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

004 Ständchen
für eine Prinzessin.
1848.

Schöne Bürgerin, sieh der Mai
Fluthet um deine Fenster!
Alle Seelen sind nun frei
Und es zerfließen der Phantasei
Luftige Gespenster.
Liebliche Bürgerin Klara!

In die Tiefe tauche kühn,
Jugend und Liebe zu werben,
Wo die Bäume des Lebens blüh'n
Und die Augen wie Sterne glüh'n!
Droben bei dir ist Sterben,
Liebliche Bürgerin Klara!

Löse den Reif von goldenem Glanz
Aus den Lockenringen!
Wirf ihn herab, im klingenden Tanz
Einen blühenden Myrthenkranz
Wollen wir froh dir schlingen,
Liebliche Bürgerin Klara!

Fühle, du Engel, dies heilige Weh'n,
Das allmächtige Treiben!
O dein Himmel wird untergeh'n
Und ein schönerer aufersteh'n –
Willst du ein Engel bleiben,
Liebliche Bürgerin Klara!

Nicht wie Luna in schweigender Nacht
Küßte den träumenden Schläfer:
Komm' in der Sonne strahlender Pracht,
Daß das schöne Lied erwacht:
Königstochter und Schäfer!
Liebliche Bürgerin Klara!

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

005 Ständchen,
einer Verlassenen gebracht.

Wir haben deinen tiefen Gram vernommen
Und sind in deinen Garten still gekommen;
Wir stimmen unsre Saiten mit Bedacht,
Erwartend lauscht die laue Maiennacht.

Zu deines Ungetreuen Reu' und Leide,
Zu deiner Nachbarinnen scheelem Neide,
Zu deiner Mutter Stolz und stiller Lust!
So wollen singen wir aus voller Brust.

Zünd' an dein Licht, daß unser Lied dich ehre
Und vor dem Sternenzelt dein Leid verkläre!
Noch giebt's manch' Auge, das in Treuen blitzt,
Manch' Herz, das noch an rechter Stelle sitzt!

Wohl selig sind, die in der Liebe leiden,
Und ihrer Augen theure Perlen kleiden
Die weißen Wangen mehr, als Morgenthau
Die Lilienkelche auf der Frühlingsau.

Laß deine Augen ruh'n vom bittern Grämen,
Wir wollen Jeder eine Rose nehmen
Aus deinem Garten, daß die Welt erfährt:
Noch seien deine Blumen hoch begehrt!

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

006 Sommernacht.

Es wallt das Korn weit in die Runde
Und wie ein Meer dehnt es sich aus;
Doch liegt auf seinem stillen Grunde
Nicht Seegewürm, noch andrer Graus:
Da träumen Blumen nur von Kränzen
Und trinken der Gestirne Schein.
O goldnes Meer, dein friedlich Glänzen
Saugt meine Seele gierig ein!

In meiner Heimath grünen Thalen,
Da herrscht ein alter schöner Brauch;
Wann hell die Sommersterne strahlen,
Der Glühwurm schimmert durch den Strauch:
Dann geht ein Flüstern und ein Winken,
Das sich dem Aehrenfelde naht,
Da geht ein nächtlich Silberblinken
Von Sicheln durch die goldne Saat.

Das sind die Bursche, jung und wacker,
Die sammeln sich im Feld zu Hauf
Und suchen den gereiften Acker
Der Wittwe oder Waise auf,
Die keines Vaters, keiner Brüder
Und keines Knechtes Hülfe weiß –
Ihr schneiden sie den Segen nieder,
Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.

Schon sind die Garben fest gebunden
Und schön in einen Kranz gebracht;
Wie lieblich floh'n die stillen Stunden,
Es war ein Spiel in kühler Nacht!
Nun wird geschwärmt und hell gesungen
Im Garbenkreis, bis Morgenduft
Die nimmermüden, braunen Jungen
Zur eignen schweren Arbeit ruft.

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

007 Schifferlied.

Schon hat die Nacht den Silberschrein
Des Himmels aufgethan,
Nun spült der See den Widerschein
Zu dir, zu dir hinan!
Wach' auf, Marian!

Und in dem Glanze schaukelt sich
Ein leichter dunkler Kahn,
Der aber trägt und schaukelt mich
Zu dir, zu dir hinan!
Wach' auf, Marian!

Ich höre schon den Brunnen geh'n
Dem Pförtlein nebenan,
Und dieses hat ein frisches Weh'n
Soeben aufgethan.
Wach' auf, Marian!

Ich fühle, wie die Erde schwellt
Zum Himmel leis hinan
;
Nach Liebe dürstet alle Welt –
Mein Schifflein, leg' dich an!
Wach' auf, Marian!

Dies Lied hat mir ein Bursch' gemacht,
Der fuhr in meinem Kahn;
Er hat's für dich und mich erdacht,
Bet' für ihn, Marian!

Wach' auf, Marian!

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

008 Herbstnacht.

Als ich, ein Kind, am Strome ging,
Wie ich da fest am Glauben hing,
Wenn ich den Wassern Blumen gab:
Sie trügen all' zum Meer hinab! –

Es hält die schwarzverhüllte Nacht
Unruhig auf den Wäldern Wacht,
Weil nun der Winter, kalt und still,
Doch tödtlich, mit ihr ringen will.

Es rauscht und weht das weite Land,
Geschüttelt von des Sturmes Hand,
Es rauscht von Wald zu Wald hinauf,
Entlang des Stromes wildem Lauf.

Da schwimmt es auf den Wassern her;
Wie ein ertrunk'nes Gnomenheer
Schwimmt Leich' an Leiche, Blatt an Blatt,
Was schon der Streit verschlungen hat.

Das ist das todte Sommergrün,
Das zieht zum fernen Weltmeer hin –
Ade, ade, du zarte Schaar,
Die meines Herzens Freude war.

Sing's in die Niedrung, dunkle Fluth:
Hier oben tobt ein heißes Blut,
Wie Haidefeuer einsam glüht,
An dem die Welt vorüberzieht.

 

 Neuere Gedichte / Jahreszeiten

009 Winternacht.

Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee,
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.

Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Aesten klomm die Nix' herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor.

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied für Glied.

Mit ersticktem Jammer tastet' sie
An der harten Decke her und hin.
Ich vergess' das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!

 

 


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