Theodor Storm (1817-1888)

Editorial


 

1867 Amtsrichter, 1874-1880 Oberamtsrichter in Husum;
Korrespondenz mit Keller seit 1877

Anzahl registrierte Briefe: 34 an, 25 von Keller (34 ZB Zürich)

 


27. 3. 1877  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 10; Storm, S. 20>

                                            Husum (Schlesw. Holstein)
                                           27 März 1877


Es war gar köstlich neulich am Sonntag-Vormittag; von draußen fiel so etwas wie erster Frühlingsschein in's Zimmer; drinnen wurden die "Züricher Novellen" gelesen, das eine Heft der "Rundschau" von einem jungen Juristen, meinem Sohn, das andre von mir; es war eine rechte Sabbathfeier. Als ich die schöne Geschichte vom Johannes Hadlaub aus der Hand legte, war mir so warm und froh um's Herz, und der Johannes wurde mir zum Gottfried, und ich dachte: ihr Wenigen, die ihr gleichzeitig auf der Erde wandelt, wenn auch ein warmer Händedruck nicht möglich ist, ein Gruß aus der Ferne sollte doch hin und wieder gehen. Und so nahm ich das beifolgende Büchlein und schrieb diesen Gruß hinein. Möge er Ihnen nun willkommen sein.

     Bemerken muß ich noch, daß meinerseits die Freundschaft, um die ich jetzt werbe, | eine längst begründete ist; alle Ihre Bücher in Vers und Prosa sind in erster Auflage meiner Bibliothek einverleibt worden; daß mir die beiden Auerbachschen Volkskalender unbegreiflicher Weise abhanden gekommen, thut mir um so mehr leid, als ich die "Sieben Aufrechten" schmerzlich in der neuen Auflage der "Seldwyler" vermisse. Hoffentlich kommen sie nächstens einmal mit.

     Darf ich nun zum Schlusse noch eine Fürbitte für Johannes Hadlaub und Fides einlegen? - Das ganze Lieder-Minne-Spiel, das die alten Herrschaften zur Vermehrung ihrer Handschrift so eifrig schüren und begünstigen, zielt nach des Dichters Absicht doch dahin, daß nun dadurch den beiden jungen Menschen die wirkliche Frucht der Liebe in den Schooß fällt. Aber wenn nun dieser große Moment kommt, so verläßt der Dichter uns plötzlich, als hielte er, nachdem er sich so eingehend mit einer berühmten Handschrift beschäftigt, es unter | seiner Würde, nun eine gewöhnliche - es steht ja dem Dichter frei, sie übergewöhnlich zu gestalten - Liebesscene zu schreiben, und thut den großen Moment mit einer wie nur beiläufig referirenden Zeile ab. Darf ich es sagen? Es hat mich das wie eine eigensinnige Nichtachtung nicht nur des Lesers - dagegen wäre oft nicht viel zu erinnern - sondern viel mehr noch der eignen Dichtung berührt.

     Also: eine herzliche Bitte für Fides und Johannes!

     Freund Petersen in Schleswig, der von diesem Briefe weiß, läßt freundlich grüßen. Wir wohnen glücklicherweise nur eine gute Eisenbahnstunde auseinander.

                                  Ihr Ihnen seit lange treu
                                  ergebner
                                  ThStorm.

Mein Sohn Ernst, dem ich mein obiges monitum | mittheile, sagt lachend: "Der Stier von Uri wird Dich auf die Hörner nehmen und fortschleudern!"

     Das muß ich denn nun abwarten.
                                  ThSt.

 


 

30. 3. 1877  Keller an Theodor Storm

<ZB: Ms. GK 78r (Nr. 1); Storm, S. 21>

                                            Zürich 30 März 1877.

 
Sie haben mir das schönste Ostergeschenk gemacht, das ich je in meinem Leben bekommen; es ist freilich seit der Kinderzeit lange her; aber um so mehr braucht es, um jene durch das Ferneblau vergrößerten Wunder in den Schatten zu stellen. Ich ergreife mit Dank und Freuden Ihre Hand und Ihr Geschenk und will trachten zu erwidern, was an meinem geringen Orte möglich ist.

     Denn es ist mir nun ja alles Liebe und Schöne, was ich von Ihnen kenne, zum zweiten Male u gewissermaßen speziell wieder geschenkt.

     Die treuliche und freundliche Vermahnung, die Sie mir wegen Hadlaub u Fides geben, befremdet mich nicht, weil | die Geschichte gegen den Schluß wirklich überhastet und nicht recht ausgewachsen ist. Das Liebeswesen jedoch für sich betrachtet, so halte ich es für das vorgerücktere Alter nicht mehr recht angemessen, auf dergleichen eingehend zu verweilen, und jene Form der Novelle für besser, wo die Dinge herbeigeführt und alsdann sich selbst überlassen werden, vorausgesetzt, daß doch genugsam zwischen den Zeilen zu lesen sei. Immerhin will ich den Handel noch überlegen; denn die Thatsache, daß ein lutherischer Richter in Husum, der erwachsene Söhne hat, einen alten Canzellaren helvetischer Confession zu größerem Fleiß in erotischer Schilderei auffordert, und zwar auf dem Wege der kaiserlichen Reichspost, ist gewiß bedeutsam genug! |

     Im Herbst werde ich Ihnen die Separatausgabe der Zürch. Novellen schicken, wo Sie dann auch das Fähnlein der 7 Aufrechten wieder finden werden.

     Grüßen Sie bestens Herrn Petersen, wenn Sie ihn sehen; ich habe seine Aufsätze und Agitationsschriften für Landesverschönerung erhalten und mich über diese wirklich praktische Aesthetik gefreut, die mit so einfachen und naheliegenden Dingen das Wesentlichste erreicht.

     Jetzt will ich aber für diesmal schließen da die Nachmittagssonne u Amsel, Finken u andere Musikanten auf den Bäumen vor dem Fenster mich hinausrufen, wo der Winter gottsjämmerlich abgemörd't wird.

     Bald hoffe ich Ihnen in der Rundschau | oder so wo wieder zu begegnen und mich dort mit Ihnen zu unterhalten; man ist da immer sicher, gute Musik zu hören und feine Weinlein zu trinken

                                  Ihr dankbar ergebener
                                  Gottfr. Keller.

 


 

7. 4. 1877  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 11; Storm, S. 22>

                                            Husum, 7 April 1877.

 
Fürchten Sie nicht, liebster Keller, sich einen Schreibseligen durch Ihren Brief verbunden zu haben; aber über die Eselsbrücke des Alters kann der Schleswig-Holsteinische Richter, vormals Landvogt des Amtes Husum, den Helvetischen Cancellaren unmöglich so entschlüpfen lassen, wenngleich selbiger Solches beim Landvogten von Greifenstein in durchtriebenster Weise fünf Mal ins Werk gesetzt hat. Will er sich noch mit Liebessachen abgeben, so soll er dieses Mal wahrhaftig Stand halten. - Uebrigens lasse ich mich handeln: nicht die Liebesscene selbst verlange ich, sondern event. nur den in Scene gesetzten Reflex derselben. Beispielsweise: wie die jungen Menschen aus dem Gemache treten, liegt verrätherisches Leuchten auf ihrem schönen Antlitz. Ein kleines naseweises Mädchen ruft: "Ihr Beide, wie seht Ihr aus!" Und von ihrer einem erfolgt kurze Antwort mit dem Muthwillen und dem Tiefsinne des Minneglückes. - Oder so dergleichen! |

     Als ich vor einigen Tagen mit der anmuthigen Figura Leu - die der unterschriebene Excollege des Landvogts Landolt sich trotz alledem nicht hätte entkommen lassen - bei dem alten Geßner in Gesellschaft gewesen war, in Betreff dessen Idyllen ich mit Ihnen stimme, kramte ich gleich darauf meine Geßner-Ausgaben aus den Schränken: als pr. primo die von 1870-72 in sauber schweinsledernen Oktavbänden, dann aber in quarto die französ. Ausgabe mit Diderot v. 1773 und Bd I der deutschen v. 1777; und, im Gefühle Ihrer Sympathie, betrachtete ich mit erneuetem Vergnügen diese Fülle der anmuthigen Radirungen, insbesondre, wie schon oft, das erträumte Landhaus S. 240 der letzteren, wohin ich beim Lesen unwillkührlich die von Ihnen geschilderten Scenen verlegt hatte. Band II der deutsch. Ausgabe (mehr giebt es ja wohl nicht) fehlt mir leider. Sollte er Ihnen in einem dortigen Antiquariat vor Augen kommen, so sind Sie vielleicht so gütig, | ihn mir gegen Postnachnahme senden zu lassen. Ich habe so meine stille Freude daran, die alten Herren des 18 Jh's in ihren schmucksten Originalausgaben um mich zu haben.

     Den Gruß an Freund Petersen habe ich bestellt. Wenn er zu Ihnen kommt, lassen Sie sich außer von seinen Rosen auch von seinen Fischern auf dem Schleswiger Holm erzählen, unter denen er mich und meine Frau ("Frau < FACE="Arial">Do" heißt sie) neulich umhergeführt hat.

     Für alles Gute, was Ihr Brief mir in Aussicht stellt, im Voraus meinen Dank. Mich anlangend, so habe ich, leider, in poeticis seit Jahr und Tag keine Feder angesetzt. Ob der Quell versiegt ist, ich weiß es nicht. Möge er bei Ihnen desto reichlicher sprudeln!

                                  Getreulich
                                  ThStorm.

 


 

31. 12. 1877  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56 Nr. 98.02; Storm, S. 23>

Zürich 31 XII. 77

Ich wollte Ihnen, lieber Freund, am morgigen Neujahrstag schreiben, um Ihnen durch die gewählte Stunde eine rechte Ehre zu erweisen; zu rechter Zeit fällt mir aber ein, daß mich die Sylvesternacht und das germanische Laster entweder untauglich machen oder mit schnöden Jammerpossen anfüllen könnten à la Joh. Jakob Wendehals v. Mörike, und da wollen wir's lieber heute noch vornehmen.

     Die Zürcher Novellen werden Ihnen durch den Verleger zukommen; ich spreche davon wegen Ihrer erotischen Rathschläge, die Sie auf Seite 148 des I Bändchens so weit meine unschuldige u. ehrbare Phantasie reichte, befolgt finden. Um auch nochmals auf jene Figura Leu zurück zu kommen, so hat sie wohl unverheirathet bleiben können; denn ich habe erst seither in Ihrem "Sonnenschein" gesehen an | an der dortigen Fränzchen, wie man ein lustiges und liebliches Rococofräulein machen muß, und die hat ja auch ledig sterben müssen. Es ist mir übrigens, wenn ich von dergleichen an Sie schreibe, nicht zu Muthe, als ob ich von literarischen Dingen spräche, sondern eher wie einem ältlichen Klosterherren, der einem Freunde in einer andern Abtei von den gesprenkelten Nelkenstöcken schreibt, die sie jeder an seinem Orte züchten. Und Sie sind ja wieder rüstig dabei an Ihrem Orte; ich hab's zwar noch nicht gelesen sondern warte auf die Buchausgaben.

     Also ich wünsche Ihnen alles Beste zum neuen Jahre, hochgeachter Herr Landvogt von Husum, sowie Ihrem ganzen Hause. Ergeht es Ihnen nach Verdienen, so ist es schon gut, und was darüber hinaus ist, kann Ihnen als Profit gegönnt werden. | Ich bin leider gewöhnt, immer nur vom Profit zu leben, obgleich ich fast nichts handle.

     Auf den gewünschten Geßner-Band vigilire ich und werde Ihnen denselben senden, sobald ich ihn erwische, was wohl bald einmal geschehen wird; denn immer entleert etwa wieder ein altes Erbhaus.

     Ich hocke hier zuweilen bei einer Urenkelfamilie Geßners, welche noch von demselben bemaltes Theegeschirr besitzen und es dann zum Gebrauch bringen. Die Großmutter dieser Leutchen war eine Tochter Wielands. Sein Bild in Oel gemalt hängt im Zimmer, alte Briefschaften werden hervorgekramt. Im Jahr 1810 schreibt Wieland an die Tochter "Ueber die Wahlverwandtschaften seien die Meinungen sehr getheilt, die Einen erhöben sie in den Himmel, die Andern erklären sie für verrückt, das Richtige werde ungefähr in der Mitte | liegen!<">

     Bei diesem weisen Ausspruche wollen wir es für das Jahr 1877 bewenden lassen. Das nächste Jahr wollen wir, "so Gott will" wie die Mucker sagen, fleißiger schreiben.

                                                Ihr getreuer
                                                G. Keller.



 

27. 2. 1878  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 12; Storm/Keller, S. 24>

Husum, 27 Febr. 78.

Lieber Freund Keller!
 
Die verspätete Antwort hat nicht zu bedeuten, daß ich nicht oft und herzlich Ihrer gedachte; nur meine Feder wurde durch allerlei Herzens- und Amtsdruck niedergehalten. Ich kann leider nicht hinter mich werfen, was mir allmählich lästig wird. Doch -

     Zunächst denn Dank für die guten Wünsche und die guten Bücher! Sodann entbinde ich Sie hiemit feierlich Ihrer erotischen Vormundspflichten für Hadlaub u. Fides, und ertheile Ihnen Quittung und Decharche; es geht nun hübsch und stylvoll aus, und ich sehe die schöne Frau, die dort am Fenster des Thurmgemaches in ihrer Seligkeit sitzt, leibhaftig vor mir.

     Den Landolt soll ich nun noch wiederlesen. Dagegen habe ich den 2ten Bd mir schon zu Gemüthe geführt. Er enthält zwei vortreffliche Stücke. Ich hatte mich bei der herkömmlichen Januarserkältung einen Nachmittag aufs Bett gelegt, da kam mein Jurist zu mir: "Vater, ich habe eben "die sieben Aufrechten<"> gelesen; | soll ich sie jetzt Dir vorlesen?" und ich sah das besondre Leuchten in seinen blauen Augen, das ich vor Allem gern in jungen Augen sehe. Und so las er mir denn diese herzerquickende Geschichte vor, von der ich doch sehr viel vergessen hatte, so daß sie in voller Frische wieder auf mich wirken konnte; und weil auf's Letzt die Schützen-Rede gar so schön zu hören ist, so wollen wir denn auch glauben, daß der junge Fant sie wirklich hielt und ihm das brave Kind von Herzen gönnen.

     Lassen Sie mich, lieber Herr confrater, hier Eines sagen! "Der Dichter will auch seinen Spaß haben!" Ich meine, dß der Spruch von Göthe stammt. Jedenfalls lassen Sie sich dieß Recht in keiner Art verkümmern; ich für meine Person z. B. wenn das Seldwyler Kriegsheer den Quast in seinen schwarzen Farbetopf taucht, stemme dann die Hände in die Seite, sehe ruhig zu und denke: "Ja so! Der Gottfried muß erst seinen Spaß zu Ende machen!" Und er macht ihn dann auch jedes Mal zu Ende. Aber es sind Leute, kein | schofles Volk, sondern gute Leute, denen ich gern den kräftigen Born ihrer Dichtung gönnen möchte; die rufen: "Das halt der Deuwel aus!" und laufen mir davon. Diese Leute sollen mir jetzt "die sieben Aufrechten" lesen, und ich habe alle Hoffnung, daß sie danach, wenn sie wiederum einmal den Dichter auf seinem Spaß betreffen, respektvoll mit dem Hut in der Hand das Ende abwarten werden.

     In der Ursula sind auch noch zwei Seitenpartieen, die mich besonders ergriffen haben: der Tod des Zwingli und die kleine meisterhafte Scene mit der Italienerin. Gern hätte ich am Schluß der treuen Ursula noch ein hörbar Wort von ihrem Hansli Gyr gegönnt; aber ich weiß daß man sich in solchem Fall bei Ihnen bescheiden muß. Lassen Sie nur bald mehr so wackre Dinge in die Welt gehen; hier in meinem Hause sitzt Ihnen ein dankbares Publicum. An den "Sieben Aufrechten" hat auch meine 80jährige Mutter noch ihr altes Herz erfrischt.

     In dem täglichen Wohnzimmer des für hiesige | Verhältnisse recht stattlichen Erbhauses, das sie mit einer Gesellschafterin allein bewohnt, hängt neben dem Großvater und zwei mütterlichen Urgroßeltern auch "Tante Fränzchen" ("Fritzchen" hieß sie eigentlich) meines Großvaters Schwester, in der silbervergoldeten Medaillon-Fassung, ganz wie ich sie a. a. O. geschildert. Vor reichlich 30 Jahren befand ich mich in derselben Stube am Nachmittags-Theetisch meiner Mutter, als ein Maurer das kleine Medaillon mit dem dunkeln Haar darin brachte, das sie bei der Reparatur unserer Familiengruft gefunden; und ich weiß noch, wie es mich traf, als ein Blick auf das Bild mich daran erinnerte, daß sie dort ein solches Medaillon auf ihrer Brust trug. Dann erzählte meine Mutter mir von ihrer Liebe und von ihrem frühen Tod. "Im Sonnenschein" ist eins der wenigen meiner Sachen, wo bestimmte Thatsachen zu Grunde liegen.

     Um noch ein Wort von meinen neuesten "Nelkenstöcken" zu sagen: das Aprilheft von "Westermann" wird von mir eine Novelle "Carsten Curator", das der "Rundschau" eine | erst gestern (die andre hat W. schon seit August v. J.) abgeschlossene bringen, die wohl in Ermanglung eines treffenden Titels vorläufig unter der allgemeinen Bezeichnung "Aus Anno Siebenzehnhundert" in die Welt gehen muß. Zu Weihnachten hoffe ich die Buchausgabe von beiden in Ihre Hand zu legen; doch möchte ich über die letzte Geschichte wohl vorher einmal Ihre Meinung hören. Das getragene Pathos der alten Sprache hat mich verführt, es noch einmal zu gebrauchen; aber ich verspreche, es nicht wieder zu thun. - Mit dem "Carsten Curator" ist es mir seltsam ergangen; unter dem Bann eines auf mir lastenden Gemüthsdrucks habe ich bewußt in falscher Richtung for<t>geschrieben, und so ist es gekommen, daß, nicht die Hauptfigur, aber die figura movens statt mit poetischem Gehalt mit einer häßlichen Wirklichkeit ausgestattet, und das Ganze dadurch wohl mehr peinlich als tragisch geworden ist. Und doch fühlte ich es früh genug, um noch in den richtigen Weg einlenken zu können. Aber | was hilft alle Erkenntniß, wenn die Kraft fehlt! Dießmal fehlte die Heiterkeit, die noth thut, um mich über den Stoff zu erheben. Nun, Sie werden ja selber sehen.

     Ich denke dabei an unsern Heyse, der mir einmal etwas Aehnliches von sich schrieb. Er ist mir wie verschollen; aus Neapel schrieb er mir Ende November, daß sie den Erdgeschmack nicht von der Zunge bringen könnten; von Rom aus wollte er mir wieder schreiben, aber es ist nicht gesche<he>n. Die Beiden hätten zu Haus bleiben sollen; wenn sie jetzt heimkehren wird ihnen ihr Kind wie ein Gespenst auf Treppen u. Gängen entgegenkommen.

     Freund Petersen war Sonntag vor 8 Tagen hier, und gedachte wieder in freudiger Rückerinnerung seines Züricher Besuches. <Er nahm bei seiner Abfahrt die beiden Bände Ihrer Gedichte mit.>

     Ich sehe noch eben Ihren letzten Brief durch. Daß Sie das Geßnersche Theegeschirr selbst in der Wirklichkeit angeschaut, dachte ich mir gleich beim Lesen der qu. Stelle; es ist trotz eines ruinirenden Brandes auch in unserer Familie | noch so allerlei altes Porzellan.

     Genug für dieß Mal!

     Möge dieß Jahr mir die Beziehungen zu Ihnen erhalten, die ich zu den besten Geschenken des vergangenen zähle! Das ist der herzliche Wunsch

                                                Ihres ThStorm.

Kennen Sie meinen "Vetter Christian"? Ich wüßte kaum Einen, von dem ich dieß Stück lieber gelesen wüßte, als von Ihnen. Ich habe eine gewisse unvernünftige Liebe dafür.

     Wie steht's mit Ihrem "Grünen Heinrich"?

      


 

25. 6. 1878  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.03; Storm/Keller, S. 27>

Zürich 25 Juni 1878

Lieber Freund! Da die Johannisnacht glücklich überstanden ist u die Reben unter meinem Fenster zu blühen angefangen, will ich mir doch auch etwas Gutes gönnen und mich endlichwieder einmal vernehmen lassen. Wenn der "Jurist" zu Haus ist, so laß ich denselbigen vor Allem grüßen, und gratulire Ihnen zur achzigjährigen Mama, die meinige ist nur 75 geworden.

     Vergangene Nacht hab' ich rasch noch Ihren Vetter Christian betrachtet, um Ihnen seinetwegen antworten zu können. Ich fand freilich nur, was mir so schon vorschwebte, daß es ein ganz fertiges und erbauliches Werklein ist und daß ein vortreffliches häusliches Lustspiel darin steckt von der feinsten Sorte; man dürfte nur an's Scenarium gehen! Es ist alles aufs Beste vertheilt und vorbereitet bis auf die allerliebste Lehnken Ehnebeen. Freilich mag auch der Contrast gegen Ihre poetischen, nordisch-melancholischen Sachen dabei mitwirken. Beim Lesen passirte mir ein altes Uebel aus dem Anfang meiner Amtszeiten. Wenn ich damals coram senatu ein Aktenstück vorzulesen hatte und dabei zerstreut war, | so geschah es zuweilen, daß das Auge eine Anzahl Buchstaben zusammenraffte, ohne sie näher anzusehen, das Gehirn aber blitzschnell, ehe ich dazu kommen konnte, ein anderes Wort daraus construirte, zum bedenklichen Gelächter der Behörde. So las ich gestern im 7t. Band, S. 153 unten: "Inzwischen gingen die Israeliten ihren Gang. Die Rosen im Garten hatten ausgeblüht etc." Erst in der fünften oder sechsten Zeile weiter, wo von verpichten Flaschen und Stachelbeeren die Rede ist, dachte ich, was Teufel war das denn vorhin mit den Israeliten? und schlug das Blatt wieder zurück.

     Ihre neuen Novellen habe ich leider noch nicht gelesen. Das betreffende Rundschauheft ist mir, wie schon andere Hefte, nicht zugekommen u die Westermann'schen Hefte sind wol auf dem hies. Museum, allein dort komm ich nicht dazu, Novellen zu lesen. Ich muß also die Buchausgabe abwarten und werde alsdann Ihren Brief wieder vornehmen. Die Geschichte von der "Fränzchen" frappirt mich; es ist gewiß ein schönes aber seltenes Beispiel, daß ein Faktisches so leicht und harmonisch in ein so rein Poetisches aufgelös't wird.

     Ich gerieth dann über dem Blättern in Ihren hübschen | Bänden aufgeregt plötzlich an meine eigenen alten Gedichter, die zu gelegentlichem Durchsehen auf dem Tisch liegen, und hantirte mit dem Bleistift bis gegen 2 Uhr Morgens darin herum, fand bessere Schlußzeilen, strich Strophen wo es mich freute, ganze Lieder ohne Besinnen, machte andere Ueberschriften, kurz ich kam in den par Stunden weiter, als sonst in einem halben Jahre, und das danke ich dem bloßen Contacte mit dem Mann am fernen Nordmeer. Hier habe ich trotz der großen Bildungsanstalten keine Seele, mit der ich in dieser Beziehung verkehren kann. Schriftsteller u. Literarmenschen zu Dutzenden, Leute, die sogar über mich schreiben, aber keinem ist in concreto ein Wort aus dem Stockfischmaule zu locken. Freilich versuch' ich es auch nicht.

     Wegen der Zürcher Novellen hab' ich auch ein schlechtes Gewissen, sie sind zu schematisch u man merkt es gewiß. Die Ursula haben Sie richtig erkannt, sie ist einfach nicht fertig und Schuld daran ist der buchhändlerische Weihnachtstrafic, der mir auf dem Nacken saß; ich mußte urplötzlich abschließen.

     Das "Fähnlein", kaum 18 Jahre alt, ist bereits ein antiquirtes Großvaterstück; die patriotisch-politische | Zufriedenheit, der siegreiche altmodische Freisinn sind wie verschwunden, sociales Mißbehagen, Eisenbahnmisere, eine endlose Hatz sind an die Stelle getreten. Wegen der Schützenrede fiel mir erst neulich u zu spät die Auskunft ein, dieselbe dem jungen Fant durch einen alten Gedankenredner, der selber nicht sprechen kann, heimlich zustecken zu lassen, wobei dann die rhetorischen Lehren und Ermahnungen der beiden Alten eine weitere komische Situation herbeigeführt hätten. Esprit de l'escalier.

     Meine dummen Späße betreffend, hoffe ich immer noch, mich derselben noch vor Thorschluß zu entledigen; ich würde es auch schon früher gethan haben, wenn ich rechtzeitig meine Sachen nochmals hätte überarbeiten können. Nur Ihre Rüge des schwarzen Quasts der Seldwyler scheint mir nicht ganz zutreffend. Es ist das nämlich allerdings eine Erfindung, aber eine ganz analoge zu hundert ähnlichen und noch tolleren Vorkommnissen der plastischen u drastischen, wenigstens der oberdeutschen Vergangenheit. Schon früher hat mir ein norddeutscher Kritiker einen grotesken Fastnachtszug (Schneider-Schlittenfahrt) als ganz unmöglich, ungeheuerlich und daher unzulässig bezeichnet, während hierzulande dergleichen nicht einmal auffällt, weil es Jeder erlebt hat. Hiemit will ich aber keinerlei | Rechthaberei verübt haben. Im Gegentheil bekommen mir Ihre kurzen sicheren Winke so wohl, daß ich Sie jetzt gleich wegen des "grünen Heinrich" anbohren will, wenn es erlaubt ist. Ich habe, was von dem Gedruckten, circa 2½ Bände, bleibt, jetzt durchcorrigirt und mit zahlreichen Streichungen verziert. Nun schreibe ich das, was in der dritten Person erzählt wird, um und lasse es auch von H in erster Person erzählen bis zum Tode der Mutter; das zuletzt angeknüpfte Liebesverhältniß verunglückt auch; das Problem alles dieses Mißlingens wird klarer und ausdrücklicher motivirt als eine psychologisch-sociale Frage (aber nicht pedantisch). Heinrich lebt still und dunkel fort bei einer anspruchlosen aber geregelten Thätigkeit, ungekannt und in der Erinnerung lebend (wie ein par Ihrer Helden), alternd und durch einen Unfall der Hülfe u Pflege bedürftig. Hier tritt die Judith wieder ein, die als gemachte Person aus Amerika zurückkehrt, die den Teufel hat zähmen lernen, aber immer einsam geblieben ist. Sie erkennt den alten Heinrich an dem Lebensbuch das er geschrieben. Ihm ist sie das Beste, was er erlebt hat, nach Allem, eine einfache Naturmanifestation, und er hat ihr auch immer im Sinne gesteckt. So bildet sich noch ein kurzer Abendschein in den beiden | Seelen.

     Dieser Schluß notabene, vom Umfange weniger Bogen, würde nun an die Stelle des alten Einganges treten, sodaß dann die einheitliche Autobiographie ohne weiteren Abschluß folgen würde.

     Glauben Sie, daß das gerathen sei? namentlich bei nachfolgenden 3-4 Bänden Selbsterzähltem? Und doch glaube ich, der Eindruck einer gewissen Einheit bleibt eher gewahrt, wenn die Abweichung gleich im Anfang statt findet, als wenn sie erst am Ende nachhinkt. Und wiederum wird Per[pe]spektive u Verständniß verschoben, wenn wir uns im Anfang für Leute interessiren sollen, die wir erst später kennen lernen. Wohingegen wieder zu helfen wäre, wenn besagter Anfangs-Ausgang den Charakter einer selbständigen, an sich interessirenden Novelle erhalten könnte u s. w.

     Wenn Ihnen kurzweg eine Ansicht aufspringt, so denken Sie ein bischen an mich; aber beileibe machen Sie keine Umstände und am wenigsten nehmen Sie etwa die alte Schwarte selbst wieder vor bei diesem schönen Sommerwetter. |

     Da ich gerade dran bin, so will ich gleich noch was betteln. Ich habe neulich in der Rundschau ein par Gedichte abdrucken lassen auf Rodenbergs Anregung. Wenn Sie dieselben gelesen haben, so sagen Sie mir, ob ich mit dergleichen Spätlingsgelüsten fortfahren soll, oder ob ich besser aufhöre? Diese Vorübungen kosten mich, sofern es Neu-Entstehungen sind (welch' schöne Worte!) so unbillig viel Zeit, daß ich das Wasserwerklein gern abstelle, wenn es nur Schaden anrichtet. Und dennoch empfinde ich einen gewissen Reiz dabei, indem man nämlich immer etwas zu spielen u zu thun hat, ohne daß man an dem verfluchten Manuskript sitzen muß, wie ein Leineweber.

     Paul Heyse hat mir neulich geschrieben von München aus, fast wörtlich, wie Sie es vorausgesagt: "immer noch von Stimmen des Verlorenen umklungen und von fast spuckhaften Gesichtern auf Schritt und Tritt begleitet" und so zwei Seiten lang u Beide kränklich. Dennoch glaube ich nicht, daß sie | den Winter in München so gut ausgehalten hätten, wie in Italien. Ich kann nicht beurtheilen, wie es einem zu Muth ist, wenn man ein Kind verliert; allein ich glaube doch, es würde mir gehörig unheimlich, wenn man mir so hinten herum eins nach dem andern, drei, sechs, zwölfjährig, wegholte. Da ist man ja wie der Hund im Kegelspiel!

     Freund Petersen, der Regieriger und Dichterfreund, ist im Monat Mai wieder hier gewesen, leider bei schlechtem Wetter. Wir haben viel von Ihnen gesprochen und nun leben Sie wohl, behalten Sie mir Ihre Gesinnung schön warm. Ihre neuen Geschichten will ich doch vorher nächstens noch lesen; ich bin ein Narr daß ich so lange warten will, mir diese Collation zu gewähren.

                                                Ihr grußhafter
                                                G. Keller

      


 

15. 7. 1878  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 14; Storm/Keller, S. 30>

Husum, 15 Juli 1878.

Lieber Freund Keller! 
 
Hoffentlich treffen diese Zeilen zu Ihrem Geburtstage ein. Lassen Sie mich Ihnen dazu nochmals meine Freude aussprechen, daß wir, wenn auch spät, uns doch noch ein wenig nahegekommen sind, und dieser selbstsüchtigen Versicherung den nicht weniger selbstsüchtigen, aber herzlichen, Wunsch hinzufügen, daß ich noch ein gut Jahrzehnt mit Ihnen in der Schöpfung oder in rerum natura existiren möge! Wer weiß, ob wir uns dann nicht noch einmal persönlich die Hände schütteln.

     Und nun zunächst vom "Grünen Heinrich", der, soweit es in der ersten Person geht, eins meiner liebsten Bücher ist. - Leider bin ich in den letzten Wochen bei schwachen Nervenzuständen zu sehr in Arbeit erstickt gewesen, um es nochmals ordentlich zu lesen. Statt meiner hat es mein Jurist gethan, der für den freundlichen Gruß danken läßt; es war das Einzigste, was er von Ihnen nicht gelesen hatte. Nun ist er ganz voll davon, und gestern, Sonntag, beim Nachmittagsthee | und Abends hat er uns daraus vorgelesen: den Besuch beim Onkel mit dem silbernen Posthörnchen mit der prächtigen Einführung der Judith; dann: die Geschichte von dem alten Hökerpaar, Margreth und Jacöbchen.

     Zunächst muß ich sagen, daß ich bei Ihrem jetzigen Vorhaben, obwohl es nöthig ist, wenn das Buch für weitere Kreise lebendig gemacht werden soll, nicht ohne Sorge bin. Es quillt ein so frischer Lebensborn in diesem Buche, es liegt auf Allem ein solcher Glanz von sinnlich frischer Schönheit, daß ich bei dem Gedanken, dß das umgegossen werden soll, zittre. Aber Sie werden ja schonsam zu Werke gehen.

     Ernst, wie früher ich, hat übrigens den Eindruck gehabt, daß dieser frische Glanz erlöscht, wo die Erzählung in dritter Person be[be]ginnt, wenngleich auch hier, wie im ersteren Theil die sich gleichsam von selbst ergebenden Offenbarungen aus Kunst und Menschenleben vorkommen. Ernst las gestern auch noch das schöne Wort über den Homer, und ein dabei gegenwärtiger Freund von ihm, ein junger Freund auch von mir, Dr. | Tönnies - er wird wohl noch von sich reden machen - meinte: "Wie anders ist es doch, wenn so Einer sich über dergleichen ausspricht, als wenn die Gelehrten über die alten Dichter reden!"

     Doch weiter: wir haben auch beide nemlich mein Jurist u. ich, die Empfindung, daß die Erzählung vom Künstlerfest, so gut die Schilderung an sich ist, doch im Verhältniß zum Ganzen einen zu schweren Balast abgiebt.

     Nun Ihren Vorschlag anlangend: - man müßte bei einander sitzen, um es zu besprechen - aber ich meine, Sie dürfen die schöne Wirkung, welche die Rückkehr der Judith hervorbringen muß, dem Schlusse des Buches nicht entziehen. Das muß sich machen lassen, irgendwie. Zunächst müßte die Judith bei ihrem Fortgang nicht 30, sondern etwa 25 Jahre alt sein, das genügt ja, um ihr die Ueberlegenheit dem etwa 6 od. 7 Jahre jüngeren Mann gegenüber zu verleihen. Dann mag sie mit 5, 6 od. 37 Jahren zurückkehren; Heinrich ist dann freilich noch nicht alt; aber das müßte gemacht werden. Judith könnte auch 40, od. reichlich, alt sein und nur in der Seelenbewegung des Wiedersehens noch in, | wenn auch vergehender, Schönheit erscheinen. Es ist zu kümmerlich, wenn sie als krankenpflegendes altes Mütterchen wiederkommt. Ich meine es könnte wohl gemacht werden, daß Heinrich sein Lebensbuch - auf Judiths oder eignen Antrieb, damit nicht der Goldglanz des Abends darin fehle oder dgl. - wieder aufnimmt, mit der Bemerkg, er habe geglaubt hier zu schließen aber etc - und dann selbst (es würde dann auch ein ganz anderer Glanz darauf kommen) die Rückkehr der nie vergessenen Geliebten schildert. Welch eine Scene!

     Freilich, kann das Alles nicht angehn - Heinrich würde ja dann auch kein kümmerlicher Greis sein dürfen - dann muß dieß Alles an den Anfang des Buches. Aber giebt der Tod der Mutter nicht einen öden Schluß, und darf, was erst durch den ganzen vorhergehenden Inhalt des Lebensbuches, seine Bedeutung und seine Wucht gewinnen würde, an den Anfang des Buches gestellt werden?

     Ich weiß freilich nicht, ob mir Ihre Intentionen ganz klar geworden, bin aber bereit, wenn Sie wollen, weiter darüber darüber zu briefwechseln.

     Ich schreibe heute etwas confus, habe auch schon eine Amtsreise und ein paar Stunden Gerichtsarbeit hinter mir - seien Sie daher nachsichtig, wenn ich dennoch fortfahre. Vielleicht regt das Eine oder Andre Sie dennoch an.

     Freund Petersen, der neulich einen Tag bei mir war und Ihren persönlichen Gruß überbrachte, schmerzte sehr über Ihre Absicht die badende Judith zu streichen, und gewiß, die Scene ist schön, "als machten ... die alten Götter die Rund", wie sie oder etwas davon bei Ihrer jetzigen Absicht zu halten ist, weiß ich in der That nicht - etwas werden Sie indeß schon zu conserviren wissen.

     Von den Zürcher Novellen hat die erste mir freilich hie u. da den Eindruck gemacht, als quille die Erfindung nicht recht frisch, als fühle ich die Arbeit, einzelne Scenen wollten sich als aufgelöste Lieder etwas zu deutlich kennzeichnen. Im Landvogt finde ich die einzelnen Liebesgeschichten und deren Heldinnen, sowie nachher die alte Haushälterin über alle Maaßen fürtrefflich; bei der Zusammenkunft im Hause des Landolt, meine ich freilich, kommt für die Novelle selbst nicht viel | heraus; doch mögen Andre anders darin empfinden; mir geht die Sache, wie die schwarze Quaste der Seldwyler - historische Wahrheit deckt sich nicht mit der poetischen - zu sehr ins Lalenbuch-genus, für das unsre Nerven zu fein geworden sind. - Aber selbst wenn diese Einwendungen begründet wären, es ist so viel des Tüchtigen und Schönen in allen Zürch. Novellen, daß Sie, meine ich, vollkommen ruhig sein können.

     (Uebrigens, was ich eben von unsern feineren Nerven sagte, ist nicht ganz richtig; die Komik des alten Schildbürgerthums d. h. die der alten Volksbücher, ist in den meisten Fällen eine absichtliche, gewaltsame, und daher überhaupt keine.)

     Sie fragen mich über die neuen Gedichte. Wenn es Sie treibt, lassen Sie es ja nicht; auch ich hoffe Ihnen nach den Ferien Verse neuen Datums senden zu können. Gestehen muß ich trotzdem, daß ich im Punkt der Lyrik ein mürrischer griesgrämiger Geselle bin; auch den Meistern glückt's darin höchstens ein halbes, allerhöchstens ein ganzes Dutzend Mal. Ich gäbe was darum, wenn unser lieber Freund Heyse | sich sein "Skizzenbuch" verkniffen hätte; ich hab's ihm nicht mal sagen mögen. Ihr "Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt", "Arm in Arm und Kron an Krone", "Die Erndtepredigt" sind solche Sachen, worauf man den Finger legen muß und sagen: "Da, das ist's!" und zu solchen möchte ich auch "Aroleid" zählen, wenn es (ich weiß nicht wie) in der Mitte etwas knapper gehalten wäre; namentlich die erste u. die vorletzte auch die letzte Strophe sind wunderschön; in der siebenten müßte es nach meinem Gefühl heißen: "Mit ihrem Kind zur Höhe braust". Auch der "Venus" stimme ich völlig bei, auch ist es wohl werth, das einmal auszuprägen. Der "Narr von Zimmern" ist eine reizende Geschichte; nur ist mir in den vorletzten beiden Strophen allerlei nicht recht; sie sind mir im ganzen zu sehr referirend, dadurch zu unlebendig, die Verse "doch manche Nuß ... köstlich an" überflüssig; da wäre Platz für Lebendigeres; was sollen in so knappen Epen noch lange Vergleiche! Ebenso die Vorbereitung "doch hat der Narr sich schnell bedacht - versöhnen". Weshalb nicht gleich in medias res? Zu referirend hier ins | besondre schon als langer Relativsatz: "der schon das Zeichen" etc. Ich glaube eine Strophe statt der zwei könnte es auch thun. Dann würde die wunderschöne letzte Strophe erst zur Geltung kommen. - In den beiden ersten Gedichten, namentlich im ersten, scheint mir der Funken nicht recht herauszukommen.

     Da sehen Sie, liebster Freund, denn auch hierüber meine Gedanken; sehen Sie nun selbst, ob Sie was davon gebrauchen können.

     "Die Ursula" sollten Sie wo möglich doch noch ausschreiben. Was da ist, ist zu gut, um als Fragment ohne innere Nöthigung fortzuexistiren.

     Ihre Querleserei mit den "Israeliten" beim Vetter Christian hat uns hier im Hause sehr ergötzt, dabei will ich über mich die Notiz machen, daß es mir in den Sitzungen collegialischer Gerichte, denen ich in Potsdam u. dann in Heiligenstadt angehörte, niemals möglich war, einer Discussion in einer Plenarsitzung zu folgen. Ob die Poeten alle etwas seltsam construirt sind oder ist's nur, wenn sie an's verkehrte Geschäft gesetzt werden? - Doch, ich schließe. Sie klagen über Einsamkeit; wer empfände diese Einsamkeit nicht? An Ihrem Gebur<ts>tage aber möge dieß Gefühl durch den Gedanken ein wenig gemildert werden, daß in meinem Hause im Norden Deutschlands, und nicht von mir allein, herzlich Ihrer gedacht wird.

                                                Ihr ThStorm

     


 

18. 2. 1879  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr.18; Storm/Keller, S. 38>

Husum, 18 Febr. 79.

Nicht weiter, liebster Keller, soll das Jahr, ohne daß Sie wenigstens Gruß und Lebenszeichen von mir empfangen; hoffentlich sitzen Sie jetzt in warmer Winterbehaglichkeit - hier wenigstens ist draußen Frost und stäubender Schnee - und schreiben den friedlichen Schlußact Ihres "grünen Heinrichs", während halbbewußt schon neue dämmernde Gestalten drängen. Mir ist es nicht so gut geworden; ich habe Sachen producirt, die meinen guten Namen just wohl nicht verbessern werden; eins "Zur Wald- u. Wasserfreude" finden Sie nächstens in der "Rundschau"; eine, glücklicherweise anspruchslose, Erzählung, "Der Finger", wo eine Familientradition aus einer befreundeten Familie zu Grunde liegt, im "Westermann". Fange ich nun ein Drittes an, so habe ich alle Ursache mich in Acht zu nehmen. Leider kann ich nicht, wie so ein Junggeselle, von meinem Richterstuhle abdiziren; und doch denke ich fortwährend daran, noch etwas von meiner armen Seele zu retten; denn die jetzt auch für | mich begonnene Umwälzung des Grundbuchwesens und zum Oktober des ganzen Justizwesens - lauter neue detaillirt andre Gesetze - drohen auch die ewige Jugend, auf die wir Poeten sollen Anspruch machen können, zu vernichten. Auch habe ich mir vorig Jahr in dem anmuthigen holsteinischen Dorfe Hademarschen ein Grundstück gekauft, um darauf mein Abnahmehaus zu bauen, auch schon einige Hundert Bäume u. Büsche nach einem Gartenplan dort pflanzen lassen; aber die Bäume müssen erst rauschen, und wer weiß, ob sie es dann für mich thun? Ein Bruder von mir (er betreibt einen großen Holzhandel) u. andre nette Leute wohnen dort, 5 Minuten von meinem Grundstück liegt ein freundlicher Flecken, Hanerau, ich selbst werde von meinem Hause die Aussicht auf wahrhaft Eichendorffsche Wald- u. Wiesengründe haben; aber dennoch befällt mich mitunter die Angst, hier meinen Stuhl zu rücken. So lasse ich es denn so gehen; und habe für einige fünfzig Thaler Zinsverlust das wunderliche Gefühl, daß mir irgend anderswo ein | Garten in Laub u. Früchte treibt, und kann mir auf dem inmitten aufgeworfenen Bauplatz vor dem Einschlafen mein Haus bald so bald so zurecht bauen. So lange meine alte Mama lebt, denke ich selbstverständlich nicht an's Fortgehen. Und sie lebt noch immer, ist innerlich klar und lebendig, obwohl sie nur selten das Wort dafür finden kann; aber sie wird schwächer und ob wir sie noch einmal zu ihren Blumen in den Garten hinunterkriegen, ist wohl kaum zu hoffen.

     Mit Ihrem Einwand gegen meinen "Carsten Cur." haben Sie völlig Recht; ich hatte ihn schon beim Schreiben; aber schrieb dennoch so.

     Vor Weihnachten hatten wir auf besondre Veranlassung W. Jordan hier; er rhapsodirte genau 1½ Stunden in unserer Aula von Siegfried's Abschied (zur Jagd) bis incl. zu seinem Tode; und ich hörte das denn an. Aber, Gott stehe mir in Gnaden bei! Was ist das für elendes Zeug! Eine kleine bucklige Dame sagte (in Betreff der Schilderung des Waldlebens) ihr sei gewesen, als wenn ein Noahkasten ausgekramt würde. Und diesen Kerl nennen | Literaturgeschichten den ersten, einen gewaltigen Epiker! Das Gewaltige liegt nur im Stoff; was er dazu gethan, ist roh und doch sentimental, breit u. kleinlich und wo er eine Kraft einsetzen soll, da hat er keine; nur einmal schimmerte auf Hagens Lanzenspitze für einen Dreier Poesie. Der Mann schreitet übrigens ganz in dem Bewußtsein, daß reiche Hamburger ihre Säle mit Marmorreliefs aus seiner Dichtung zieren u. seine Büste in Marmor hauen lassen. Als wir nach Hause kamen, lasen Ernst u. ich, um uns von diesem Elend zu erholen, uns sofort Siegfried's Tod in den alten Nibelungen vor; dann ging ich in eine Gesellschaft zu Jordans Ehren, wo der Wirth dessen Gesundheit als "ersten Epiker Deutschland's" ausbrachte, und dann für den Rest des Abends mir als Sachkundigen den Gast überließ. Solche Gesellschaften will ich niemals wieder mitmachen.

     Kurz vor dem Fest war Freund Petersen vom Sonnabend auf Sonntag bei uns, um, wie er sagte, sich etwas Erquickung für die | Weihnachtstage zu holen. Als wir, wie immer, Ihrer gedachten, zeigte er sich von einer wunderlichen Besorgniß erfüllt, daß Sie in Betreff der Honorare bei den Zeitschriften zu kurz kommen möchten; aber Sie werden sich ja mit Heyse oder sonst wie berathen haben und unter ein paar hundert Thaler p. Druckbogen Ihre Sachen nicht hingeben.

     Dieser Tage hatte ich die Freude, daß meine 18jährige Tochter Lucie (sie ist freilich Braut) sich ganz von Ihrer "Ursula" entzückt zeigte; auch auf sie hatte der Tod Zwingli's besonders gewirkt. Gleichzeitig erklärte das unkindliche Geschöpf, daß sie aber meinen "Finger" gar nicht nett fände; wogegen denn freilich bei solcher Gegenüberstellung nichts zu erinnern war.

     Und nun - haben Sie nicht wieder irgend etwas, worüber es Ihnen gesellig ist, auch meine dumme Meinung zu hören? Man kommt dann so viel leichter wieder einmal zum Schreiben. Zum Sommer, wo ich meine "W.W-Freude" noch etwas flicken möchte, klopfe ich vielleicht einmal bei Ihnen an. Aber nicht wahr, Sie lassen bald einmal von sich und dem guten "Heinrich" hören? Mir | geht's ganz leidlich; nur, daß ich, wie gesagt, meinen Lebensrest nun lieber anderswie als im Amte verbrauchen möchte. Meine beiden Keller-Leser, Ernst u. Lucie lassen sich Ihnen empfehlen; was Ihnen hoffentlich nicht gleichgültig ist; denn wenn man sich der Jugend bemächtigt, so ist ja die Unsterblichkeit immerhin wieder auf eine neue Generation gesichert.

     Und somit, liebster Freund, möge Ihnen Trank und Speise munden und Ihnen Kraft und Lust zu allerlei Schönem und Tröstlichem auch in diesem Jahr verleihen!

                                                Ihr
                                                ThStorm

Heyse's Elfriede soll in Straßburg i. E. ja nur einen Achtungserfolg gehabt haben. Er referirte mir vor einiger Zeit auf meine Bitte - denn ich liebe dieses Werk - einmal ausführlich die ganze Theatercalamitat in pcto der Elfriede; und nun in Str. aufgeführt und ohne Erfolg! Ob er nun nicht des Drama's müde wird? Vielleicht | fehlt das Handfeste in seinen Dramen, was vor allen groben Fäusten stehen bleiben muß. Uebrigens bekenne ich gern, daß ich von diesen Dingen nichts verstehe.

                                                d. O.

     


 

26. 2. 1879  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.06; Storm/Keller, S. 41>

Zürich 26 Febr. 1879.

Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Briefe an Sie laborirte. Der Winter ist mir zum ersten Mal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahm gelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt u schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um 4 Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf 8 bis 12 Meilen Entfernung, im hellen Mondscheine liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich | alles wieder Nebel u Düsterniß.

     Schon seit dem Herbste habe ich den Sal. Geßner'schen 2t. Band für Sie bereit, den Sie einmal gewünscht haben. Das Jahrhundert, das seit seinem Erscheinen verflossen war u das ich durch die schöne Dedikation markirt habe, ist nun schon überschritten. Gleichwol lasse ich's stehen u sende Ihnen das Buch zum freundlichen Angedenken u Vergißmeinnicht.

     Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Landkaufe u Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wol noch Bäume setzen; warten Sie aber, wo möglich, nicht zu lange, bis Sie bauen. Die Gesetzänderungen, welche Ihnen so mal à propos noch auf den Hals fallen, soll auch der Teufel holen, so zweckmäßig sie sein mögen. Ich habe vor 10 Jahren etwas Aehnliches erfahren: Gerade als ich in mein Amt so voll eingeschossen war, daß ich Aussicht hatte, etwas Muße zu gewinnen, gabs eine trockene | aber radicale Staatsumwälzung, eine neue Verfassung wurde gemacht, in Folge dessen eine Reihe neuer Gesetze, so daß ich neben den laufenden Geschäften zwei Jahre lang fast Tag u Nacht Schwatzprotokolle zu schreiben hatte, die nachher zur Interpretation dienen sollen, wenn die Esel nicht mehr wissen, was sie gewollt haben. Da war es denn mit der Dichterei wieder fertig, besonders da die zweite Staatsschreiberstelle auch abgeschafft wurde und ich als einziger u untheilbarer Scribax dastand, weshalb Ihre Adressen auch nicht mehr richtig sind. Ich möchte Ihnen bei diesem Anlaße auch belieben, fragliche Titulatur überhaupt abzuschaffen, sintemalen dieselbe in der knauserigen Republik keine Pension einträgt.

     Sie sind aber ja ein Hexenmeister von Fleiß, wenn wir drei neue Arbeiten zu gewärtigen haben; sie sollen und werden Ihrem guten Namen nichts schaden, da Sie ja das Vermögen nicht besitzen, absichtlich unter sich selbst herabzusteigen, wie gewisse Industrielle, und unabsichtlich hat es doch auch seine Mucken. |

     Den koketten Rhapsoden Jordan hab ich vor Jahren hier auch gehört u zwar in den gleichen Capiteln; gar wunderbar war es, das kränkliche Knäblein der Brunhild (welch' modernes Romanmotiv!) zu Siegfried sagen zu hören: Du bist lieber als Papa! Jordan ist gewiß ein großes Talent; aber es braucht eine hirschlederne Seele, das alte und einzige Nibelungenlied für abgeschafft zu erklären, um seinen modernen Wechselbalg an dessen Stelle zu schieben. Jenes Nibelungenlied wird mir auch mit jedem Jahre lieber und ehrfurchtgebietender u ich finde in allen Theilen immer mehr bewußte Vollkommenheit u Größe. Als man nach der besagten Vorlesung in Zürich aus dem Saale ging, hatte sich der Rhapsode unter der Thüre aufgestellt u Jeder mußte an ihm vorbeigehen. Vor mir her ging Kinkel, auch ein Vortragsvirtuose und "schöner Mann", und nun sah ich wie die Beiden sich kurz zunickten und lächelten in einer Weise, wie nur zwei Frauen sich zulächeln können. Ich wunderte mich, wie zwei so lange Kerle und geriebene Luder | sich gegenseitig so schofel behandeln mögen. Wahrscheinlich verdirbt das reisende Deklamirwesen etwas die Poeten.

     Ueber Paul Heyse's dramatischen Unstern weiß ich nichts Sicheres zu sagen, da ich mehrere seiner Stücke noch nicht gelesen und noch gar keines aufgeführt gesehen habe. Was ich kenne, ist mir mit ein par Ausnahmen sympathisch; allein ich habe auch das Gefühl, daß er keine glückliche Hand mit den Stoffen hat; sie scheinen keine rechte Nöthigung in sich zu haben. Es wäre vielleicht aber auch möglich, daß seine Sachen für die jetzigen Zustände einfach zu gut sind; doch wie gesagt, ich muß sie erst einmal recht durchlesen.

     Ich für meine Person bummle jetzt im Geiste oft in seiner Nähe in München herum, da ich in der That mit dem Ende des grünen Menschen beschäftigt bin. Der Druck hat dieser Tage begonnen. Ich kann Sie, da Sie es wünschen, gleich um einen | weiteren guten Rath angehen. Der Titel: d. gr. Hch. scheint mir nämlich immer an Scurrilität oder unfreiwilliger Komik zu leiden; auch erinnere ich mich wohl, wie s. Z. ein malitiöser Kritiker gesagt hatte, der Held dieses Romanes sei allerdings ein sehr grüner Junge u. s. w. Hielten Sie es nun für thunlich, den Titel zu ändern u etwa zu sagen "Heinrich Lee" oder "Das Leben des grünen Heinrich", mit welch' letzterer Wendung dann wenigstens das Wort "Roman" wegfallen könnte und das Ding schlechtweg ein Buch wäre. Oder hat Sie der bisherige Titel nie gestört?

     Petersen ist ja eine fürsorgliche edle Seele; wenn es auf ihn ankäme, so ließe er uns den Verlegern schön mitspielen, daß ihnen Hören u Sehen verginge. Indessen schenken wollen wir den Herren gerade auch nichts. Ich habe bisher nur in der Rundschau Novellen gehabt u 300 Mark für den Bogen bekommen, also 100 Thaler. Auf Rodenbergs | Wunsch habe ich allen andern Zeitschriften abgeschlagen, wenn Sie also meinen, daß das Verlangen von 200 Thalern bei nächster Gelegenheit nicht zuviel Goldgier verrathe, so wäre das mir freilich lieb. Ich habe mich s. Z. wol etwas über die Honorarverhältnisse erkundigt, aber keine bestimmten Zahlenangaben erhalten, da man nicht zu indiskret sein kann.

     Von dem Verleger der Buchausgaben erhalte ich ungefeilscht 80 M. oder 100 francs für den Druckbogen bei 1200 Auflage u zwar von einem Verleger, der es immer als eine Güte u Ehre preist, die Sachen zu bekommen. Sollte das etwa nach Ihrer Meinung auch zu wenig sein, so bitte ich ergebenst, mir es auch melden zu wollen; denn Sie machen mir sofort ein Geschenk damit von dem Betrage der Differenz. Doch wird es hier wol sein Bewenden haben; denn der Buchverleger muß auch was verdienen. |

     Da wir an Geldsachen sind, so will ich gleich noch einen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nämlich schon einige Male Ihre Briefe mit 10 Pfennigmarken frankirt, während es nach außerhalb Reiches 20 sein müssen. Nun habe ich eine Schwester u säuerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie das Strafporto von 40 Pfennigen in das Körbchen legt, das sie dem Briefträger an einer Schnur vom Fenster des 3t. Stockes hinunter läßt, das Zetergeschrei erhebt: Da hat wieder Einer nicht genug frankirt! Der Briefträger, dem das Spaß macht, zetert unten im Garten ebenfalls u schon von Weitem: Jungfer Keller, es hat wieder Einer nicht frankirt! Dann wälzt sich der Spektakel in mein Zimmer: Wer ist denn der wieder? (An Ihren Beraubungen haben Sie nämlich Concurrenz in den oesterreichischen Backfischen, die an alle Dichter der letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie um | Autographen schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Classikers aus dem Buche ersichtlich ist) Den nächsten Brief dieser Art, schreit die Schwester fort, wird man sicherlich nicht mehr annehmen! - Du wirst nicht des Teufels sein! schrei ich entgegen. Dann sucht sie die Brille, um Adresse u Poststempel zu studiren, verfällt aber, da sie meine offen stehende warme Ofenröhre bemerkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen u in die Wärme zu stellen, so daß ich den schönsten Küchengeruch in mein Studirzimmer bekäme, was sonderlich für den Fall eines Besuches angenehm ist. "Raus mit der Suppe!" heißt's jetzt, "und stell' sie in deinen Ofen!" "Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil der Boden abschüssig ist!" Neuer Wortkampf über die Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab u die Portofrage ist darüber für einmal wieder vergessen; denn mit der Suppe hat Angriff u Vertheidigung, Sieg u Niederlage gewechselt. |

     Haben Sie also die Güte, der Quelle dieser Kriegsläufte nachzugehen und sie zu verstopfen. Machen Sie es aber nicht wie Paul Lindau, der mir s. Z. nach einer Reihe von halbfrankirten Mahnbriefen um irgend einen Geschäftsartikel schnöd bemerkte, so was könne bei ihm gar nicht vorkommen; höchstens könne es sich um ein einmaliges Versehen seines Sekretärs handeln, er bitte deshalb um Nachsicht wegen des unliebsamen Vorfalls u. s. w. Da hatt' ich von diesem Humoristen mein Theil weg!

     Grüßen Sie mir biedermännisch Ihre beiden liebenswürdigen Kinder, denen ich für ihre gewogene Gesinnung alles Wohlergehen anwünsche, vor Allem natürlich der Verlobten. Ich habe schon seit Jahren ein Novellenkränzchen projektirt, dessen Hauptträgerin Lucie heißt, d. h. vorläufig. Ich werde nun den Namen zu Ehren der Gönnerin der armen Ursula stehen lassen müssen, da es so schon eine kluge | Person werden sollte und nun um so eher wird. Den "Finger" will ich Ihnen dafür doppelt rühmen.

     Ich danke für Ihre Jahreswünsche gar herzlich u hoffe, daß ich in der That einen Ruck vorwärts thue mit meinen Lebensrestanzen; denn der Handel fängt doch an unsicher zu werden u ein Altersgenosse nach dem andern wird kampfunfähig oder segelt gar von dannen. Ihnen wünsche ich gleichfalls das Beste, vor Allem Beruhigung wegen des mysteriösen Uebels, von dem Sie mir schrieben und an das wir vor der Hand nicht glauben wollen. Mögen Ihre Bäume lustig gedeihen und zugleich die Mama noch gute Frist gewinnen, daß Sie nicht wegziehen, so ist die richtige Spannung vorhanden, wie mir scheint.

                                                Ihr
                                                G. Keller.

      


 

5. 3. 1879  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 20; Storm/Keller, S. 44>

5 März 1879

Lieber Freund Keller!
 
Ich schrieb neulich so einem Autographentiger 'mit Postmarke' (das sind ja die schlimmsten): "Der schlimmsten Geister einer ist der Sammelgeist"; als ich aber gestern von Ihnen den schönen Band 2 vom alten Geßner empfing, da fühlte ich, daß ich doch selber jenem Geist auch etwas verfallen sei. Es hat mir überdieß recht wohl gethan, daß Sie meinen einmal geäußerten Wunsch in so feinem Herzen aufbewahrten. Dank dafür. Nun gilt es nur, aus alten Buchbinderwerkstätten alte "Fi-" oder "Phileten" aufzutreiben, um meinen ersten bis dato nur broschirten Theil annähernd ähnlich gebunden zu kriegen. Das schöne Buch verdient es schon.

     Und nun, um voran das Geschäftliche abzuthun: Bei einem Abdruck in einer Zeitschrift dürfen Sie Ihre novellistischen Arbeiten (über größere Romane bin ich ohne Urtheil) nie unter 600 M. p. Bogen weggeben; ist die Arbeit so, daß sie nur 1 Bogen oder nur etwas mehr austrägt, so müssen Sie mindestens 700 M. p. B. erhalten. Ob Sie beim Buchverlag höher oder doch wesentlich höher kommen können, als 80 M. p. Bogen, bezweifle ich fast. Leider, bin | ich den Verlagshandlungen gegenüber zur ausdrücklichen Discretion verpflichtet; aber das Vorstehende muß ich Ihnen doch dringend anempfehlen. Sie sind dabei so freundlich, in deßfallsigen Verhandlungen meinen Namen nicht zu nennen. Auch ist es richtig, über die Höhe des Honorars Andern gegenüber zu schweigen; denn je größer im Allgemeinen die Anfodrungen werden, desto geringer muß für den Einzelnen das Resultat ausfallen. - Wenn Sie wieder etwas zum Abdruck haben, bitte, schreiben Sie mir vorher; wir besprechen es dann in specie.

     Wie ich zu dem mangelhaften Frankiren d. h. zur Annahme gekommen, dß es nach der Schweiz einfach Porto sei, weiß ich nicht zu sagen, wohl aber, dß ich jedes Mal nur so frankirt habe. Ich bin sonst selbst ebenso zornig über lüderliches Frankiren, wie Ihr Frl. Schwester, der ich mich freundlichst empfehlen lasse. Sie hätten mir nur schon früher einen Puff geben sollen.

     In Betreff des "Grünen" gratulir ich aufrichtig und erwarte nun nebst Ernst und Lucie - die beide für den freundlichen Gruß danken - mit Spannung auf die neuen "Lucien-Novellen".

     Den Titel für den "Grünen" anlangend, so bin ich zum Rathen nicht frisch u. unbefangen genug mehr in dieser Sache; nur bemerken möchte ich, daß das Buch doch, nachdem Ihr Publicum größer geworden, sich eines gewissen Namens erfreut. Ein Mittelweg wäre vielleicht gut; "Leben" oder "Heinr. Lee" klingt aber zu biographisch; sollte nicht angehen - nein doch wohl nicht! Ich wollte sagen: "Die Geschichte vom grünen Heinrich." Verfluchter casus mitunter so ein Titel! Lassen Sie Heyse einmal seinen "Verschäl" sagen. Wenn mir noch was einfällt, schick ich's sofort p. Karte.

     Ihre Schilderung in Betr. Jordan u. Kinkel ist gewiß sehr richtig; im 2 od. 3 Bande seiner Gedichte fingirt "der schöne Mann" sich als gestorben und läßt an seinem Grabe ein oder zwei junge Freiheitskämpfer dem Vaterlande Treue schwören. Ich kann den K. nicht leiden; außer dieser kindischen Eitelkeit kommt er mir auch unwahr vor. - Meine eigne arme Seele anlangend, | so werden Sie meine "Wald und Wasserfreude" wohl schon jetzt in der "Rundschau" gelesen haben; sonst, wenn die nicht an Sie kommt, sagen Sie's mir p. Postkarte, u. ich sende sofort einen saubern Abdruck. Ich mache es freilich immer so gut, als ich kann, und wenn ich's auch drei Mal auf den Kopf stellen soll; aber - mitunter reicht der Stoff nicht, mitunter die Kraft nicht. Und doch: "Wollt Ihr Poeten sein, so commandirt die Poesie"; und es gefiel dem alten Göthe so, dß Schiller, der ja für seinen Haushalt deß bedurfte, meinte, dß er wohl drei (oder waren's zwei?) Dramen jährlich leisten könne. Leisten! Das gefiel ihm so wohl als Zeichen des soliden Kraftgefühls. Nun, wir Kleinen sollen uns so was freilich nicht vermessen; namentlich wenn wir ins 62ste gehen und dazu noch justizreorganisiren sollen.

     Und somit und mit herzlichem Gruß genug für heute.

                                                Ihr alter
                                                ThStorm

Uebrigens sind es nicht 3, sondern nur 2. Geschichten (außer d. "WWfreude" der nur reichlich 1 Bogen lange "Finger"<)>, die ich in den letzten 5/4 Jahren fertig gestellet.

     


 

20. 9. 1879  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 21; Storm/Keller, S. 47>

Husum, 20 Septbr 79.

"Augen, meine lieben Fensterlein"

     Dieß reinste Gold der Lyrik fand ich im letzten Heft der "Rundschau", und zu meiner Freude unter Ihrem Namen. Ich habe es viele Mal und immer wieder gelesen und vorgelesen, und jeden faßte es, dem ich es las. Ich drücke Ihnen herzlich die Hand, liebster Freund; solche Perlen sind selten. Auch die Besten bringen nur sehr Einzelnes von solcher Qualität.

     Wollen Sie auch den Eindruck wissen, den mir die andern Stücke gemacht haben?

     N. 1 Gehört das nicht mehr in eine Geschichte der Geisteskrankheiten, so gut es auch vorgetragen ist? N. 2. Ist mir zu leicht und für leichte Waare nicht durchweg anmuthig genug; um die etwas unappetitliche Haar- u. Bartgeschichte unterzukriegen, bedarf es einer größeren Wucht. N. 4 Im Einzelnen sehr schön u. voll poetischer Anschauung; mir | im Ganzen aber nicht klar und einheitlich genug. Wie kommt der Dichter dazu, den Tod zu bitten, ihn seine Dichtersünden nicht büßen zu lassen. Der ist ja doch nur der Executor. Und wie kann der Dichter sich darüber freuen, wenn der Tod dahin fährt um seine schönsten Gebilde zu vernichten? Ist die so erkaufte Spanne Leben nicht zu theuer? Oder will der Dichter ihn nur narren, und glaubt er selber nicht an das Leben seiner Gebilde auf einem andern Sterne? - Es scheint mir das nicht recht heraus zu kommen.

     Doch - Sie sagen, ich nehme es zu strenge mit dem Lirum Larum! Ich bestreite das; denn die reine Freude, die ich und andre an Ihrem "Abendlied" gehabt haben - nicht nur Freude, etwas viel Tieferes - und die ich daran noch öfter haben werde, beweist mir, daß ich in diesem Punkte Recht habe.

     Im nächsten Heft der Rundschau werden Sie mein Neuestes "Eekenhof" lesen, | das in Betreff der Oeconomie des Ganzen wie der Ausführung ein ziemlich heikel Ding gewesen ist. "Es klingt wie eine Sage"; diese ersten Worte bestimmen Stimmung und Gangart; es mußte so aus dem Nebel herausgetuscht, und wenn es mir zu nahe auf den Leib rückte, kräftig wieder zurückgeworfen werden. Manche gedachte oder schon geschriebene Scene wurde hinter die Coulissen geschoben, und dann darauf hingearbeitet, daß nur die Reflexe davon vor dem Zuschauer auf die Bühne fallen.

 Ich bin einigermaaßen begierig, wie es Ihnen gefallen werde. Zu Weihnachten erhalten Sie die kleine Erndte des vergangenen Jahres, sauber in ein Büchlein zusammengesperrt.

     Das nächste Jahr wird mich wohl von Husum nach dem schönen grünen Dorfe Hademarschen übersiedeln sehen, um dort auf geräumigem schon zum Garten angepflanztem Grundstück meine Alters-Villa in bescheidenem Maaße aber wohnlich aufzubauen. |

     Mein Grundstück hat schöne blaue Wald- u. Wiesenfernen und liegt in der Mitte, 6 Minuten etwa von jedem, zwischen zwei hübschen Orten, dem genannten Dorfe, wo der nach mir kommende mit einer Schwester meiner Frau verheirathete Bruder wohnt, und dem gutsherrlichen Orte Hanerau. Die Eisenbahn nebst kleinem Bahnhof ist unweit meinem Besitzthum.

     Am 28 Juli dJ. starb nach schwerem Todeskampfe meine alte im Herzen noch so jugendfrische Mutter, 82 Jahre alt, und das vom Urgroßvater erbaute Familienhaus ist zum Kaufe ausgeboten. Da ich mit meinen Kopfnerven in Streit liege und bei fortgesetztem Widerstand zu viel Terrain zu verlieren fürchte, so habe ich vorläufig Urlaub genommen, und werde hoffentlich vor Neujahr noch ganz die Amtskarre niedersetzen können. Leider muß ich zuvor mein Haus hier verkaufen, was nicht so leicht sein dürfte.

     Von unserm Freund Heyse erhielt ich | Anfang August eine Karte aus Alexanderbad, die recht niedergeschlagen klang. "Ich buchstabire Hoffnung, werde sie aber wohl nicht wieder vom Blatt lesen lernen." Ich meine, er hat auch wieder zu viel drucken lassen wollen; seine Novelle in der letzten "Rundschau" zeugt von großer geistiger Ermüdung. Aber er ist gegen uns Beide ja noch ein Jüngling, und es kommt hoffentlich noch die Woge, die ihn wieder hebt.

     Und was treiben Sie denn, lieber Meister Gottfried? Haben Sie schon Hand an den beabsichtigten Novellen-Cyclus gelegt, von dem Sie mir einmal schrieben, oder sind Sie noch immer "grüner Heinrich"? Seien Sie es nicht zu lange; denn noch trinkt Ihr Auge von dem "goldnen Ueberfluß der Welt"; aber es ist doch das "Abendfeld", auf welchem Sie, wie ich, nur noch zu wandeln haben. - Ihren Landvogt Landolt las ich neulich einer jungen Mädchenschaar von 20 bis herab zu 10 Jahren; aber Jungfrauen, Kinder und Backfische hörten mit lautlosem | Eifer und quälten am andern Abend um die Fortsetzung, als wir am ersten Abend nicht zu Ende kamen. Ich acceptirte diesen Erfolg mit Freuden, für das junge Volk, wie für die Dichtung.

     Und nun, wenn Sie einmal in der Stimmung sind ein Paquet zu machen, oder noch lieber, auch wenn Sie es nicht sind - denn ich wenigstens thue es stets unter Knurren u. Seufzen, und wenn's für die Liebsten ist - also, dann packen Sie einmal den Paß-Band zum Geßner u. senden ihn mir; denn der andre sieht mich doch immer etwas traurig durch die Schrankscheiben an. Für den Fall, dß Sie kein Interesse haben, dagegen meinen desgleichen nur broschirten Band zurück zu erhalten, würde ich meinem jüngsten ärztlichen Bruder, dem Dr Aemil Storm hier damit eine Freude machen, der sonderbarer Weise erst neulich diese Bilder bei mir sah und sich ganz darin vernarrte.

     Sonntag 14 dM. an meinem Geburtstage | war Freund Petersen aus Schleswig mit seinem 8jährigen Töchterchen einen Tag bei uns; er hat mir einen Gruß zur Bestellung an Sie hinterlassen, den ich hiemit ausrichte.

     Da ich richtig frankiren werde, so darf ich Sie auch bitten, mich Ihrer Schwester freundlichst zu empfehlen. Ich verspreche auch, in dieser Beziehung, trotz abnehmender Geisteskräfte, allzeit prom<p>t zu bleiben.

     Nicht mehr heute!
                                                Herzlich
                                                Ihr ThStorm.

     


 

20. 12. 1879  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.08; Storm/Keller, S. 50>

Zürich 20 Dec.1879

Es ist nun genug des Aergernisses, liebster verehrtester Freund, und ich will mich endlich hinter das Packen machen. Dem Geßner'schen Bande fehlt leider ein Rückenschildchen, das Sie selbst etwa dem andern Bande conform herstellen lassen können. Ihren brochirten Band geben Sie natürlich dem Herrn Bruder, ich brauche ihn nicht.

     Jetzt lassen Sie mich zuvörderst meine herzliche Theilnahme an dem Verlust Ihrer sel. Frau Mutter aussprechen. Sie ist um so aufrichtiger, als ich annähernd ähnlich erlebt habe, was man bei solchem Todesfalle in eigenem vorgerücktem Lebensalter empfindet. Die lange Gewohnheit des Besitzes, der nun doch ein Ende nimmt, verbunden mit der Gewißheit der nun näher rückenden Nachfolge läßt uns alte Waisenknaben die Situation ernster ansehen, wenn wir auch nicht so viele Thränen vergießen, wie die jungen. Gerade weil wir längst der materiellen Hülfe des Mütterchens nicht mehr bedurften, wirkt das Wesen des Abscheidens um so reiner und energischer auf uns ein. |

 Der Verkauf des Familienhauses will mir, der ich mich in Miethwohnungen herumtreiben muß, nicht recht einleuchten. Ich habe als Beamter 15 Jahre lang in solch' altem Hause eine Dienstwohnung gehabt und mich der weitläufigen Flure, alten Oefen u d. gl. erfreut u wäre gern darin geblieben. Allein Ihr tapferer Entschluß steht jedenfalls höher, als jene Romantik, und Ihnen ist die Landschaft, die Sie beschreiben, sowie die freie Himmelsluft doppelt zu gönnen. Ich wünsche Ihnen volles Glück zum letzten Abschnitt Ihres Lebens. Möge der Vorhang spät fallen!

     Wie Ihre Popularität bereits zu Abenteuern Anlaß gibt, können Sie aus beiliegender Nummer eines hiesigen Blattes sehen, das ich Ihnen aufbewahrt habe: Sie werden schon von Fälschern aus dem Dänischen übersetzt und von in der Diaspora lebenden Verehrern erkannt. Dergleichen passirt einem Unpopulären nicht!

     Ich habe Ihnen noch nichts über den "Finger" geschrieben, den Sie nun umgetauft haben. | Im Anfang dünkte mich das Biergeschäft, das zu Grunde liegt, etwas prosaisch; allein die stramme Composition und die sehr gute Peripetie der Novelle ließen mich das bald völlig vergessen und alles als sachlich zugehörig und harmonisch ansehen.

     Der Eekenhof vollends läßt Ihre Kraft im ungebrochensten Lichte erscheinen bezüglich der Färbung, Stimmung sowol als der Erfindung, Durchführung und Charakteristik. Da Sie öfter einzelne Arbeiten dieser Art herausgeben, so hätte ich nur gewünscht, Sie hätten einiges, das Sie unterdrückten, doch in die Ausführung aufgenommen und das Werklein dann als einbändigen Roman für sich publicirt. In Summa, die Aussichten Ihrer gewonnenen Mußezeit scheinen mir auf gute Sterne gerichtet zu sein. Lassen Sie mich auch ein bischen nach denselben mitgucken!

 Die Aufnahme meines kleinen Abendliedes bei Ihnen hatte mich schon | in einem Berichte unsers Freundes Petersen vergnüglich angesprochen und mich, wie die menschlichen Dinge sind, um so mehr gefreut, je müheloser und aus sich selbst die par Ströphchen entstanden sind. Wir können nun aber nicht, wie Sie kritisch verlangen, mit fünf oder sechs dergleichen Lufttönen allein durch's Leben kommen, sondern brauchen noch etwas Ballast dazu, sonst verfliegen und verwehen uns jene sofort. Ich muß daher bei allem Danke für Ihre freundlichen Winke noch etwas von dem Uebrigen zu retten suchen. Die Schwurgerichtsgeschichte soll keinen kriminalwissenschaftlichen Fall darstellen; es handelt sich nur um den erbärmlichen Tod des friedlichen Jüngelchens, das musizirend durch den Wald ging; dies schien mir poetisch, und solls darüber hinaus noch eine Pointe geben, so ist's der unbefriedigt gebliebene Spieltrieb eines finstern Bengels, der so unbedenklich zum Morde greift, wie ein Makbeth etc, denen es um Thron und Krone zu thun ist. |

     Das Machwerklein mit dem Tod ist eine harmlose Neckerei gegen das schöne Geschlecht, ein kleines Vexierzeug. Der Dichter schickt den Tod einfach in die Erdbeeren, wie man hier sagt, nämlich dahin, wo man weiß, daß das Gesuchte nicht zu finden ist. Wollen wir solche Scherze zergliedern, so hört der Spaß natürlich auf. Was den Tod als Richter betrifft, so wird er in dem Passus ja absichtlich pluraliter angeredet, also mit und in ihm die Mächte, die hinter oder über ihm stehen. - Der Bartstutzer ist mißrathen, weil ich das ursprüngliche Motiv im Stiche ließ. Es sollte nämlich der Gute, indem er die weißen Bartflocken (nicht etwa Rasierschmutz!) dem Winde gibt, sich seufzend gestehen und geloben, nun sei es mit aller Lieb und Buhlschaft vorbei, worauf die Vögel kommen, und das fliegende Bartwesen zum Nestbau holen. Ich fürchtete aber, man könnte mir diese Wendung als eine subjektive thörichte Empfindung auslegen, und ließ sie fahren. Warum soll aber das Ding | unappetitlich sein? Ist denn der Nesterbau der lieben Vöglein nicht hundertfach Gegenstand zierlicher Idyllen u Liedlein? Oder denkt man denn gleich an beschmutzte Wäsche, wenn man das weiße Linnen eines Brautschatzes besingt? Da sehen Sie nun! Hätten Sie nicht Ihre Kritik mit einer logischen Daumschraube abgeschlossen, so würde ich mich jetzt nicht so lächerlich geschwätzig aufführen! Aber ich hoffe, Sie fahren ein ander Mal fort! Hier habe ich gar Niemand, der mir was sagen kann.

     Paul Heyses Zustand ist mir räthselhaft; er hat in ungefähr Jahresfrist einen Band der schönsten Verse gemacht, und doch soll er fortwährend krank sein. Vielleicht bringt eben das angegriffene Nervenwesen eine solche selbstmörderische Fähigkeitssteigerung mit sich. In diesem Falle habe ich gute Nerven, bin dabei aber ein ungeschickter Kopf. Spaß beiseite, glaub' ich fast, es räche sich, | daß Heyse seit bald dreißig Jahren dichterisch thätig ist, ohne ein einziges Jahr Ableitung oder Abwechslung durch Amt, Lehrthätigkeit oder irgend eine andere profane Arbeitsweise genossen zu haben. Ein Mann wie Er, der wirklich zu consumiren hat, wird und muß hiebei selbst mit consumirt werden; es ist nicht wie bei einem Drehorgelmann. Aber man darf ihm nichts sagen; es ist zu spät; er muß sich trotz alledem erholen oder aufbrauchen. Auch Tiek und Gutzkow ist diese Lebensart nicht gut bekommen, ohne daß ich übrigens unsern idealen Paulus mit solchen literarischen Erzpraktikern vergleichen will.

 Sie haben auch ein mysteriöses, wenigstens mir unverständliches Gedicht in der Rundschau gehabt, fällt mir eben ein, das mir aber trotzdem gefiel und imponirte; ich hab' es mir auf meine Weise zurecht gelegt.

     Mein alter Roman zieht sich mit dem Schluß noch in den Januar hinüber. | Drei Bände sind erschienen; die Kälte macht mir seit Wochen eine Unterbrechung im constanten Schreiben, sonst wäre ich jetzt mit Allem fertig, so kann ich nur peripatetisch etwas thun, ich bringe meine luftige Wohnung dies Jahr kaum auf 10 Grad R., was der Teufel nicht ahnen konnte, als ich sie vor 5 Jahren miethete. Ich mag Niemanden über das Buch befragen und schick' es auch Ihnen erst wenn's fertig da liegt, ohne daß Sie's zu lesen brauchen. Die Novellen werden schwerlich vor dem April k. Js. erscheinen. Natürlich habe ich inzwischen Vieles daran gedacht und projektirt, auch ist ein artiges Stück Schrift vorhanden.

     Verleben Sie mit den Ihrigen eine schöne Julzeit. Meine Schwester empfiehlt sich Ihnen bestens und hat mit Befriedigung das richtige Porto Ihrer Briefe wahrgenommen. Leider hat sie jetzt andere Kämpfe; sie muß mit mir über das in die Oefen zu steckende Holz sich herumzanken, damit sie ihres jährlichen Triumphes nicht verlustig geht, die Einzige im Hause zu sein, die im Sommer noch ein "schönes Restchen Holz" vom Winter übrig habe. Und das in einem solchen Mordswinter! Sie friert natürlich nie, weil sie nie still sitzt.
                                                Ihr G. Keller

     


 

9. 6. 1880  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 26; Storm/Keller, S. 56>

Hademarschen bei Hanerau (Schl. Holstein)
9 Juni 1880.

Lieber Freund Keller!
 
Obstehend sehen Sie meine neue Adresse; Abschied vom Amte, von Husum, Hausverkauf und Umzug liegen hinter mir. Es war eine wenig angenehme Zeit, die hinter mir liegt; daneben war auch noch mein Sohn Ernst vor'm großen Staatsexamen; jetzt ist das vor 8 Tagen glücklich überstanden, und mit einem Commissorium als Hülfsrichter in der Tasche, hält er erst etwas Ferien und treibt sich mit seinen Schwestern, Vetter und Basen - denn ein wohlbegründetes brüderliches Haus haben wir ja auch hier - in Feld und Wald umher.

     Hoffentlich haben Sie, lieber Meister Gottfried, während der langen Zeit meines Schweigens keinen Strich über den gewissen Th. St. gemacht; ich werde nun schon öfter einmal etwas von mir hören lassen.

     Zur Zeit sehe ich aus einer geräumigen | Interimswohnung dem Baue meines kleinen Landsitzes zu. Neulich war Richte-Feier, wobei der Meistergesell oben vom Gebälk herab einen prächtigen alten Bauspruch that; hiebei und vorher, als die von vier Jungfrauen überreichte große Blumenkrone unter das Dachgerüst hinauf schwebte, wurde mir altem Narren ganz weich um's Herz, und es überlief mich, daß ich altes gebrechliches, aus so leicht zerstörlichem Faser- und Gewebewerk bestehendes Wesen noch ein so großes steinernes Haus aufrichten lasse, in dem sich ohne Anstand ein Jahrhundert lang wird wohnen lassen. Doch das ist nur ein Ueberflug, für gewöhnlich freue ich mich der schönen weiten Räume mit weiter Schau in's Land hinein, worin ich noch manchen lieben Gast, und vor Allen auch den grünen Heinrich, d. h. dessen Verfasser, insoweit er es nicht selber ist, eines guten Sommertages zu empfangen hoffe. Am Abend jenes Tages gab | ich ein großes Richtebier; ich setzte mich zwischen meinen beiden Meistern, dem Mauerer und dem Zimmermeister, hielt eine schöne Erwiderung an Meister und Gesellen, und war meiner schleswigholsteinischen Leute, unter denen ich mich bei solcher Gelegenheit immer wohl befinde, herzlich froh. Unsre Frauen und Töchter waren nicht zurückgeblieben und machten ihren Ehrentanz mit den wackern Handwerksleuten.

     Im Uebrigen gebe ich meinen jüngsten Töchtern einige Stunden, wobei ich selber etwas klüger werde, schreibe Petersen zu Gefallen, der das Tragische nicht leiden kann, eine kleine freundliche Geschichte, die wohl nächstens in der "Rundschau" zu Tage kommen wird, und wüthe, oft im ganzen Familienschwarm, in meinem fast zu großen Garten mit Hacke u. Gießkanne gegen Unkraut und Dürre, von welcher Beschäftigung ich nicht wieder zu Staatsgeschäften gerufen zu werden hoffe.

     Zum Herbst d. h. etwa 20 oder 24 August | gedenke ich meine lang projectirte Reise nach Berlin auszuführen, um die vielen Beziehungen dort persönlich wieder aufzufrischen; erst denke ich etwa 8 Tage bei unserem gemeinschaftlichen Bekannten L. Pietsch zu bleiben, dessen Wohnung jetzt eine wahre Schatzkammer an Kunstgegenständen sein soll; dann bei einem Freunde in anderen Kreisen. Können Sie - ich denke etwa 3 Wochen dort zu sein - nicht auch dahin kommen?

     Anbei denn endlich auch die letzten drei Novellen in anständiger Buchform.

     Und nun lassen Sie auch mich von Ihnen etwas hören; das Endchen Leben wird ja immer knapper. Wie weit ist der Novellencyclus quaest.? Kommt er in der Rundschau zu Tage und bald? Lassen Sie mich nicht warten, lieber Freund! Von Heyse habe ich auch mea culpa seit lange keine Nachricht; doch schrieb ich auch ihm dieser Tage.

     - Neben mir sitzt jetzt mein kritisches alter ego, der junge Assessor und liest das MS. meiner "Söhne des Senators"; macht auch bis jetzt ein ganz fröhliches Gesicht dazu - Also, liebster Freund, wir bleiben die Alten u. Sie kommen zum Herbst nach Berlin! Empfehlung an Ihre verehrte Schwester!

Der Assessor bittet einen Gruß von ihm anzunehmen.

                                                Ihr ThStorm |

     Ich soll Ihnen von meinem Assessor noch einen speciellen Dank sagen; an seinem Geburtstage, Ende Januar, wo er mitten in seinen Examensarbeiten in Kiel saß, hat er zu stiller Feyer sich Ihre Leute v. Seldwyla geholt und ist den ganzen Tag bei Ihnen zu Gast gewesen, wobei er sich aufs Köstlichste bewirthet gefunden hat.

     


 

13. 6. 1880  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.09; Storm/Keller, S. 58>

Zürich 13 Juni 1880.

Liebster Freund! Schönen Dank für Ihren Brief und die schöne Gabe, die ich vergnügt neben die übrigen Stormssöhne stelle. Eigentlich war ich Ihnen einen Brief schuldig; denn Sie haben mir zuletzt eine Correspondenzkarte geschickt. Um so liebenswürdiger ist es, wenn Sie nicht so genau nachrechnen.

     Ich wünsche Ihnen Glück zu allem Guten, was Sie erleben: Hausbau, Richtemahl, Freiheit der Muße, Selbständigkeit des Sohnes, für dessen freundliche Gesinnung ich dem Herrn Assessor wiedergrüßend danke. Möge er ein glücks- und ehrgesegneter Magistratsherr werden!

     Wenn Petersen Sie zu einer heiteren Novelle veranlaßt hat, so sei er dafür gelobt; denn Ihre heiteren Geschichten sind eben so anmuthig vollendet wie die melancholischen, und das ist ja der Spaß in der Sache.

     Meine Novellen sollen im Oktober in der Rundschau anfangen, weshalb ich auch schwerlich im August nach Berlin kommen | werde, so verlockend es wäre, mit Ihnen dort zusammenzutreffen. Ob ich Ihren L. Pietsch kenne, weiß ich nicht recht. Vor 25 Jahren habe ich einen Maler Pietsch im Hause des Franz Dunker gesehen, aber ich bin nicht gewiß, ob es mit dem seither renommirt gewordenen Zeichner u Schriftsteller die gleiche Person ist, scheint es aber nun doch zu sein.

 Mein Schicksalsbuch rückt endlich doch seinem Abschluß entgegen; der 4t. Band ist im Druck, mit den Correkturen freilich noch der definitive Schluß in meiner Hand. Nachdem der abnorme Winter vorbei und kein Grund mehr da war, nicht an dem Zeug zu arbeiten, befiel mich erst wieder eine krankhafte Widerwilligkeit und Scheu, in dem übel angelegten Wesen fortzufahren. Die Arbeit war nicht sowohl schwer, als trübselig, mit offenen Augen an dem Unbedacht und der nicht zu verbessernden Unform eines längst entschwundenen Lebensalters herumbasteln zu müssen, anstatt sich dem Neuen zuzuwenden. Der bloße Gebrauch von Blaustift und Scheere wäre das Einfachste und Glücklichste gewesen; allein es wird ja gar nichts Fragmentarisches mehr gelitten und selbst gegen das verzögerte Erscheinen eines Schlusses erfährt | man das roheste materielle Raisonnieren und Drängeln von Seite derer, die den Anfang mit ihrer Aufmerksamkeit beehrt haben. Das war vor 100 Jahren doch anders. Ein Goethe durfte den Wilh. Meister liegen lassen, ein Schiller den Geisterseher ganz abbrechen, ohne so geplagt zu werden, und man vergnügte sich an dem, was da war. Ich weiß freilich, daß man sich nicht mit den Beiden vergleichen soll; allein sie waren ja noch nicht die unnahbaren Heroen, die sie jetzt sind.

     Doch ist es undankbar, daß ich Sie in Ihrem Gartenleben bei Harke u Gießkanne jetzt mit schlechten Literatenlaunen belästige. Es geht mir sonst gut und ich lasse mir an der Gesundheit nichts abgehen.

     Petersen hat sich bis jetzt nicht sehen lassen, ist also wohl zu Hause geblieben. Nächstens werde ich ihm auch schreiben. Da ich doch noch die See sehen sollte und von jeher ein Gelüste nach der Nord- u Ostsee, besonders wo die Ufer bewaldet sind, empfand, so ist es allerdings nicht unmöglich, daß ich einmal bei Euch Beiden auf einen Tag vorbeispringe. Indessen will ich mich nicht mit unbestimmten Projekten beladen. |

     Heute war der junge Dr. Töniges (so glaub' ich nannte er sich) bei mir und brachte mir Ihren Gruß. Er kam bei kühlem Regenwetter, hoffentlich wird's morgen besser.

     Ich will Ihnen doch dieser Tage die drei erschienenen Bände des Grünen Hch. schicken, da der vierte bald kommt, ohne daß ich Sie damit im Unterrichten Ihrer Töchter stören will, dem ich besten Erfolg wünsche. Die eigentliche Neuschreibung beginnt mit dem 9t. Kapitel des 3t. Bandes, S. 120, sofern Sie etwa doch hineinsehen wollen.

     Heute steht in der Zeitung, in Berlin gehe das Gerücht von Bismarks Demission. Für die auswärtigen Freunde und ideellen Anhänger des Reiches fängt es doch an beunruhigend zu werden, daß die Dinge sich nicht schicken zu wollen scheinen und keine durchschlagende Geistes- u Gemüthseinigkeit aufkommt, zumal bei dem albernen Wesen, dem die Hauptstadt zu verfallen scheint. Dazu die fortglimmende Commüne in Frankreich u. s. w., so daß mich zuweilen die trübe Befürchtung ankommt, unser Beider Dichten und Trachten könnte des gehofften sonnigen Nachsommers verlustig gehen. Doch sind das egoistische Schrullen, die Dinge müssen durch- und ausgelebt werden! |

     Meine Schwester bedankt sich höflich für Ihren freundlichen Gruß. Meinerseits bitte ich, mich den weiblichen Genien Ihres Hauses und Gartenlandes empfehlend weiß anstreichen zu wollen und sammt wohldenselben frisch und munter zu bleiben.

                                                Ihr getreuer
                                                Gottfr. Keller

     


 

1. 11. 1880  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.10; Storm/Keller, S. 61>

Zürich 1 Nov.1880.

Lieber Freund u Tempesta!
 
Ich muß doch die vier Bändchen endlich abschicken, ehe sie zu altbacken werden, was zum 2t Male sich nicht reizend ausnimmt.

     Wie haben Sie in Berlin und seither zu Hause gelebt? Gewiß vergnügt und gesund u hoffentlich ist Ihr Tusculum auch für Herbst u Winter gut d. h. mit den entsprechenden Reflexfähigkeiten versehen. Mit den Söhnen des Senators habe ich mich vergnüglich wieder einige Stunden in Haus u Garten der bekannten Biederstadt Husum aufgehalten und zu meiner Zufriedenheit von Neuem gesehen, wie Sie an Straffheit und Kraft der Composition u Darstellung eher zu- als abnehmen. Immer empfinde ich das Gelüste, einmal in solcher Weise etwa eine einbändige längere Geschichte von Ihnen zu lesen, freilich nur | aus dem materiellen Grunde, länger dabei sein zu können. Denn sonst sind dergleichen Wünsche thöricht und unberechtigt.

     In meinem monotonen Roman werden Sie sehen, daß ich die Judith noch etwas jünger gemacht, als Sie mir gerathen haben, um die Resignation, die schließlich gepredigt wird, auch noch ein bischen der Mühe werth erscheinen zu lassen. Von den neuen Novellen habe ich schon ein Stück Manuskript an Rodenberg gesendet. Er will im Januar damit anfangen.

     Paul Heyse ist im September u October zweimal einen Abend hier gewesen mit Frau u Kind. Er war ziemlich gesund u munter, dagegen klagbar über den schwachen Erfolg seiner dramatischen Thätigkeit. Es ist allerdings nicht recht begreiflich, wie mehrere seiner Gestalten nicht begierig von den Schauspieler-Virtuosen cultivirt werden, was gewiß nur zu ihrem eigenen Vortheile gereichen würde. Allein man kann nicht alle Sterne zwingen. |

     Dann habe ich mich über eine andere Klage gewundert: nämlich daß in Deutschland die lyrische u andere Poesie jetzt wirklich mißachtet und ignorirt sei, Männer geradezu sich schämen, Gedichte zu lesen etc. Ich hielt das für einen Jammer junger u alter Poetaster, angesichts der furchtbaren Dichterhallenwuth, erfahre aber nun, daß Heyse von Zeitschriften schon Dichtungen zurückgewiesen worden oder wenigstens schwierig behandelt worden sind, weil die Verleger in ihrer Schlauheit der "Zeitstimmung" Rechnung trügen.

     Dergleichen Mißstände rühren mich allerdings nicht besonders; mögen die Leute es halten, wie sie wollen. Allein ich begreife, daß ein Mensch wie Heyse, der so viel Freude an glücklicher Produktivität hat, durch so schnöde Theilnahmlosigkeit <sich> verletzt sieht.

     Grüßen Sie mir bestens Ihr junges Volk, was sich davon vorfindet und auch sich selbst in meinem Namen als Ihr dermalen leidlich lebender

                                                G. Keller

     


 

14. 12. 1880  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 29; Storm/Keller, S. 62>

Hademarschen Dienstg, 14 Dezbr 80.

Lieber Freund Keller, vergeltungsunfähig nach Empfang Ihres schönen und gewichtigen Geschenkes stehe ich vor Ihnen da; aber ich danke Ihnen recht herzlich dafür. Ich habe zunächst nun den 3t. Bd v. S. 121 gelesen; ich nahm ihn zur Hand, als ich in mir die Stimmung empfand, in ruhiger Betrachtung mit dem Autor Menschen und Dinge sich vor mir entfalten zu sehen, und da habe ich ohne alle Störung von dem Gelesenen einen recht bedeutenden Eindruck empfangen. In der Darstellung des Künstlertreibens, das von der Aphroditischen und der silbernen Agnes eine so reizende und erwärmende Beleuchtung erhält, haben Sie eine weise u. resolute Beschränkung eintreten lassen. Was sich um den Abschied aus dem Mutterhause herum gruppirt, an Personen und Scenen, finde ich ganz vortrefflich, die Zwiehansche Episode nicht ausgeschlossen.

     Ich stimme, so weit ich überhaupt schon eine Meinung haben kann, ganz mit dem verständigen und feinfühligen Mann, der das Buch in dem letzten Rundschau-Heft besprochen hat; in wiefern seine | "leicht zu hebenden Fehler" wirklich vorhanden, werden Sie selbst, nachdem der Finger darauf gelegt worden, am besten erkennen; mir fehlt noch die Uebersicht. Die Verjüngung der Judith hat er nicht monirt. Das eine monitum, daß wenn das Buch (von dem Helden des Romans nämlich) zu so verschiedenen Zeiten etc. abgefaßt sei, sich dieß nothwendig in der Darstellung spiegeln müsse - haben Sie, wie mir scheint thatsächlich widerlegt, da Sie, der Autor, ja einen großen Theil des zweiten Theils wirklich in so viel späterer Zeit geschrieben, ohne daß, wie mir scheint, ein erheblicher Unterschied in der Darstellung sich ergäbe.

     Den 4 Bd, der also ganz neue Gestalten zu den früheren enthalten soll, habe ich mir bis nach Neujahr aufgespart. Am liebsten möchte ich dann das ganze Werk in seiner Neugestaltung den Meinen vorlesen, wenn nur meine verbrauchten Nervenstränge nicht so oft ein veto einlegten; denn erst dann würde ich ja eine bestimmte Empfindung darüber erhalten, wie sich der zweite Theil in seiner Neugestaltung | zum ersten fügt. Ich kann nicht sagen, daß ich bei meinem, allerdings längst dahinter liegendem, Lesen des alten Buches die Nothwendigkeit eines tragischen Ausganges empfunden hätte; mir kam viel mehr der Schluß gewaltsam, fast wie durch äußere Umstände herbeigeführt vor. Um zu erfahren, ob meine damalige Empfindung noch heute für mich gilt, muß ich freilich noch einmal von vorne lesen, was ich nicht unterlassen werde, wenn ich hier erst mehr zur Ruhe bin - falls es nicht schon vorher geschähe.

     Daß Sie mitunter widerstrebend in dem alten Reichthum gearbeitet haben, begreife ich übrigens sehr wohl, zumal es sich hier so wesentlich um Zuständliches handelt, was - nach meiner Erfahrung wenigstens - in der Darstellung, besonders in der Anordnung, unbequemer zu bewältigen ist, als wo es sich um eine schneidig durchgehende Handlung handelt.

     Aber ich nehme für heute von Ihnen Abschied; trotz des draußen fegenden Schneesturms | muß ich erst noch einmal (es ist 9 U. Morgens) nach meinem 10 Min. entfernten Hause, wo jetzt die Oefen gesetzt werden, und dann, so Gott will, fast 2 Stunden Eisenbahn mit meiner Frau Do zu einer Mittagsgesellschaft nach Neumünster im Hause ihres Bruders, der eine ganz eigen peremtorische Art hat, seine Nächsten, und wenn sie auch noch so entfernt sind, zu seinen übrigens solemnen Tafelfesten einzuladen. - Und siehe da, während ich dieß schreibe, fällt ein Sonnenschein vom Himmel.

23 Dezbr. Schon wieder ein groß Stück Leben fort seit jenen letzten Worten und dem gemüthlichen Feste, wo der Schwager liebe Verwandte von Ost und West zusammen gebracht hatte. Ich bin in den letzten Tagen ganz Weihnachtsmann gewesen, zweimal ist der Kinderwagen - wir besitzen noch einen solchen, obgleich die Dodo schon 12 Jahre zählt - mit Paqueten zu der Poststation gefahren; in dem einen befanden sich Ihre Züricher Novellen, die ich, damit er poetisch-episch, lyrisch u. dramatisch zugleich angefaßt werde, nebst Scheffels Fr. Aventiure u. unseres Hebbels Nibelungen meinem jüngsten Bruder Aemil, dem Husumer | Doctor med., zu Weihnachten bescheere. Heute Mittag kommt Ihr Verehrer, mein Jurist Ernst, mit seiner Braut: "Lieber Vater", schrieb er mir vor einigen Wochen, "ich habe mich mit einem ganz armen 17jährigen blonden kleinen Mädchen verlobt", und ich antwortete ihm "Du schlägst nicht aus der Art, mein Junge; sei sie herzlich uns willkommen!" Und so kommen sie denn. Uebrigens höre ich von dieser kleinen Blonden, sie sei heiter, gut und klug; das sind die besten Gaben die eine Frau dem Manne mitbringen kann, gar nun meinem tüchtigen, aber etwas hypochondren Zweitgeborenen. Heut Abend kommt denn auch mein Musicus, der uns den Douglas und "Herr Heinrich sitzt am Vogelheerd" vorsingen soll. Da nun sich in meinem brüderlichen Hause hier sieben Kinder, 2 Töchter u. 5 Söhne, bis auf einen sämmtlich große Gesellen zum Fest versammeln, so mögen Sie sich, liebster Freund, den Weihnachtstrubel vorstellen, dem ich und meine Frau Do zwar freudig, aber doch mit einer gewissen Sorge in pcto unser alten Köpfe und sonstigen mit feinen Nerven gesegneten Glieder entgegensehen. |

     Wär's nur in dem neuen geräumigen Hause, aber das kommt ja erst zum Mai in Gebrauch. Ihrer fürsorglichen Frage in Betreff der Wintertauglichkeit meines "Tuskulum" Rechnung tragend, bemerke ich, daß die Mauern, an sich tüchtig, an den beiden Wetterseiten (West u. Süd) mit Schiefer völlig bedeckt, und die 9 Zimmer sämmtlich mit je einem tüchtigen Ofen versehen sind. Es ist völlig trocken in die Höhe gekommen, und nach Osten theilweise durch eine große Veranda, nach Westen durch Hof und Hintergebäude gedeckt, so ist es sogar ein besonders warmes Haus. Darauf habe ich schon geachtet, ich baute es ja für einen alten Mann. Sollten Sie also zum Winter, d. h. 1881/82 wieder in Zürich frieren, so kommen Sie nur zu uns; Sie sollen warm Quartier haben. Lieber aber noch kommen Sie in schöner Sommerzeit; kommen Sie im nächsten Sommer, es sind ja Zwei in Schleswig-Holstein, denen Sie durch Ihr Kommen eine herzliche Freude machen würden. Von jenem Zweiten, unserm P., der in pto Weihnachten ebenso ein Kindskopf ist, wie ich, erhalte ich in der letzten | Woche fast täglich Brief, Karte oder Sendung; dann eine Paganini-Carricatur, Gedichte seiner Kinder, die der Onkel Storm lesen sollte, und die ich nach Kräften erwidert habe, dann Zuckerpuppen für den Tannenbaum, wie sie in unserer Jugend waren und wie er endlich heuer ein Paar erwischt hat, Goldfäden zum Bespinnen des Baumes, eben wieder ein Paquet, wobei er guten Appetit wünscht, das aber bis morgen uneröffnet bleiben soll. Draußen im Flur steht schon eine prächtige Tanne, ihres Festschmuckes harrend, an dem heut Abend die ganze Familie arbeiten wird; zuletzt steckt dann mein Jurist den von ihm erfundenen, von Petersen jedesmal bewunderten, "Märchenzweig" hinein, d. h. einen ganz vergoldeten Zweig der Lerchentanne, der sich in dem dunkeln Grün geheimnißvoll genug ausnimmt. Nun will ich noch eine Karte an Westermann schreiben, dß er Ihnen mein Hausbuch - Sie besitzen es ja noch nicht - sende; und dann lege ich die Feder nieder und arbeite mit am Weihnachtsbaum. - -

     Von unserm Heyse hatte ich einen langen Brief aus Paris, auch mit der Dramen-Klage. Ich glaube, daß die feinen Züge in Hs's Dramen, die im Lesen wirksam sind, schon durch den rein äußerlichen Spectakel einer Aufführung verloren gehen; und doch - ich begreife es auch kaum. Die "Elfriede"; mein Ernst, der neulich hier vorflog, erzählte mir, dß er sie in seinem Tondern vorgelesen und daß nach Beendigung eine so lange Stille gewesen, als habe man sich von dem Eindruck der Dichtung gar nicht wieder befreien könne. Von den letzten Novellen las ich "Die Hexe v. Corso" und "Die Rache der Vitzgräfin"; das strömt ja nur wieder so, unverkennbar aus größerer Fülle, als bei den vorhergehenden. Bei der "Hexe" bleibt trotz der trefflichen Arbeit aber doch ein unbequemer Bodensatz, und in dem andern Stück wird der Conflict auch wiederum mit den Geschlechtsorganen - ich bitte Heyse übrigens für diesen cynischen Ausdruck um Verzeihung - ausgefochten. Ich habe oft genug darüber gegen ihn plaidirt; aber er kann nicht los davon. Nun, mich stört es nicht, wenn er nur nicht, wie im "Paradies" alle Wände einschlagen und alle berechtigten Formen zerbrechen will; aber ihm schadet es und das thut mir leid, denn ich hab ihn lieb.

     Die Grüße an das junge Volk sind bestellt, und sie hören sie immer gern. Zu Neujahr kommen denn in der "Rundschau" Ihre neuen Novellen. Möge Ihnen noch manches Jahr so mit einem Zeichen neuen Schaffens beginnen, und möge auch mir noch eine kleine Reihe vergönnt sein, um Ihrer freundlichen Theilnahme und der der andren Freunde noch eine Weile froh zu werden.

     Und dann einen herzlichen Gruß Ihrer getreuen Schwester, in deren fürsorglicher, wenn auch etwas strenger Obhut ich Sie so gern gesichert weiß.

     Frau Do und meine Jugend grüßen mit!
                                                Ihr alter Th.Storm

Neulich begegnete ich Ihnen in einem viele Pfunde schweren Album, das jener Leipziger Secundaner die Unverfrorenheit hat umherzuschicken; ich schrieb mich dicht hinter Ihnen ein, das war mir wie ein stiller Gruß. Heyse fand ich nicht - ob er's dem Jungen abgeschlagen? Dagegen strahlte Jordan in seiner ganzen Pfauen-Herrlichkeit.

     


 

11. 4. 1881  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.11; Storm/Keller, S. 65>

Zürich 11 April 1881

Mein lieber geehrter Freund und alter Landvogt! Es berührt mich ein wenig kurios, Ihren reichen und guten Brief, den Sie mitten in den Freuden der Weihnachtszeit geschrieben, erst jetzt, da die Bäume ausschlagen, zu beantworten. Doch will ich mich nicht lang entschuldigen, Sie kennen ja das Leben! - Vor Allem danke ich Ihnen für das Hausbuch, das ich mir längst bestellen wollte und nun zu so guter Zeit erhielt. Ich habe es gleich zum großen Theile durchgelesen, Bekanntes und was mir noch neu war, und nehme es öfter in die Hand; denn es ist richtig, der Geist des Ordners, der in einem solchen Buche haust, erweckt Stimmung und macht Einem manches Alte neu. Daß J. G. Fischer im Register aber nicht im Texte erscheint, werden Sie wol wissen.

     Um die nämliche Zeit passirte mir ein tragikomisches Malheur. Ich hasse nämlich das Herausgeben von Anthologien, zusammengebettelten Jahrbüchern und Almanachen durch ganz junge Leute, welche mit einigen schlechten Versen debütirt haben und sich nun mit diesem Mittel nachhelfen und in den Mund der Leute bringen wollen | Solche Knaben, an einem gewissen Vormittage noch keiner Seele bekannt, treten am Nachmittage in Folge des Staubes, den sie mit Briefe wechseln und allen möglichen Zudringlichkeiten aufzuwerfen verstehen, bereits als eine Art von Führern auf und werden von andern Hohlköpfen noch am gleichen Abend schon citirt. Es ist lächerlich, sich an dergleichen zu ärgern, so lange es Einen nichts angeht; wenn man aber damit geplagt wird, thut man's doch. So hatte ein junger Mensch Namens Avenarius mich in Zürich schon mit einem Bändchen ziemlich werthloser Gedichte maltraitirt und durchaus ein Anerkennungszeugniß auspressen wollen. Zuletzt begnügte er sich, Schritt für Schritt, mit der mündlichen Aeußerung, daß einige der Gedichte doch nicht so übel seien, und indem er diese abgerungenen Worte, deren Sinn ein Mensch von literarischer Ehre wohl verstanden und empfunden hätte, feierlich constatirte, notirte er sich meine Anerkennung zum ewigen Vorhalt. Ein par Monate später verlangt das Luder schon meine Mitwirkung für eine Anthologie, die er herausgebe. Ich sollte ihm meine verschollenen Gedichtbändchen schicken und eine Auswahl darin selbst bezeichnen u. s w. Ich ersuchte ihn, von meinen lyrischen Sünden für jetzt Umgang | zu nehmen, da ich in der Redaktion und Zusammenstellung einer Sammlung begriffen und alles sich im Umguß befinde. Ich könne mithin in diesem Augenblicke nicht noch unkorrigirte schlechte Lesarten verzapfen. Zur Erledigung hätte ich aber keine Zeit. Nun drohte er mit einer Anzeige d. h. Denunciation in der Vorrede seines anthologischen Werkes und wies darauf hin, daß sich die Ersten und Besten nicht entzogen haben, daß ein Theodor Storm ihm mit Rath und That freundlich an die Hand gehe, kurz es war kein Loskommen u ich überließ der Bestie, sich aus den Sachen, die in letzter Zeit in der Rundschau standen, etwas auszusuchen. Im Unmuthe schrieb ich ihm, es werde bei dem fortgesetzten Ueberwuchern dieses unberufenen Anthologien-Wesens eine Zeit kommen, wo dasselbe ähnlich beurtheilt werde, wie früher der Nachdruck, wenn auch nicht im rechtlichen Sinne, so doch im moralischen etc.

     Sie wissen also, wie's gemeint ist, liebster Freund, wenn der Mann mich bei Ihnen etwa mit dieser Aeußerung verzeigt haben sollte, wie er erst vorhatte, mich in der Vorrede zu verzeigen.

     Auf Ihre Weihnachten zurückzukommen, so schreibt oder schrieb mir auch Petersen von dem goldenen Lärchenzweig, der Erfindung | Ihres Sohnes, wovon ich schon früher gehört. Nun weiß ich aber noch immer nicht, wie er das Wunder herstellt, ohne daß die Zierlichkeit des Nadelwerkes zu Grunde geht? Wird der Zweig auf galvano-plastischem Wege vergoldet, oder in eine Flüssigkeit getaucht, die z. B. Gummi arabicum enthält, und nachher mit Goldpulver bestreut, wie es die Maler brauchen? etc? Das Technische ist mir in der Vorstellung von der Wirkung des Zweiges eine Hauptsache; doch stört es mir den Schlaf nicht, da ich selbst leider keine Christbäume zu besorgen habe.

     Jetzt werden Sie wohl in Ihrem neuen Hause sitzen, das so warm und solid eingerichtet zu wissen mir eine Freude ist, obgleich ich es kaum sehen werde. Ich bin in neuster Zeit in die Laune gerathen im Lande zu bleiben und die näher liegenden Naturwinkel, die ich noch nie gesehen, aufzusuchen. Am liebsten bliebe ich zuweilen Wochen lang im Hause, wenn ich nicht der Bewegung wegen ausgehen müßte.

     Ihre tröstlichen Bemerkungen zu dem Grün. Hch. waren mir aufhellend und vergnüglich, besonders was die neuen Zuthaten betraf. Ich hatte ein böses Gewissen. Namentlich wegen des Zwiehan's u seines Schädels, dieser etwas gar zu deutlichen Allegorie und Prototypik für einen Verlierer seines Wesens oder seiner Person, | hätte ich Strafe verdient; indessen habe ich die feine Andeutung, welche in Ihrem "die Zwiehan'sche Episode nicht ausgeschlossen" liegt, wohl verstanden. Der Kritiker in der Rundschau hat mir gerade nicht zugesagt. Derselbe (Otto Brahm) hat an anderer Stelle die philolog. Methode noch verkehrter angewendet, indem er die alte und die neue Ausgabe meines Buches mit A u B bezeichnete wie alte zu vergleichende Codices, um meine Selbst-Verballhornung nachzuweisen, während er die Hauptfrage der Form: Biographie oder nicht? gar nicht berührte oder dieselbe ignorirte. Diese Frage umfaßt nämlich auch die andern nicht stilgerechten epischen Formen: Briefform, Tagebuchform und die Vermischungen derselben, in welchen nicht der objektive Dichter und Erzähler spricht, sondern dessen Figurenkram, und zwar mittelst Dinte und Feder. Hier ist der Punkt, wo die Kritik einzuspringen hat und der Schreiber den formalen Handel verliert. Diese Untersuchung ist aber nicht eine (dazu unrichtige) textkritliche, sondern eine rein ästhetische Sache und Arbeit und führt zu andern Gesichtspunkten etc.

     Sie werden die kleine Erzählungsreihe in der Rundschau bemerkt haben und ohne | Zweifel Einiges darunter wiederum als nach Lalenburg heimatgenössig erkennen; allein ich kann nicht helfen, diese Dinge sind es gerade, die mich Narren erheitern und erleichtern und ich muß noch einmal auf einen technischen Ausdruck zu ihrer Bezeichnung denken.

     Doch was wollen wir uns mit unserer geschriebenen Welt so mausig machen, wo das Leben so hübsche Episoden bringt, wie die Verlobungsanzeige des Juristen Ernst und die Antwort des Vaters, des alten Dichters. Sie hätten mir die Nachricht nicht mit schöneren und einfacheren Worten mittheilen können, und so sende ich Ihnen und dem Sohne die aufrichtigsten Glücks- und Heilswünsche zu!

     Eine andere schöne Poetengeschichte habe ich neulich beobachtet, nicht selbst gethan. Ein halb verrückter und verhungerter Schulmeister in Oberbayern schickte mir ein kleines geschriebenes Heft Gedichte mit den bekannten Petita und dem Gesuch um schleunige Beschaffung von 200 Mark. Zur größeren Aufmunterung legte er Briefe und postamtliche Beweisstücke bei, wonach Em. Geibel | vor einem Jahre auch 200 M. spendirt hat. Da ich schon einen Fall kannte, wo Geibel auf eine indiskrete Bettelei hin für einen seither verstorbenen Poeten auch gleich Hunderte gesandt hatte, so ersah ich, daß derselbe Mann seine Stellung als Primus in wahrhaft ritterlicher Weise ehrt, und das in aller Stille, und vor einer derartigen Vornehmthuerei habe ich die größte Hochachtung. Mein Schulmeister aber bekommt von mir nicht 200 Mark, gerade weil er mit dem Geibel'schen Geschenke weiter betteln geht und zwar nicht auf die bescheidenste Weise.

     Das kolossale Album des Leipziger Sekundaners hat Sie also auch heimgesucht. Ich bin auf dem Punkte gewesen, dasselbe unbeschrieben oder mit einer Grobheit versehen zurückzuschicken. Denn diese Sache fängt an unheimlich zu werden mit dem Schülerpack, wenn man Pakete machen, verschnüren, versiegeln und mit den nöthigen Deklarationen versehen soll!

     Von Paul Heyse habe ich nach Neujahr auch einen Brief gehabt, den ich bis jetzt habe liegen | lassen, weshalb ich nicht viel von ihm weiß, als daß er rastlos thätig ist. Von seinen neueren Novellen kenne ich nur noch zwei, die Hexe und die Sängerin von ich weiß nicht mehr. Bei Jener hätte allerdings das Metier, von welchem die schöne Gestalt zu leben scheint, entweder vermieden oder dann deutlicher verarbeitet werden sollen. So erscheint es als etwas, das nicht der Rede werth sei. Uebrigens hatte Heyse damals schon wieder ein oder zwei Dramen fertig, z. B. einen sterbenden Alkibiades.

     Von Ihnen habe ich etwas angekündigt gesehen und freue mich darauf, die ersten Früchte Ihres neuen Gartenlandes zu kosten. Herzlich danke ich für den freundlichen Gruß an meine Schwester, die aus einem enger werdenden Halse immer schwieriger zu schnaufen hat. Ich muß deshalb die schöne Höhe, auf welcher wir seit 6 Jahren wohnen, bis zum Herbste verlassen und eine andere Wohnung suchen. Empfehlen Sie mich bei Gemahlin und Kindern auf's Neue und lassen Sie mich mein Schweigen nicht zu lange entgelten, ohne sich aber Zwang anzuthun.

                                                Ihr Gottfr Keller.

     


 

30. 4. 1881  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 30; Storm/Keller, S. 69>

Hademarschen, Haus Storm,
am letzten April 1881.

Mit diesem Briefe, lieber Freund Gottfried, setze ich zum ersten Mal in meinem eigenen neuen Heim die Feder an. Ich allein bin nur noch eingezogen und sitze nun endlich wieder, umgeben von allen meinen Büchern und zu mir gehörigen Kram in alter Behaglichkeit. Mein Zimmer liegt oben in der Nord-Ost-Ecke; es würde sehr hell sein; aber matt-resedagrüne Tapeten und schwere Jute-Vorhänge geben dem Ganzen ein behaglich gedämpftes Licht. Nach Norden nur ein schmales Fenster - ich wollte die schöne Fernsicht auf den vorstoßenden Wald im Mittelgrunde und weiterhin auf das, im Spätherbst oft prächtig überschwemmte, Thal der Giselau nicht missen; ich sitze, auf den Knieen schreibend, "Bein gedeckt mit Beine", an einem der Ostfenster und, wenn ich aufblicke, schaue ich in die mit weichen Nebeln überdeckte Frühlingsferne. Ich bekenne, mir ist in diesem Augenblick recht wohl zu Sinne. Um drei oder vier Tage werde ich wohl auch das Leben der Fa-  |

8. Mai, Sonntag-Morgen.

"milie um mich haben", wollte ich schreiben, da erfaßte mich der Umzugstrubel und riß mich fort; jetzt aber sitze ich wieder, wie vor acht Tagen.

     Um nun zunächst den jugendlichen Avenarius abzuthun, so schrieb ich ihm auf Zusendg seiner Gedichte, daß ich eines und die Hälfte von einem andern nicht übel fände, dß das Andre aber dummes Zeug sei, was er dankend einzusehen schien. Dann kam er mit seiner Anthologie; "ich warnt' ihn; doch er blieb dabei, dß er die Straße kenne"; dann schickte er mir, dreimal etwa, abgeschriebene und gedruckte Gedichte Anderer; mit der Bitte um Rath, was aufzunehmen, besonders auch von 2 Brüdern Hart, und ich mußte ihm nach bester Ueberzeugung antworten, dß das unreifes, wüstes Zeug sei, oft dunkel empfundnes großes Wollen, kleines Können; der junge Anthologist wollte mit seiner Anthologie offenbar auch was Rechtes; aber er hatte kein Urtheil, was ja überhaupt, besonders im Punkt der Lyrik, so unglaublich selten sich findet; das Ohr für den Naturlaut fehlt. Als Ihr Brief | ankam, lag eine vor 2 Stunden geschriebene Karte an A. auf meinem Tisch, worin ich ihm ad 1 anempfahl, seine Anthologie noch ½ Dutzend Jahre in den Schubkasten zu legen; ad 2 mir aufs Ernstlichste verbat, meiner in der Vorrede auch nur mit einer Andeutung zu erwähnen. Seitdem hat der junge Gesell nicht mehr geschrieben. Uebrigens sind seine Gedichte, auch in der Rundschau - der das nicht geschenkt sein soll - gelobt; die Sachen der Gebr. Hart, glaub' ich, werden in den Himmel erhoben, statt dß man diesen jungen Knaben, wenn auch mit aller Liebe, die Ruthe auf den bloßen Steiß geben sollte.

     Dieser Tage wurde ich von der Wiener Studentenschaft, oder einem Theil derselben um 1 Exl. meiner opera omnia für ihre Bibliothek gebeten; wahrscheinlich werden Sie dieselbe Bitte erhalten haben; dem muß man ja wohl Folge geben; Heyse hatte auch schon geleistet.

     Nun noch den von meinem Juristen Ernst erfundenen "Märchenzweig" anlangend - er wird im Winter, also blätter- oder nadellos von der Lärche gebrochen, so daß er jedoch möglichst viel Nebenzweiglein u. | [und] Zapfen (Tannäpfel) hat, ungefähr von der Länge der Tannenzweige, worin man ihn hineinstecken will, und dann, was einigermaaßen mühsam, ganz mit Schaumgold überzogen. Der goldne Zweig im dunkeln Tannengrün macht eine ganz geheimnißvolle Wirkung; die kleinen Knötchen, womit die Lärchenzweige überzogen sind, erhöhen dieselbe. Ich gebe Ihnen zur besseren Dauer dieß schriftliche Recept, obgleich unser dessen ja auch kundiger Petersen in diesen Tagen seinen großen Zug nach Süden angetreten hat und auch bei Ihnen vor Anker gehen wird, alswann ich ihn zu grüßen bitte. - Leid thut es mir fast, daß Sie meinen jungen Freund Dr. Tönnies nicht etwas näher haben kennen lernen, nächst, seiner Zeit, Theodor Mommsen ist er der bedeutendste junge Mann, den ich in meinem Leben gefunden habe, und dabei ein Junge, ich weiß nicht, ob "nach dem Herzen Gottes", aber jedenfalls nach dem meinen; der intimus meines Juristen und voll treuer Liebe für mich; ist auch von Kiel aus, wo er den Winter dociren wird, auch schon hier gewesen. Doch das nebenbei. -

     Den 4 Thl Ihres "Grünen" habe ich seit meinem letzten Briefe auch gelesen und ohne | das Gefühl auch nur einer einzigen Länge; Sie haben - so viel sehe ich - resolut beschnitten, und dafür diese entzückende kleine Wienerin hineingebracht, die, wie Erich Schmidt - oder wer sonst - so hübsch sagt, "auf Liebe und Arbeit schwört". Ich habe Alles mit dem tiefsten Behagen gelesen; das Allegorische in der Schädelgeschichte hat mich nicht gestört; die Anschauung des thatsächlich Gegebenen ist so kräftig, daß, wenigstens ich, das Allegorische darin beim Lesen nicht als etwas Beabsichtigtes, sondern als etwas aus dem Thatsächlichen beiher sich von selbst Ergebendes empfunden habe. (Mir selbst ist dgl. oft in die Feder gelaufen; von dem "Scharmuziren mit den Schatten" in "Im Sonnenschein" u. der weißen Wasserlilie in "Immensee" ist es noch durch manches Andre weiter zu verfolgen).

     In dem "Rundschau-Aufsatz" hat mir das über Sie im Allgemeinen Ausgesprochene so wohl gefallen; über die Kritik des Grünen in specie, da ich die alte Ausgabe vor 25 Jahren und beim Schreiben meines Briefes von der neuen nur Bd III v. S. 120 an gelesen hatte, konnte ich kein Urtheil haben. Ich muß erst die ersten Theile der letzteren lesen, um Ihre Bemerkung, | ob Biographie oder nicht? übersehen zu können, was hoffentlich im Lauf des Sommers geschieht. Nur Eines möcht' ich bemerken, ohne zu wissen, ob darin etwas von einer Antwort auf Ihre Frage liegt: der Entwicklungsgang des Helden ist ein so individueller, daß die biographische Form nahe zu liegen scheint.

     Das Kurze u. Lange der Sache bleibt aber jedenfalls, daß das letzte Drittel Ihres guten Buches doch erst durch die Umarbeitung was Rechtes geworden ist.

Sonntag, 15 Mai: "Und so fließen unsre Tage!" Mittlerweile erhielt ich eine Karte v. Petersen aus Zürich, und darin, dß Sie seit Ihrer letzten Begegnung um 5 Jahre jünger geworden seien. Sollte mich auch wundern, wenn's nicht so wäre. Dieser rosig frische Cyklus der neuen Novellen, wer das schreibt, der muß zu der Quantität Jugend, die ihm dazu eigen sein muß, dadurch noch ein gut Theil hinzugewinnen. Sie sollen dafür hoch gepriesen und bedankt sein. Damit Sie nun sehen, wie sehr mir das von Herzen kommt, so sollen Sie auch Ihre richtig vorgeahnten, u. daher wohl gerechten Schelte bekommen, und zwar ohne alle Umschweife. Wie zum Teufel, Meister Gottfried, | kann ein so zart und schön empfindender Poet uns eine solche Rohheit - ja, halten Sie nur hübsch still! - als etwas Ergötzliches ausmalen, daß ein Mann seiner Geliebten ihren früheren Ehemann nebst Brüdern zur Erhöhung ihrer Festfreude in so scheuslicher, possenhafter Herabgekommenheit vorführt! Hier stehe ich nicht mit dem Hut in der Hand u. sage: "Wartet, der Dichter will erst seinen Spaß machen!" Nein, liebster Freund, das haben Sie nicht wohl bedacht, das muß vor der Buchausgabe heraus. Wissen Sie, was mir hiebei nach Ihren Worten "Diese Dinge sind es grade, die mich Narren erheitern und erleichtern", was mir dabei einfiel? Ich habe Ihren "Gr. H.", da ich zu Ende war, mit recht wehem Herzen fortgelegt, und ich saß noch lange, von dem Gefühl der Vergänglichkeit überschattet. Ihre liebsten Gestalten, der Grüne u. Julie, Landolph und Figura Leu, lassen, wenn die späte Stunde des Glückes endlich da ist, die Arme hängen und stehen sich in schmerzlicher Resignation gegenüber, statt in resoluter Umarmung Vergangenheit u. Gegenwart ans Herz zu schließen. Das sind ganz lyrische, ich möchte sagen: biographische Ausgänge; und da hab' ich mich gefragt: ist das der Punkt, der Spalt, der jene "befreienden" Späße aufwirft? Sie brauchen mir nicht zu antworten; | nur als ein herzlich Wort bitte ich es aufzunehmen, sei es nun klug oder dumm gesprochen. - Im Uebrigen - als ich die ersten Blätter begonnen, erschien mir die Anlage ein wenig künstlich, präparirt; ich sagte mir: das ist auch so im "Lear", und bald fing es denn auch an zu blühen und zu rauschen, besonders von da an, wo er bei der Lucie einreitet; ich habe Alles dann mit ganz glücklich machendem Behagen gelesen. Einige kleine monita sind mir wohl beigefallen, z. B. dieser Gelehrte ist ein außerordentlicher Weiberkenner; z. B. weshalb verhehlt das arme Weib des Bruders Besuch, der Geliebte ist ja in die Verhältnisse eingeweiht? Aber das quält mich weiter nicht; die letzte Novelle geht ja ganz den Schritt der altitalischen Novellistik, u. das paßt trefflich zum Stoff. Wo, zum Teufel, Meister Gottfried, haben Sie all das Zeug hergenommen? Da man bei monatlichen Bissen u. Greisengedächtniß das Ganze nicht so festhalten kann, so übersehe ich jetzt am Schluß nicht, in welch' festem oder losem Zusammenhang das Ganze mit dem "Sinngedicht" steht; wird mir beim Wiederlesen wohl aufgehn.

     Und nun zum Schluß - hat Petersen Ihnen nicht die norddeutsche Reise wieder lieb gemacht? Einmal sollten wir uns doch noch die Hände schütteln.

     Empfehlen Sie mich Ihrer treuen Schwester und trösten Sie sie, nach dem "socios habuisse malorum<"> mit mir, der ich, ich denke durch das Enger-werden der Nase, seit fast 2 Jahren keine Blume, keinen Frühling, keinen Herbst mehr riechen kann. Die Meinigen erwidern bestens Ihren Gruß.

                                                Ihr alter u. getreuer ThStorm

     


 

14. 8. 1881  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 32; Storm/Keller, S. 72>

Hademarschen bei Hanerau, Sonntag Morgen
14 Aug. 81.

Lieber Meister Gottfried!
 
Ich habe eben mit einer alten Besuchsfreundin, der ca 20jährigen Gesellschafterin meiner alten Mutter, über Ihren "Landvogt v. Greifensee" geredet, den ich ihr zu ihrer großen Erbauung zum Lesen gegeben, und das hat mir das Herz erregt, daß ich Ihnen rasch einen Gruß senden muß. Tröstlich fällt dazu eben aus dem Regenhimmel der erste Sonnenschein in meine Kammer. Mich verlangt nach meinem letzten Briefe nach einem Wort von Ihnen; um 8 Tage will Heyse, der seit einigen Tagen schon in einem Bade (Hafkrug) an unserer Ostküste ist, bei mir einkehren; seien Sie gut und lassen Sie mich, und damit auch denn zugleich, ihn mit ein paar Worten erfahren, wie es Ihnen | geht und was Sie treiben. So viel ich mir abstrahiren kann, bereiten Sie eine neue Ges. Ausgabe Ihrer Lyrica vor. Ich, zumal seit dem Frühling ein Freundes- u. Verwandtenbesuch den andern abgelöst hat, und überdieß die Lage meines neuen Heimwesens zum sommerlichen Nichtsthun auffordert, habe seit dem "Etatsrath" nichts schreiben können, mir ist vielmehr, als würde ich es auch niemals wieder können. Diesen "Etatsrath" aber bitte ich Sie nicht zu lesen, bis ich Ihnen die Buchausgabe gegen Weihnachten schicke; ich habe nemlich (unverkennbare Folge der sich einstellenden Altersschwäche) auf Friedr. Westermann's Flehen einige Stellen in usum delphini oder delphinarum verballhornisirt, was erst in der Buchausgabe wieder auf die Beine gestellt wird. Beunruhigend besuchen mich | mitunter theoretische Gedanken über das Wesen der Novelle, wie sie jetzt sich ausgebildet, über das Tragische in Drama u. Epik u. dem etwaigen Unterschiede zwischen beiden, ich schrieb auch eine Vorrede zu den 2 neuen Doppelbänden meiner Ges. Ausgabe, die zu Weihnacht kommen sollen in dieser Richtung und dergl. dummes Zeug, was keinen andern Grund hat, als dß man selbst nichts machen kann. Zu dem Vorwort ward ich durch den frechen Juden Ebers auf gereizt, der (laut Zeitgsbericht) eine "Novelle" herausgegeben, u. sie (die Gattung der Novelle) in einem Vorwort als ein Ding bezeichnet, dß ein Dichter sich nach dem eigentlichen Kunstwerk, dem 3 bändg. Roman, wohl einmal zur Erholung erlauben dürfe. Der Esel! Die "Novelle" ist die strengste u. geschlossenste Form der Prosa-Dichtung, die Schwester des Drama's u. es kommt nur auf den Autor an, darin das Höchste | der Poesie zu leisten. Ob die Eberssche Novelle eine solche Herabsetzung der eignen Gattung bedurfte, weiß ich nicht. Haben Sie sie gelesen? Ich glaube, sie heißt "eine Frage". - Es kann wohl fraglich sein, ob es richtig ist, selbst einmal ein Wort zur Sache zu sprechen, wenn ein von der Menge u. seinen Stammgenossen, den Juden, auf den Thron Gehobner solche Dinge dem Publicum imprägnirt; denn der Schaden dadurch ist ein sehr weit greifender. Aber es spricht etwas dagegen, nicht die Sache durch sich selbst sprechen zu lassen, und so hab ich mein Vorwort - ich sandte es an Heyse u Erich Schmidt -, obgleich Letzterer es freudig begrüßte, in Uebereinstimmung mit Ersterem von dem Druck zurückgezogen.

     Im Hause, wo mich außer der Frau Do vier "blühende Töchter" umgeben, steht Alles wohl. Mit herzlichem Gruß und freundlicher Empfehlung an Ihr treues Geschwister.

                                                Ihr ThStorm

Außer Heyse erwarten wir nun noch meinen Ernst, den jetzigen nordschleswigschen Amtsrichter mit seiner frischen und gescheuten kleinen Braut; dann besuche ich meine Kinder, die Pastorsleute an der Ostküste (Heiligenhafen)

     


 

16. 8. 1881  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.12; Storm/Keller, S. 74; begonnen am 14.8., beendet am 16.8.1881>

Zürich 14 Aug. 81.

Liebster Freund im Hause Storm,
 
auf dieser Sommerhöhe kann ich nicht länger zögern, Ihren reichlichen Brief vom letzten April zu erwidern, obgleich ich immer noch nichts Neues erlebt habe; denn die famose Novität eines Cometenweines ist zwar in Aussicht, aber noch nicht perfekt. - Desto lebhafter denke ich bei der gegenwärtigen Hitze öfter an Sie, wie sie in Ihrem neuen Besitzthum walten und für die jungen Anpflanzungen um genügendes Getränke besorgt sind, auch das nördliche Fenster Ihres Arbeitszimmers dem Luftzuge öffnen. Mit diesem Fenster sammt seinem Ausblick, so wie mit dem ganzen resedagrünen Raume habe ich gleich sympathisirt; philiströse Naturen wollen stets die Sonne in der Stube haben, während es sich so gedankenhell und ruhig weilen läßt, wenn man im klaren Schatten sitzt und der Sonnenschein draußen auf dem Lande liegt.

     Ihr getreulicher Bericht über den anthologischen Hafermann hat mich beruhigt. Als derselbe mir immer unter die Nase rieb, die namhaftesten und besten Dichter hätten ihre eifrige Theilnahme bewiesen, schrieb ich ihm, das sei wol möglich, da eben die Besten bald nichts mehr abzuschlagen vermöchten, als das Wasser. |

     Jene Gebrüder Hart kenne ich wohl, großmäuligen Andenkens; sie geben einen Literaturkalender heraus mit Adreßverzeichnissen, Tabellen für Manuskriptablieferungen, Honorareingänge u. d. gl., um sich in Jedermanns Hand zu bringen. Vor ein par Jahren trieben sie auch das Material zu einem poetischen Jahrbuche zusammen, gaben es aber nicht selbst heraus, sondern überlieferten es einem dritten Unbekannten wie eine Ernte Raps oder ein Quantum Schafwolle. Vor einem Jahre etwa unternahm ein junger Schweizer ohne alle Bekanntschaft ein Jahrbuch schweizerischer Dichter und brachte über hundert! zusammen mit dem Aufruf, es müsse sein, Gott wolle es! Ich schlug ihm meinen Beitrag a priori rund ab, weil ich nicht einsähe, wozu er eine solche Geschichte anzustellen brauche und es in einem so kleinen Lande wohl hundert Esel, aber nicht 100 Dichter gebe. Dennoch log er überall herum, er habe meine Sachen schon in Händen; als einige Vorsichtige mich anfragten und die Wahrheit vernahmen, beharrte er ganz frech auf seiner Behauptung und kam hergereist, um mich auf meinem Zimmer so unverschämt zu belagern, daß ich ihn hinausjagen mußte. - In diesem Augenblicke aber geht das Circular eines Leipziger Buchhändlers herum, der sogar ohne Herausgeber eine Anthologie Lebender direkt selbst sammeln und drucken will, in welcher die "Liebe" ausgeschlossen | sein soll "aus besondern Gründen". Die Wuth der Verleger, Bücher zu drucken, scheint sich zur Leidenschaft zu steigern, es ohne Mitwirkung der Schriftsteller zu thun. Durch das Erlöschen der Schiller-Götheschen Privilegien gegen Nachdruck haben sie Blut geleckt; jedes Jahr hört der dreißigjährige Schutz für den einen oder andern Nachklassiker auf und die Kerls können sich darüber herstürzen; da ist es begreiflich, daß sie anfangen, auch von den noch Lebenden Bücher gratis zusammenzubetteln oder höchstens ein par Compilatoren an's Futter nehmen.

     Hier fällt mir auch der Leipziger Sekundaner ein, der sein Riesenalbum unermüdlich herumsendet u dessen Sie im vorletzten Briefe Erwähnung gethan. Der kann es noch zu was bringen! Mir hatte er zugemuthet, den Kasten noch in der Umgebung von Zürich bei zwei oder drei weitern Personen herumgehen zu lassen. Ich hätte also ebensoviele Male ein- und auspacken und zur Post schicken sollen. Ich ließ ihn ein Vierteljahr warten und schickte ihm seinen Packen mit meiner alleinigen Inschrift unfrankirt zu und ohne Brief. - Wir wollen aber von diesen Klagen weiter Niemand merken lassen; sie kommen mir vor, wie die Dienstbotengespräche alter Kaffébasen und zudem consumire | ich, wie ich merke, unverhältnißmäßig viel Raum damit.

     Der gute Freund Petersen hat mit meiner Verjüngung um fünf Jahre recht geflunkert; ich bin genau um die zwei Jahre älter geworden, die er mich nicht gesehen hatte, ich weiß das am besten, was übrigens nicht in Betracht zu ziehen ist; diese Händel muß man im Stillen für sich selbst abthun.

d. 16 Aug.

Eben als ich fortfahren will, kommt Ihr neuer Brief, der meine Faulheit willkommener Weise beschämt. Ich hatte vor, auch gleich an Heyse zu schreiben, der mir aus seinem Strandexil schrieb, er müsse 5 Wochen dort bleiben. Da sie ihn nun in wenigen Tagen erwarten, bin ich unsicher, ob ich es thun soll, und bitte Sie daher vorläufig, den Dulder recht heftig in meinem Namen zu grüßen. Beschäftigen Sie ihn aber ja nicht mit theoretischen Skrupeln über die Novelle etc., denn er muß auf Befehl der Aerzte alle Morgen und Abend eine halbe Flasche Portwein trinken, um seine Vernunft einzuschläfern. Haben Sie keinen im Hause, so soll Petersen herbeischaffen, der Verjüngungscommissär.

     Die Ebers'sche Novelle habe ich nicht gelesen, weil er sie als Illustration eines Bildes von Alma Tadema gemacht hat, eines Mannes der als Maler genau das ist, was Ebers als Schriftsteller. Es handelt sich also um eines jener Gedichtchen, die zu Almanachbildchen gemacht werden. Das was er zur Herabsetzung der Gattung der Novelle sagt, würde mich nicht | stark rühren; vor ein par Jahren degradierte er ebenso den Roman, indem er von sich aussagen ließ, er schreibe nur Romane, wenn er krank und zu ernster Arbeit unfähig sei. Uebrigens hat sein Judenthum, das mir unbekannt ist, mit der Sache nichts zu schaffen, Herr von Gottschall, ein urgermanischer Christ, hat schon ein Dutzend Mal verkündigt, Roman und Novelle seien untergeordnete, unpoetische Formen u fielen nicht in die Theorie. Da Niemand darauf hörte, fing er zuletzt selbst an und schmiert jedes Jahr seinen Roman. Auch Gustav Freitag, der ja sonst ein anständiger Mann ist, that um die Zeit, wo er seine Ahnen im Schild führte, den Ausspruch, die Zeit der kleinen Erzählung dürfte für immer vorbei sein, nach der schlechten Manier, die Gattung, die man nicht selber pflegt, vor der Welt herunterzusetzen und die augenblickliche eigene Thätigkeit als den einzig wahren Jakob hinzustellen. Hiezu braucht es keine Juden, so wie überhaupt meine Erfahrungen und Beobachtungen dahin gehen, daß ich auf jeden vorlauten und schreienden Juden zwei dergleichen Christen, seien es Franzosen oder Deutsche, Schweizer inbegriffen, rechnen kann.

     Ich glaube auch, daß es besser ist, wenn Sie Ihre Vorrede an der geplanten Stelle weglassen, da die Küchenrezepte nicht zu den Gastgerichten auf die Tafel gehören. Für meine Person habe ich halbwegs vor, dergleichen Aufsätze u Expektorationen, extra zu verfassen und eines Tages für sich herauszugeben, sozusagen als Altersarbeit. Vielleicht | könnten Sie auch Ihre Arbeit nebenbei in einer Zeitschrift erscheinen lassen, mit einer Einleitung oder Anmerkung. Vorenthalten sollte sie keineswegs bleiben.

     Was die fragliche Materie selbst betrifft, so halte ich dafür, daß es für Roman u Novelle so wenig a prioristische Theorieen u Regeln gibt, als für die andern Gattungen, sondern daß sie aus den für mustergültig anzusehenden Werken werden abgezogen, resp. daß die Werths und Gebietsgrenzen erst noch abgesteckt werden müssen. Das Werden der Novelle, oder was man so nennt, ist ja noch immer im Fluß; inzwischen wird sich auch die Kritik auf Schätzung des Geistes beschränken müssen, der dabei sichtbar wird. Das Geschwätze der Scholiarchen aber bleibt Schund, sobald sie in die lebendige Produktion eingreifen wollen. Wenn ich nicht irre, so wird zwischen den grassirenden Neo-Philologen und den poetischen Hervorbringern der gleiche Krieg entstehen, wie er jetzt zwischen den bildenden Künstlern und den Kunstschreibern waltet, die keine Ader haben.

     Ihren Etatsrath habe ich auf unserm Museum, wo der Westermann liegt, angefangen zu lesen, will aber jetzt auf das Buch warten, wie Sie es wollen, da ich die bezügliche Erfahrung kenne. Der Anfang ist mir indessen neuartig und energisch erschienen.

     Ich lebe jetzt in einer Leidenszeit. Mit der Correktur des Sinngedichts beschäftigt und den Text nun zum dritten oder vierten Mal mit der Feder in der Hand durchgehend, stoße ich immer noch auf zahlreiche Nester von groben Schulfehlern, Anhäufungen gleichlautender Worte, Verbalformen, Partikeln und der verfluchten Endsilben ung, heit und keit, die ich bisher übersehen, so daß ich mich mit meinen 62 Jahren fragen muß, ob das noch anders werden kann? Das Auge fliegt eben immer ungeduldig über die Schrift weg, und das Ohr kann bei mir nichts thun, da ich von Anfang an weder für mich allein laut las, was ich geschrieben, noch jemals eine Umgebung hatte, der ich etwas vorlesen konnte oder mochte.

     Leider bleibt die Geschichte mit den drei verlumpten Baronen, die Sie so geärgert hat, stehen, wie einer jener verwünschten Dachziegel an einem Hause, in dem es spukt. Sie haben aber übersehen, daß die Braut nebst den Hochzeitsgästen keine Ahnung von der Sache haben und der Brandolf ein Sonderling ist, der eine solche Comödie wol aufführen kann und die Hallunken schließlich doch versorgt. Uebrigens ist's jetzt doch zu Ende mit diesen Späßen. Ich gehe jetzt mit einem einbändigen Romane um, welcher | sich ganz logisch und modern aufführen wird; freilich wird in anderer Beziehung so starker Tabak geraucht werden, daß man die kleinen Späßchen vielleicht zurückwünscht. Gleichzeitig bin ich daran, meine Verse zu sammeln resp. gewissermaßen zum zweiten Mal zu gebären; denn es handelt sich um einen ganzen Rattenkönig von Gewissensfragen, die ich mit mir abmachen muß.

     Jetzt wünsche ich Euch aber allerseits ein vergnügt anmuthiges Leben und versetze mich im Geiste in Haus und Garten, wo die fünf Damen den würdig ziervollen Worten des heidnischen Paulus lauschen.

     Fast hätte ich etwas vergessen. Im vorletzten Briefe machen Sie die Andeutung, daß meine Schnurren mit der Tendenz, einzelne Liebespaare resigniren zu lassen, zusammenhängen möchten. Hier ist die Antwort. An manchen stillen Sontagen Nachmittags, wo ich mich ganz nur dem Genusse eines sentimental feierlichen Müssiggangs hingeben mag, nehme ich die Bände eines gewissen Theodor Storm, Meister der sieben freien Künste zur Hand, und vertiefe mich darein unter dem offenen Fenster. Nichts Beschaulicheres dann, als so eine sonnig traurige Geschichte, wie "im Sonnenschein" "eine Halligfahrt"; auch aqua submersus und die Wald- und Wasserfreude sind nicht bitter, und wenn ich das Buch zuschlage, so geh' desselbigen Abends zufrieden zu einem Schöppchen Wein. Nun ist aber das Papier zu Ende und faßt kaum noch die Grüße

                                                Ihres G. Keller

     


 

25. 9. 1881  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.13; Storm/Keller, S. 78>

Zürich 25. IX. 81.

Lieber Lebens- Kunst- u Freundschaftsmeister! Endlich danke ich Ihnen für Buch, Gruß und Geburtstagskarte und daß Sie an diesem Tage und in so guter Gesellschaft und Freundesgegenwart auch meiner haben gedenken mögen. Freund Petersen hat mir eine ausführliche Beschreibung des Tages gewidmet, so daß man sich in die Zeiten versetzt sehen konnte, wo die Götheaner und Jakobyten ihre Besuchs- und Feiertage hielten, und sogar die Misels und Mädgens fehlten nicht, da Sie ja 4 Stück derselben zum Feste lieferten, die ich schönstens grüße sammt ihrer verehrlichen Frau Mama. Gewiß wird Ihnen ein schönes neues Lebensjahr werden, | nachdem Ihnen die Götter einen so trefflichen neuen Schauplatz gegeben haben.

     In Ihrem Herrn Etatsrath hat mich zunächst wieder der an sich meisterliche Vortrag mit seinem feinen Liquorgeschmack erquickt, sodann aber auch die Kunst erbaut, mit welcher Sie aus dem Allerabsonderlichsten und Individuellsten heraus das rein Menschliche so schön und rührend darstellen. Und doppelt dankbar empfinde ich das, da Sie offenbar dadurch, daß Sie mit dem häßlichen Dämon in seiner betrunkenen Nudität, mit der abscheulichen und unbestraften Schändung seines armen unreifen Kindes u.d.gl. mich in meiner Zerknirschung über meine drei zusammengebundenen Kuhschwänze ein wenig trösten und aufrichten wollten, wie oftmals kleine Kinder, die einander durch Schläge oder Stöße zum Weinen gebracht haben, sich | selbst schlagen oder am Haar zupfen, um das Camerädchen zu trösten. Und wie virtuosisch haben Sie das zarte Lebensglück, welches dem Kinde gewinkt hat, zu ersticken und die arme Willi zu beseitigen gewußt! Fort mit der Bestie! Nun, trotz dieser meiner schlechten Scherze denke ich doch ernstlich über das Räthsel des melancholischen Schicksals nach, das Sie schildern, und dieses Warum, das man sich stellt, ist ja schon eine affirmative Kritik.

     Von unserm Paul, wenn er wirklich ungeheilt dem Winter entgegengeht, möchte ich anfangen zu glauben, daß er eben ein bischen die Gicht hat, wie bei nicht mehr jungen Herren zuweilen gebräuchlich. In diesem Falle müßte er vielleicht lieber das Ungeheuer ruhig in seinem Zimmer bändigen oder austoben lassen, als den kalten Wasserkünsten nachzulaufen. Doch will ich nichts dreinreden! Vielleicht auch wären heiße Heilquellen gut für ihn, die weitaus den meisten Gliederleidenden so wohl bekommen. Leben Sie selbst auf's Beste und erfreuen dadurch Ihren Gottfr Keller

     


 

27. 11. 1881  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 33; Storm/Keller, S. 79>

Hademarschen, 27 Novbr 81.

Lieber Freund Keller!
 
Der stattliche Band Ihres "Sinngedichts" hat mich aufs Angenehmste aus meiner Schreibfaulheit aufgejagt; ich danke Ihnen recht dafür, es ist mir immer eine Freude, ein liebes Werk nun so sicher in Buchform eingeheimst zu haben; habe es mir auch schon für meinen trefflichen Schwiegersohn, den Pastor in Heiligenhafen, der für einen Priester nur vielleicht ein zu großes Stück unbefangenes Menschenthum mit sich führt, als Weihnachtsgabe bestellt. Er wird dann bald völlig "kellerfest" sein - ob er schon ganz "stormfest" ist, weiß ich nicht - gegenwärtig ist er mit dem "Grünen Heinrich" befaßt, den ich ihm schicken mußte, nachdem er die "Seldwyler<"> gelesen hatte.

     Von meiner Seite werden Band 11/12 u 13/14 der Gesammtausgabe bei Ihnen anlangen, die denn, bis auf den "Etatsrath", diese Ausgabe für jetzt vollständig machen. Daß Letzterer, der fortdauernd bei Frauen und feinen Leuten Entsetzen erregt, wenigstens bei Ihnen | die Wirkung einer Tröstung gehabt hat, freut mich ungemein. - Ja, diese drei Kuhschwänze! Bisher hatte ich immer gedacht, ein Mann, dessen geliebtes Weib vor ihm ein Anderer besessen, der müsse unablässig darauf sinnen, jenen aus der Welt zu schaffen, jedes Atom seines Leibes, wie sein Gedächtniß, das ihm sein Ehebett beschmutzt. Nun, Meister Gottfried, ich ziehe in Ehrerbietung meinen Hut; Sie wissen das; und meine Freude an dieser mir besonders lieben Dichtung bleibt dieselbe.

     Daß in Ihrem neu geplanten Werke starker Tobak geraucht wird, kann mir schon gefallen; nur rauchen Sie nicht, wie Conditor Pahl in Husum, in der Stube, wo die Marzipane liegen. Herzlich freut es mich, daß Sie wieder etwas auf der Leinewand haben. Auch ich thue, was ich kann; bei einem erquicklichen Besuche, den ich Septb./Oktb. im Heiligenhafner Pfarrhause in Begleitung meiner dreizehnjährigen Jüngsten abstattete, habe ich mir von dort auch einen Stoff mitgebracht; ob es was Rechtes wird, ist mir noch nicht ganz sicher. |

     Heyse's Besuch (13-16 Septb) war eine rechte Freude, und wäre es noch mehr gewesen, wäre er körperlich so frisch, wie geistig gewesen. Erich Schmidt in Wien schrieb mir neulich, man munkle dort, daß er rückenmarksleidend sei, und - wenn man ihn gehen sieht, so muß man selbst zu der Befürchtung kommen. Wir hatten uns vor etwa 10 Jahren zuletzt in seiner Sommerfrische zu Prien am Chiemsee gesehen, und ich fand ihn unverhältnißmäßig rückwärts gegangen. Trotzdem sind wir recht heiter zusammen gewesen. Er hat ja zu seiner herzlichen Treue auch noch die glückliche Gabe schlichter Liebenswürdigkeit, die das Leben so anmuthig macht. Seine neue Novelle "Ein getheiltes Herz" u. sein "Alkibiades", letzterer wenigstens bis etwa auf den letzten Schluß, scheinen mir zu dem Besten seiner Arbeiten zu gehören. Bei der Novelle darf man sich freilich durch den Titel nicht verführen lassen, die Darstellung einer Doppel-Liebe zu erwarten (obgleich der Vfasser dieß, ich möchte glauben, beabsichtigt hat); das Thema ist eben nur der Kampf einer neuen Leidenschaft mit einer ruhig gewordenen Liebe u. der Sieg | dieser, vor allem durch den Muth der Wahrheit. Die ganze Novelle aber scheint mir so recht reif und vollausgetragen. Mögen diesen guten Dingen noch manche gleich werthvolle folgen. Aber ich bin nicht ohne Sorge.

28 Novbr - Da las ich neulich in der Zeitung von Temme's Begräbniß, und auch, wie Kinkel dabei geredet. Was mir bei unserem Correspondiren ganz leis entschwunden war, stand plötzlich vor mir, daß Sie nemlich in Zürich eine große Stadt, gar mit einer Universität, hinter sich haben. Und aus Ihren Briefen spricht doch ein gewisser - wie soll ich sagen? - Menschenmangel. Ist C. F. Meyer, der Vf. des "Heiligen", nicht ein Zürcher? Der Mann gefällt mir wohl; auch sein Letztes, "das Brigittchen v. Trogen". Recht nachfühlen kann ich Ihnen den Mangel eines Menschen, dem Sie beim Produziren einmal das zu Papier Gebrachte lesen oder lesen lassen könnten. Meine Frau mit ihrem schlichten Wesen und Verstande, aber freilich mit dem "doch willst du wissen, was sich ziemt etc." muß - wenn ich es ihr nicht vorlese - Alles lesen, was u. während ich es schreibe; ich sitze ihr dann wohl gegenüber | und suche es ihr vom Gesicht zu lesen, ob es ihr munter eingeht oder ob es nicht recht vorwärts will; dann ruf ich "Halt" und katechisire, bis ich ihre Meinung oder meist: ihre Empfindung in casu quo deutlich vor mir habe; so ist noch zuletzt in den "Etatsrath" eine Stelle hineingekommen, wo ich in der That zu sprunghaft verfahren war. Das so Hinzugekommene ist der Brief an Archimedes' Vater während dessen Krankheit. - Auch schon mit der Mutter meiner sieben ältesten Kinder verhielt ich es so, die einst, nun fast vor einem Menschenalter, mit mir aus der Heimath wandern mußte, und die nach der Rückkehr so bald in deren Schatten zur ewigen Ruhe ging - wenn wir das "Ruhe" nennen dürfen. - "Vorbei, vorbei!" pflegte mein alter, darüber sonst wortkarger, Vater auszurufen, wenn ihn zu mächtig die Vergangenheit überfiel.

     Von Freund Petersen, der ja neulich wieder in Berlin war, höre ich, daß Sie doch Ihre alte Wohnung mit der schönen Aussicht, aber der mehrberedeten Winterluftigkeit behalten haben; | hoffentlich sind Sie als das Gegentheil des sprüchwortlich "gebrannten" Kindes bedacht gewesen, daß nicht wieder die Verklommenheit der Finger den Fluß der Production unterbre<che,> worüber ich gelegentlich eine Beruhigung erwarte. Ich meinerseits, obgleich mein Haus überraschend warmhaltig ist - nicht nur in Folge des Windfangs vor der Hauptthür, sondern weil durch glücklichen Zufall an zwei Wänden des oberen und untern Flurs täglich gebrauchte Schornsteine hinaufgehen - lasse doch jetzt für die Zeiten des durch die feinsten Ritzen gehenden Ostwindes, überall (auch in meiner Stube) nach der Ostseite Doppelfenster setzen. So solls schon gehen!

     Nun kommt die liebe Weihnachtszeit, und das Haus ist schon voller Geheimniß; leider muß mein Jurist, der Erfinder des Märchenzweiges, mit seiner Liebsten bei deren Eltern sein, nur der Jüngste, der Musiklehrer in dem Oldenburgschen Varel, wird wohl kommen, wenn zum ersten Mal im geräumigen neuen Hause - ich fürchte immer, daß die Götter den vermessenen Frevel des Neubau's an dem alten Menschen strafen werden - sich der Baum entzündet, in dem für mich noch immer die Flocken von den Kinderträumen hängen. Genug für heute. Schreiben Sie einmal im Fest; ich thu es auch. Und empfehlen Sie mich Ihrem treuen Geschwister. Das Haus grüßt. -

                                                Ihr alter ThStorm

     


 

29. 12. 1881  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98:14; Storm/Keller, S. 82>

Zürich 29 Dec. 1881.

Lieber Freund und Mann zu Hademarschen!
 
Ihrem frohgemuten Briefe vom 27 Nov. sind bald die beiden Doppelbände der Gesammtwerke nachgefolgt und ich habe die einzelnen mir schon bekannten Kleinode aufmerksam gezählt und beguckt, eh' ich sie zu den übrigen in den Schrein stellte. Die Erinnerungen an Mörike las ich freilich vorher durch, da sie mir so gut wie neu waren. Wie gewohnt, wenn die Rede von ihm ist, lief ich wiederholt nach seinen Bänden, um mich dieser | und jener Stelle gleich zu versichern und halbe Stunden lang fortzulesen. Die melancholische Frage der "kleinen Gemeinde" haben Sie trefflich ergänzt; freilich erscheint in dieser Beziehung mit jedem neuen Forschungsresultat der Defect unsers allgemeinen Bildungszustandes nur um so größer.

     Ihre Weihnachtsfreuden haben Sie nun hinter sich und das behagliche Wohlleben der Neujahrstage u. s. f. noch vor sich, wozu ich meine Glückwünsche rück- und vorwärts beitrage. Was Ihre römischen Abende vorstellen, weiß ich noch nicht; Petersen schreibt mir auch davon in der Voraussetzung, daß ich es wisse. Item, es wird etwas eben so Vergnügliches als Unschuldiges sein.

     Auch zu dem Herrn Pastor, Ihrem Schwiegersohn, gratulire ich schönstens. Ein solch stattliches Familienstück | gehört unter die Joh. Heinr. Voß'schen Himmelsstriche.

     Was Sie mir als Menschenmangel anmerken wollen, versteh' ich nicht recht. Ich lebe gesellschaftlich mit allerlei Leuten alten und neuern Datums. Das sogenannte Handwerk allerdings vermeide ich, wenn es nicht mit der erforderlichen einfachen und loyalen Menschennatur verbunden ist. So war ich in Verlegenheit, mit welcher der gelehrten und ungelehrten Gesellschaften Zürichs ich den üblichen Neujahrsschmaus einnehmen wolle, und habe mich für das Artillerie-Collegium entschieden, jene zweihundertjährige Gesellschaft, die im Eingang der Zürcher Novellen geschildert ist und mich dafür zu ihrem Mitglied ernannt hat. Ich habe | auch schon zwei Mal im Juni mit den Herren aus Mörsern (Krupp'schen) nach der Scheibe geschossen und ein par gute Schüsse abgegeben, die man mir natürlich gerichtet hat. Da werde ich am 2t. Januar, dem Berchtoldstage, der ein uralter Freudentag hier ist, mitten unter alten u jungen Artillerie-Officieren sitzen und Rheinwein aus silbernen Pokalen trinken Heut Abend soll ich zu einer großen Liedertafel gehen, die ihren vierzigjährigen Bestand feiert, und so ist immer was los, wenn man Lust hat.

     D. 30 Dec. Ich war gestern dort und habe gesehen, wie 300 Leute sich während einiger Stunden selbst rühmten, wenn auch nur in Gestalt eines Collectivbegriffs; das ist aber am Ende eine allgemeine Menschentugend.

     So eben erhalte ich von Paul Heyse | bessere Nachricht. Der Arzt in Cannstatt hat ihm mit der Elektrizität das Hinken in drei Tagen vertrieben und er ist seit Wochen wieder in München. Am 3 Januar will er wieder hingehen und die Kur beendigen, um nachher den Süden aufzusuchen. So wollen wir guter Hoffnung sein und vor Allem aus jene trübe Nachricht des Erich Schmidt für unbegründet halten. Der Alkibiades hat auf mich einen durchaus stimmungsvollen Eindruck gemacht, aber leider scheinen die Bühnen-Gewalthaber nicht anbeißen zu wollen. Und doch bin ich überzeugt, daß ein par von den Virtuosen Weibern und ein genialer Mann ja in dem Stück so gut brilliren könnten, als in den Grillparzer Tragödien Medea u s. w.

     Ferdinand Meyer, von dem Sie schreiben, ist allerdings ein Züricher. Er wohnt eine Stunde weiter aufwärts am See und ist 56 Jahr alt, hat vor wenigen Jahren erst eine Million geheiratet und ist für mich zum persönlichen Verkehr nicht geeignet, weil er voll kleiner Illoyalitäten und Intrigelchen steckt. Er hat ein merkwürdiges schönes Talent, aber keine rechte Seele; denn er ciselirt und feilt schon vor dem Guße. So oft er mich sieht, macht er mir eine Sottise; z. B. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas zu sagen? Aber nehmen Sie es auch nicht übel? - Nein, nur los damit! - Also: Es ist schade um Ihre Gabe des Styles! Sie verschwenden ihn an niedrige Stoffe, an allerlei Lumpenvolk! Ich arbeite nur mit der Historie, kann nur Könige, Feldherren und Helden brauchen! Dahin sollten Sie streben! - | Als er die Geschichte von dem "Heiligen" Rodenberg für die Rundschau versprochen hatte, kam er plötzlich zu mir, jammerte und sagte: Es ist mir nicht möglich, die Novelle in die Rundschau zu geben, und Sie müssen mir beistimmen und mich R. gegenüber rechtfertigen. Auf meine verwunderte Frage nach den Gründen, machte er kuriose Wendungen, ließ mich aber errathen, daß er sich für zu gut halte, und ich war überzeugt, daß er mich, der in die Rundschau geschrieben hatte, mit einer Vornehmthuerei regaliren wollte. Ich suchte ihm die Sache auszureden und beizubringen, daß die Rundschau ihm ebenso wohl anstehe, wie er ihr; allein es nützte nichts, bis ich endlich rief: Wenn Sie eben nicht wollen, so wollen Sie nicht und lassen es dann am besten bleiben. Da rief er ganz zufrieden: Nicht wahr? Darf ich mich also auf Sie berufen?

     Ich schrieb aber doch dem Julius Rodenberg selber den ganzen Hergang, worauf er mir antwortete, er habe das Manuskript schon in den Händen! | Als die Novelle erschienen war, schrieb ihm Rodenberg einen Lob- und Dankbrief in seiner verbindlichen Art, rechnete ihn zu den ersten und festen Mitarbeitern der Rundschau u. s. f. - und Meister Ferdinand ließ den Brief wörtlich theils abschreiben, theils drucken und an die Schaufenster der hiesigen Buchhandlungen anschlagen!

     Behalten Sie aber diese Dinge für sich; ich theile sie nur mit, damit Sie sehen, warum ich nicht gern mit Jedem verkehre. Meyers Bedeutung liegt übrigens in seinen lyrischen und halb epischen Gedichten. Wenn er sie einmal sammelt, so wird es wahrscheinlich das formal schönste Gedichtbuch sein, das seit Decennien erschienen ist.

     Ihr Conditor Pahl in Husum hat mich lachen gemacht. Es handelt sich jedoch mit dem starken Toback nicht um jenen, den Sie meinen, sondern um etwas Anderes, Ernsteres, das ich leider nicht näher beschreiben kann, weil das Papier zu Ende ist. Und so muß ich auch das Uebrige ungeschrieben lassen. Leben Sie glücklich in das neue Jahr hinein mit allen Ihrigen.

                                                Der alte
                                                G. Keller.

     


 

4. 8. 1882  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 36; Storm/Keller, S. 91>

Hademarschen, 4 Aug.82.

Mein lieber, nur gar zu ferner Freund, so gut, wie Sie ihn mir anwünschten, ist mir der Sommer nicht geworden; ein Ding, was die Aerzte mit dem Namen "Magenkatarrh" abfertigen, hat mich seit lange recht heruntergebracht, daß mir für alle Dinge der entsprechende Nervenschwung fehlt, und ich überdieß ein recht mageres und verledertes Aussehen bekommen habe. Ihre Sendung v. 5 Juni nahm ich dem begegnenden Postboten ab, während ich in trübsamem Sinniren nach dem nahen Hanerau schlenderte; nicht allein zwar, sondern mit meiner lieben Neunzehnjährigen; da war's mir recht, als fiele ein erfrischender Thautropfen mir ins Herz; dann kam Abends 6 U. noch der gute Petersen, und andern Morgen, da wir in der Veranda eben beim Thee saßen, auch noch ein langer Brief von unserm Paolo, worin er so munter, wie ein Böcklein schrieb; so hatten wir im Geiste denn auch Sie beide bei uns. Dann ging der gute Tag vorüber und ich mußte Brunnen trinken, | etc. etc. wollen darüber nicht weiter Redens machen. Nun bin ich vorgestern von einer mehrwöchentlichen Reise wieder heimgekehrt; 16 Tage lang war ich bei meinem judex Ernestus in Toftlund zwischen dänisch redendem Volk und Gesinde; die nächste Eisenbahnstation ist über 2 Meilen entfernt (Woyens); 200 Schritt hinter dem jetzt völlig wüsten Amtsgarten liegt aber ein hübscher kleiner Wald, in dem man spazieren läuft, Kaffee oder Thee trinkt oder, wenn man will, unter einer prachtvollen Buchenwölbung mit den hübschen Töchtern der mehreren dortigen Beamten Croquet spielt, welche idyllischen Freuden außer der letzten, wo ich vor den Lampen blieb, ich denn auch mehrfach genossen habe. Den dritten Mann habe ich trotz ernstlicher Bemühungen in dem großen, bei der jetzigen Junggesellenwirthschaft dito wüstem Hause nicht zu Gesicht bekommen, wohl aber die Ueberzeugung erhalten, dß die beiden Leute derzeit unabhängig von einander den betreffenden Eindruck empfangen haben; nicht zu vergessen, dß wir hier an der | Grenze Nordfrieslands, wie in Schottland, uns in der Heimath des zweiten Gesichts befinden. Ich stehe diesen Dingen im einzelnen Falle zwar zweifelnd oder gar ungläubig, im Allgemeinen dagegen sehr anheimstellend gegenüber; nicht daß ich Un- oder Uebernatürliches glaubte, wohl aber, daß das Natürliche, was nicht unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt, bei Weitem noch nicht erkannt ist. Doch - auch dieß Capitel ist zu lang fürs Schreiben. Jedenfalls hielten Vater und Sohn in dem schmalen und tiefen Spuk- und Wohnzimmer behagliche Plauderstunden, worin ich Ihrem jungen Verehrer auch aus Ihren letzten Briefen, die ich zur Beantwortg des allerletzten, in dieser Hinsicht freilich vergebens, mit mir führte, allerlei ihm Behagendes und darunter auch Ihren freundlichen Gruß mittheilte, für den ich hiemit den aufgetragenen Dank bestelle.

     Eine heimeliche Hausgeschichte habe ich leider in all den öden Winkeln dort nicht gefunden; dagegen habe ich für die Correcturbogen von meinem "Hans u. Heinz Kirch" (Vater u. Sohn), die ich auf dem Wege zu dem danach stets so liebenswürdig | hungrigen Erich Schmidt durch Heyse's Hände passiren ließ, von diesem die schönste Censur eincassirt. Wenn nur die Freunde zufrieden sind! - Ich denke mir, daß das (Oktobr) Heft (v. Westermann), da es Probeheft des neuen Jahrgangs ist, bald ausgegeben wird und Sie, wenn Ihnen danach zu Muthe ist, es bald in Ihrem Casino werden lesen können; für die Buchausgabe kommt nur ein Einschiebsel von ein paar Zeilen.

8 Aug. Abends. Daß Sie die Herausgabe Ihrer Gedichte jetzt mit so viel Behagen treiben, freut mich ebenso sehr, als dß Sie sich entschlossen Ihre aufgespeicherten Dramen-Themen novellistisch zu verwerthen; so sind Sie - sans comparaison - jedenfalls vor dem Schicksal van der Veldes sicher, der seine Dramen erst in Novellen umschreiben mußte, um beim Publicum damit Beachtung zu finden, bis dann später wieder Leute kamen, die sie in Dramen zurückschrieben; ich entsinne mich noch sehr wohl, wie der rothaarige Hurka mich in meiner Jugend in dem Schauspiel "Die Lichtensteiner nach v. V." gruseln machte. Es ist bei den Bühnen-Dingen ja leider ein Griff, den das | pecus imitatorum oft vor den Meistern voraus hat. - Der zurückgestellte Roman wird bei allem Andern, was bei Ihnen nach Gestalt zu ringen scheint, hoffentlich auch unmerklich und in der Stille weiter reifen. Vor dem Altweibersommer, wenn Ihre physische Kraft nur aushält, bin ich bei Ihnen nicht bange; und Sie haben gesparte Kräfte. Aber daß Ihr treues Geschwister kränkelt, das will mir nicht gefallen. Möge sie Ihnen noch lange erhalten bleiben, und grüßen Sie sie freundlichst, wenn nicht an sich selbst, so solle sie an Ihren Bruder denken und recht was für sich thun lassen. Man kommt sich ja nicht wieder, wenn man fort ist. Die Proben der Meyerschen Gedichte haben mich freilich auf seine Sammlung neugierig gemacht; ich werde mir das Buch sofort besorgen. Von Ihren Beiträgen war mir die "Herbstlandschaft" fremd, die einen geheimnißvoll melancholischen Reiz hat. Das Wort "wenig Liebe" ist aber den Verf. betreffend, je länger, desto weniger richtig; in Toftlund sah ich unter einer Büchersendung zu meiner großen Genugthuung Ihr "Sinngedicht" schon in 3tr Auflage, und wollen Sie Liebe unmittelbar | vom Mensch zum Menschen, so schmieren Sie nur Ihre Reiseschuhe, und besuchen uns Markomannen hier an der Nordgrenze und Sie sollen mit Augen fühlen und mit Händen sehen.

     In meinem Kopfe haben sich allmählich auch so ein paar Geschichten angesetzt und theilweise auch schon scenirt; nur stehe ich bei der so zu sagen fertigsten am Schluß mit noch ganz lichtloser Dummheit; ich kann die Heilung eines Schwersinnigen zwar in pcto des Beginns vor Augen stellen; aber die nöthigen Scenen, wodurch dem Leser das Gefühl der definitiven Heilung gegeben und er damit entlassen wird, das ist der casus cnusus. Nun, vielleicht kommt's einmal im Schlafe. Im Uebrigen, es lebt sich doch besser, wenn man was auf der Staffelei hat; auch dient es ja, das silberne Triebrad des Lebens in Gang zu halten.

     Und nun werde ich mit meiner Frau einen Abendgang nach dem Posthause in Hanerau machen u. diesen Brief einstecken. Die Dämmerung liegt schon still u. feierlich draußen über Wald u. Felder; ich unterscheide nicht mehr die Bilder an meinen Wänden. Seien Sie herzlich gegrüßt, und bitte, schreiben Sie bald einmal, auch in pto Ihres Geschwister's.

                                                Ihr ThStorm

     


 

22. 9. 1882  Keller an Theodor Storm

<SLK: Cb 50.56:98.16; Storm/Keller, S. 94>

Zürich 22 Sept.82.

Sie haben es, trefflicher Freundesmann, nicht gut gemacht mit Ihrem Unwohlsein; hoffentlich haben Sie noch einen Theil des Sommers gerettet, der nach einem Briefe unsers Petersen so schön war in dortigen Landen. Hier ist nichts als Regen und Regen seit Monaten; man bedauert nur die armen Touristen, die nicht so gescheidt sind, wie Sie und Petersen, und in ihren idyllischen Heimatslandschaften fein zu Haus bleiben. Es kriecht übrigens Alles durch das Gotthardloch nach jenseits, wo sie nun auch Ueberschwemmung haben. Ihren Hans und Heinz werde ich mir sogleich zu Gemüt führen, sobald das Heft kommt. Es ist jetzt jedesmal eine Art Lebensfrage bei einer neuen Novelle: Was ist's? wie ist's? u. s w. wegen der maßlosen Produktion, die sich jetzt breit macht. Die Quelle originaler Anschauung und Erfahrung, das lebendige Blut fließt zwar nach wie vor selten genug; aber den Ductum hantiren sie bald alle gleichmäßig und schneiden Einem dazu noch allerhand Knöpfe vom Rocke, die sie unverfroren auf ihren Kittel nähen. Da frägt man sich oft, ob es noch eine Aufgabe sei, den Kopf aus dieser Sündflut emporstrecken zu wollen. Nun, ich hoffe mich an Ihrem Novum wieder zu kräftigen u zu erbauen. Am besten macht | es Paul der Heyse, der fröhlich mit ganzen Flotillen auf der See einherfährt und das Zeugs unter seine Kiele bringt. Und so lassen Sie sich meine Grübelei auch nicht anfechten. Ihr Schwersinniger wird je nach dem physischen oder moralischen Ursprung des Uebels zu heilen sein. Ich schreibe (ebenfalls sans comparaison) in solchen Fällen drauflos bis zu der schwierigen Stelle und mache dann Anstalt, das Ding einstweilen bei Seite zu legen, worauf sich der mehr oder minder gute Ausweg freiwillig zu zeigen pflegt. Uebrigens freut es mich, daß Sie einen so hübschen vollen Rocken aufgesteckt oder "was auf der Staffelei" stehen haben; es lebt sich trotz alledem besser dabei und entschieden gesunder.

     Neulich that ich mir nicht wenig zu gut, als ein Berliner Autor Heinrich Seidel mir ein Bändchen "Jorinde etc." schickte mit der Behauptung, er sei Ihr (Storms) und mein gemeinsamer Hochschätzer und Liebhaber, und als ich alsdann fand, daß der Mann auch was Rechtes kann und gut geschriebene kleine Geschichten macht.

     Ihr Erich Schmidt ist ein geistiger und liebenswürdiger | Gesell. Er gehört zwar zu der Scherer'schen Germanistenschule, welche auch bei den Lebenden das Gras wachsen hört und besser wissen will, woher und wie sie leben und schaffen, als diese selbst. Allein die gleichen Leute haben ein frisches, unparteiisches und doch wohlwollendes Wesen; sie sagen ihr Sprüchlein, ohne sich im mindesten um Dank und Gegendienste zu kümmern, und am Ende haben sie wenigstens einen sichern Standpunkt und eine Methode, welche besser ist als gar nichts, was bei den meisten Recensenten der Fall ist.

     Mein nebliges Gedicht, dessen Sie erwähnen, ist nicht so persönlich gemeint, wie Sie es auffassen. Die Worte "ein wenig Freiheit, wenig Liebe, und um das Wie der arme Streit" beziehen sich auf die öffentlichen Zustände, die Staatsgesellschaften und den ewigen Krieg um die Formalien bei möglichst wenig gutem Willen, bei Euch, wie bei uns, so weit es die an der Oberfläche Treibenden betrifft; so wie um die Grundlage der verdüsterten Arbeit. Hu hu! werden Sie sagen!

     Mit den 3 Auflagen des Sinngedichts | während des ersten halben Jahres, und zwar zu 1500 die Auflage, hat es seine Richtigkeit, scheint aber jetzt genug zu sein. Der Verleger versteht jedenfalls den Handel und betreibt ihn auch gehörig. Er wird auch die Gedichte drucken. Ich hatte nämlich Heyse gesagt, ich wüßte noch nicht, wem ich sie anbieten solle, worauf Meister Paolo sofort Herrn Hertz aufstachelte, an mich zu schreiben, was er auch ganz zuvorkommend tat. (an diesem "tat" bemerken Sie, daß ich bereits in der neuen Orthographie schwimme!) Leider muß ich jetzt mein armes Manuskript auf Wochen hinaus sistiren, da der Wohnungswechsel vor der Türe steht und schwerfällig genug ausfallen wird für uns zwei alte Leutchen. Die gute Schwester nimmt alles viel zu schwer und zu disputirlich. Sie befindet sich besser als im Frühjahr; allein sie ist eben im allgmeinen schwächlich geworden und ist puncto alte Jungfer auf die unglücklichere Seite dieser Nation zu stehen gekommen. Ihre freundlichen Grüße tun ihr gut und sie erwidert dieselben höflichst. Ich muß sie aber jedesmal mit einer gewissen Trockenheit anbringen, wenn sie wirken sollen.

     Nun gehaben Sie sich wohl und seien Sie schönstens bedankt für Ihre Theilnahme.

                                                Ihr Gottf. Keller

     


 

27. 11. 1882  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 37; Storm/Keller, S. 97>

Hademarschen-Hanerau, 27 Novb. 82.

Lieber Freund Keller!
 
Was machen Sie für Geschichten! Aber das kommt, wie Sie sehr richtig sagen, von der Charakterschwäche, und ich glaube daß diese "Pantoffelschwäche", wie wir sie ja nun kurzweg nennen können, eine richtige Specialschwäche der Poeten ist; auch ich habe mühsam dagegen kämpfen müssen, bin aber jetzt so weit, daß ich den ehrwürdigsten Männern u. den unverschämtesten Damen, wenn sie zu des Kronprinzen silberner Hochzeit sich 10 Groschen, oder zu einem Lehnstuhl für Bismark sich etwas mehr erbitten, in liebenswürdigster Ruhe meine Nichtbetheiligung zu erklären vermag. Eine Schwäche muß man doch wenigstens besiegen;  und so hat es bei mir in pcto der Pantoffeln keine Noth; aber mit Stiefeln fiel ich einmal von der neuen Treppe; und das war auch Charakterschwäche; denn erst nach diesem Unfall mit zerschundenen Armen richtete ich meine Hausherrlichkeit empor und erließ das Hausgesetz, die Treppen fürder nicht mit Milch zu feudeln. (Pro notitia: das erhält freilich sehr die gefirnißten Dielen etc., macht sie aber gefährlich glatt; bei Kaisers wird gewiß auch mit Milch gefeudelt) |

     Nun, wir haben das Beide überwunden, und ich darf Sie mir nun für den Winter in einem behaglich erwärmtem Quartier denken, wo denn auch die Redaction Ihrer Gedichte gute Fortschritte machen wird. Die Meyerschen Gedichte standen schon auf meinem Weihnachtszettel. Der "Hans Kirch" ist inzwischen als Buchausgabe angelangt u. liegt hier bei. Sie lesen ihn aber nun mir zu Liebe noch einmal als Ganzes; eine gewisse Genugthuung ist mir, daß man mir hiebei als Wirkung eine kräftige tragische Erschütterung zugegeben hat. Von meiner neuen Arbeit liegen etwa 60 S. Reinschrift dies. Formats vor; die Gemüthskrankheit (ich schrieb Ihnen von diesem Stoffe) giebt übrigens nur die Veranlassung zu einer Schuld, und diese, nicht die Krankheit u. deren Heilung, was nach meinem Gefühle widerwärtig und für die Dichtung ungehörig wäre, giebt das organisirende Centrum. - Wenn Sie übrigens sagen, dß Sie die harten Köpfe, die ihre Söhne quälen, nicht lieben, so meine ich doch, daß ein solcher in der Menschennatur liegender Prinzipalconflict der Dichtung nicht vorbehalten | bleiben darf; nur muß man der harten Kraft, oder wie es sonst richtiger zu bezeichnen ist, des Vaters auch etwas Derartiges in dem Sohn entgegenstellen; es scheint mir hiebei, wie überall darauf anzukommen, ob's einer machen kann; womit natürlich nicht gesagt sein soll, dß ich es konnte. Uebrigens habe ich den Vater als Hauptperson im Auge gehabt; er sündigt und er büßt; nehmen Sie es nicht zu genau mit diesen specifisch christlichen Ausdrücken.

     Das Weihnachtsfest wird hoffentlich schon gerathen; denn ich habe meine Gesundheit wieder; war ich so mager, daß ich Mützen auf meine Knochen hängen konnte, so würde das jetzt das allergrößte Kunststück sein; sogar etwas von dem Klange meines einst silbernen Tenors ist wieder in meiner Stimme. Der Märchenzweig soll nicht fehlen; ja es wird noch etwas ganz Neues zwischen den dunkeln Tannenzweigen zu sehen sein: ich werde ein Dutzend künstlich gemachter Vögel - ich muß unserm Petersen noch schleunigst diese Quelle nachweisen - aus Gotha beziehen; und am 21 Dezbr schreibe ich an Gottfried Keller. |

     Gestern Abend übrigens kam ich mit meiner Frau nach 9tägigem dortigen Aufenthalte aus Hamburg, wo wir erst einige Tage im Hotel; dann bei Freunden, wahren Elite-Menschen, zubrachten. Heiter fuhren wir aus, und ebenso sind wir in unser behagliches Heim zurückgekehrt.

     Heinrich Seidel, den Sie in Ihrem Briefe v. 22/9 d. J. erwähnen, ist mir auch lieb; seit einer langen Reihe von Jahren schickt er mir seine Bücher, und obgleich ich nach bestem Wissen oft recht scharf mit ihm in's Gericht ging, ist er mir immer anhänglich geblieben; er ist ein fein und gesund empfindender Mensch und fast jedes seiner Bändchen bringt etwas Liebenswürdiges; so früher "Daniel Siebenstern" (zuerst in d. Gartenlaube) "Die Nebeldroschke", das plattdeutsche "Hans Peiter Semmelmann" etc. Was Sie von Erich Schmidt sagen, hat mich auch gefreut; er ist im Leben wie in der Wissenschaft ein tüchtiger und durch und durch wahrhaftiger Mensch, dabei sieht er frisch und theilnehmend aus seinem Studirstubenfenster in die fluthende Welt hinaus; er wirft sich auch selber mit in den großen Strom. Das Alles ist schon etwas. |

     Unser Paolo, der ganz lebensmuthig zu sein scheint, schrieb mir vor meiner Hambg. Reise, Sie würden ihn in München besuchen; scheint ja denn aber nichts davon geworden zu sein, von wegen der zu vielen 1½ Zoll Pantoffeln.

     - Eben erzählt mir meine 17jährige Gertrud, die in unserer Abwesenheit mit Dodo, der Jüngsten, im brüderlichen Hause hier in Kost u. Pflege war, sie habe dort das "Sinngedicht" gelesen. "Ich mochte es furchtbar gern lesen; aber einige Scheuslichkeiten sind darin"; sagte sie ganz fröhlich, während noch der Nachgenuß von ihrem jungen Gesichtlein leuchtete; und ich freute mich, daß sie an diesem braven Stück solch' redliches Gefallen hatte. Unser Paolo sagt von der Jugend: "Die müssen wir festhalten", und hat damit ja nicht ganz Unrecht. (NB: ich bin immer zweifelhaft, ob ich das letzte Wort groß oder kl. zu schreiben habe; beides ist wohl zu rechtfertigen).

     Neulich wurde mir von einem Grafen Joseph Wallis aus Oestereich ein seltsames M.S. zur Begutachtung behufs Publication zugesandt; der Gegenstand war die geschlechtliche Liebe eines | Mannes zu einem andern schönen und liebenswürdigen Manne, unglückliche leidenschaftliche Liebe und offenbar ein Selbstbekenntniß, in der Ich-Form geschrieben; höchst weichlich und widerwärtig; und das wollte der Mann, der übrigens ein armer, wohl von Jugend auf, Kranker ist, der Welt gedruckt vorlegen. Er hatte mir vor Jahr u. Tag schon einmal sentimental klagende Tagebuchblätter zugesandt. Der Geliebte hieß noch dazu Peter.

     Es thut mir leid, daß mir dieß Widerwärtige zum Schluß in die Feder kam. Erfreulicher war Heyse's neuer Novellenband, der mir außer Bekanntem "Unvergeßne Worte" bringt, die hoffentlich munden werden.

     Also machen Sie's gut, wie der Eichsfelder sagt, u. lassen Sie mich im nächsten Briefe etwas Näheres von Ihren Arbeiten hören; auch, wie Ihr altes Geschwister den Umzug mit seinen unliebsamen Verzierungen überstanden hat; sie sollte noch ein rechtes Stück Weges mit Ihnen aushalten. Meine Frau und Ihre junge Verehrerin, die Gertrud, denen sich aber auch das Nestküken Dodo anschließt, empfehlen sich freundlichst. Die 20jährige Elsabe (Ton auf der ersten Sylbe) ist bei der Schwester Lisbeth im Heiligenhafner Pfarrhause wo mir eine Großvaterschaft erblüht ist. Wie immer, lieber Freund Ihr

                                                ThStorm


 

22. 12. 1882 Theodor Storm an GK

<Ms. GK 79f3 Nr. 38; GB3.1,481>

Hademarschen-Hanerau.
22. Decbr 1882.


Da bin ich, lieber Freund, um Ihnen, so gut es durch so viel Ferne geschehen kann, zu dem mir ewig jungen Kindheitsfeste die Hand zu schütteln. Unten spielt meine Jüngste allerlei süße Melodien, und im ganzen Hause weihnachtet es sehr. Zwei Tage lang nichts als Kisten gepackt und Paquete gemacht u. Weihnachtsbriefe an Alt und Jung in alle Welt gesendet; ich habe dießmal nur meine zwei Jüngsten, die Gertrud u. Dodo zu Haus und morgen kommt aus < face="Arial, Helvetica, sans-serif">Varel noch mein Musikus, d. h. Musiklehrer. Aber die breitästige, 12 Füße hohe Tanne steht schon im großen Zimmer, an den letzten Abenden ist fleißige Hausarbeit gehalten: der goldne Märchenzweig, dito die Traubenbüschel des Erlensamens und große Fichtenzapfen, an denen dießmal lebensgroße Kreuzschnäbel | von Papier Maché sich anklammern werden, während zwei desgleichen Rothkehlchen neben ihrem Nest mit Eiern im Tannengrün sitzen, feine weiße Netze, deren Inhalt sorgsam in Gold- u. andere nach Lichtfarben gewählte Papiere gewickelt ist, Alles liegt parat, und morgen helfe ich den Baum schmücken.

Wenn dann aber am Weihnachtsabend die Lichter brennen und die Kinder ihr Weihnachtslied anstimmen, dann überfällt's mich doch: Wo sind sie alle, die sich einst mit mir gefreut? - Antwort: wo auch ich bald sein werde. Und das Geschick deiner Lieben? - Ein ewiges Dunkel für dich. Lieber Freund, ich werde sentimental, und das schickt sich eigentlich nicht für alte Leute. Also will ich Ihnen lieber erzählen, daß ich mir C. F. Meyers Gedichte und um ihn nach Gebühr zu ehren, auch seinen Jürg Jenatsch zu Weihnacht geschenkt habe. | Letzteren habe ich noch nicht, in ersterem aber schon Manches und mit rechter Freude gelesen, auch wiederholt schon vorgelesen, wozu sich die Sachen, wie sie schon schrieben, theilweise, besonders eignen. So von dem Wenigen, was ich noch gelesen, "Das Münster", "Der Hengert", "Erndtegewitter"; es wird sich noch Manches finden. Wenn Sie aber früher meinten, der Band werde eins der formell schönsten {Lieder}bücher werden, so werden Sie jetzt, wo es vorliegt, wohl anders denken: Ein Lyriker ist er nicht; dazu fehlt ihm der unmittelbare, mit sich fortreißende Ausdruck der Empfindung, oder auch wohl die unmittelbare Empfindung selbst. Sie muß bei ihm erst den Weg durch den Stoff nehmen, dann tritt sie oft überraschend zu Tage, so in dem Gedichte "Die gezeichnete Stirn", auch trefflich zum Vorlesen. Mich freut der Besitz dieses Buches, man hat doch einmal wieder etwas in der Hand, was bei einer Gedichtsammlung | lange nicht der Fall gewesen ist. Sorgen Sie nur, daß die Ihre wenigstens im nächsten Jahre kommt; ich bin um so neuer dazu, weil ich die beiden Bände v. 1846 und 54 besitze. Doch genug für heute. Die Meinen grüßen Sie mit mir. Möge auch über Sie die Märchenstille dieses Festes kommen, einerlei ob von dem Kinde in der Krippe oder von unsern alten schönen Götterfrauen, die in den Zwölften Umzug halten! Vor allen Dingen auch möge Ihr treu Geschwister sich mit Ihnen in gefestigter Gesundheit der Festesruhe freuen!

Ich grüße Sie herzlich

Ihr ThStorm.



 

21. 12. 1884  Theodor Storm an Keller

<Ms. GK 79f3 Nr. 46; Storm/Keller, S. 123>

Hademarschen, 21 Dezbr 84

Sonntag vor Weihnachtabend, liebster Keller! Drunten im größten Zimmer ist schon die über 12 Fuß hohe Tanne aufgestellt und biegt ihre Spitze unter der Decke; 18 Weihnachtspaquete sind expedirt und gestern Abend sind Netze geschnitten, Bonbons eingewickelt, ist vergoldet u. s. w. Und ich kann mir nicht helfen, ich muß Ihnen diesen kleinen Weihnachtsbrief schreiben. Einige Paquete sind auch hier angelangt, vor allem, wie alle Jahr, von einem Braunschweiger Freund, den ich freilich auch nie gesehen, Pfefferkuchen und desfallsige alt heilige Männer, aus Lübek Marzipan, und ein eifriger Verehrer, ich glaub aus Wien, schreibt meiner Frau, er müsse mir was schenken, morgen käm's an; wär er ein reicher Mann, sollt's aber ganz anders kommen; Petersen soll mir etwas gar Wunderliches | geschickt haben; doch das bleibt alles Geheimniß bis zum Weihnachtsabend. Uebermorgen kommt mein Junge, Karl, der "stille Musikant"; darauf freuen sich insonders die beiden jüngsten Mädel Gertrud und Dodo, die ich dießmal nur zu Haus habe. Mir selbst und ihm schenke ich die neueste Ausgabe von Mörike's Gedichten; die ältste besitz ich schon über 40 Jahre; aber auch einen kleinen Teppich und eine lange Gesundheitspfeife; er schmökt gern aus langen Pfeifen, wie weiland der junge Conditor < face="Arial, Helvetica, sans-serif">Pahl in Husum, der nun längst verdorben, wenn auch nicht gestorben ist. Meine Frau zieht unter Andrem wieder, wie vorig Jahr, ihre 80 M. von der 26 Aufl. "Immensee"; nur Einzelausgaben der ältesten Sachen machen Auflagen, wie denn auch Aufl. III der Ges. Ausgbe Bd. 1-6 in diesem Jahr gekommen ist. |

Dienstg Abend wird der Baum geputzt und der Märchenzweig nicht vergessen; Rothkehlchen sitzen u. fliegen in dem Tannengrün und eines sitzt u. singt bei seinem Nest mit Eiern. - Erst gehen wir in die Kirche, hören, was unser Pastor sagt, hören die Kinder mehrstimmig singen und sehen die beiden hohen Tannen am Altar brennen. Das gehört dazu. Dann brennt der schönere Baum zu Hause; und nach dem Abendessen kommt mein Bruder Johannes, der Holzhändler - dem ältesten Sohne, auch hier, trauten wir im Herbst eine lebendige Hamburgerin an - mit seinen 4 Söhnen, 2 Töchtern, Schwiegertochter u. seinem Weibe, meiner Frauen Schwester, und dann giebt es ein Glas nordischen Punsches. So beschließt sich Weihnachtsabend, und ich werde Ihnen Eins nach Zürich hinübertrinken! Auf weitere Freundschaft, und noch ein paar Jahre leidlich Leben!

Ihr Gefallen an "Grieshuus" hat mir wohlgethan. Dank für das schöne Bild.

Meine Photographie genügt auch nicht; ich muß das Oelbild photographiren lassen, | das eine mir verwandte Malerin diesen Herbst trefflich gemacht hat. Danach muß photographirt werden.

Das "Marx" ist ein Conservatorien-Erlebniß meines < face="Arial, Helvetica, sans-serif">Karl u. doch wohl etwas leichte Arbeit.

Von Wildenbruchs Dramen wollen Erich Schmidt, < face="Arial, Helvetica, sans-serif">Fontane u. ich denke, auch < face="Arial, Helvetica, sans-serif">Heyse, nicht viel wissen; er hat sie nicht gelesen, weil ihm seine Novellen nicht gefallen haben. Mir scheint nur der Angelpunkt, die Axe des Drama's etwas zu schwach, weil zu gesucht zu sein.

Eine gute Photographie von Ihnen würde mich freilich erfreuen; wagen Sie es nur einmal wieder.

Ich schreibe dieß Letzte in Hast, weil die Mädchen mit den heutigen Expeditionen nach der entfernten Post sollen.

Also von uns allen hier ein fröhlich Fest Ihnen und Ihrer geehrten Schwester! Und ein baldig Sehen in der D. Rundschau!

Herzlich

Ihr alter

ThStorm.

 


 

9. 12. 1887  Theodor Storm an Keller

<ZB: Ms. GK 79f3 Nr. 52; Storm/Keller, S. 132>

Hademarschen bei Hanerau, 9 Dezbr. 87.

Lieber Freund Keller!
 
Mir ist, als hätte ich Ihnen seit jenem halbdictirten Brief vom Krankenbette aus noch nicht wieder geschrieben; aber so soll das neue Jahr doch nicht vorübergehn. Meine Genesung nach dem fünfmonatlichen Lager nahm erst einen recht heiteren Anfang; ich konnte wieder leicht arbeiten und brachte auch etwas fertig; dann aber erschienen allerlei Teufeleien, die mir noch jetzt das Leben so erschweren, daß mir zu freier Arbeit eigentlich nur der Vormittag verbleibt; ich will Sie mit Aufzählung nicht langweilen. Der Geburtstag war ganz schön, wäre es nur nicht der siebenzigste gewesen; am Abende ca100 Gäste, das ganze Dorf war voll Trubel, Ehrenpforten, | originellste Illumination, die Dorfschulmädchen kamen mit ihren Lehrern und anderthalb hundert Stocklaternen, Paetel, der auch hier war, hatte so etwas in seinem Berlin noch nie gesehen; durch fünf, sechs Ehrenpforten fuhren wir in's Gasthaus zur Mittagstafel; die Kieler Frauen überreichten mir einen wahrhaft fürstlichen Schreibtisch, an dem ich eben schreibe; Bürgermeister und Bürger-Worthalter aus Husum überreichten mir das Ehrenbürgerrecht meiner Vaterstadt; alles ging wie im Rausch vorüber. Ich bin nicht unempfindlich gegen so viel freundliche Anerkennung - auch mein Landsmann Wilh. Jensen war aus seinem Freyburg i/Br. mit seiner 16jährigen Tochter herüber gekommen - mitunter aber ist mir's nachher gewesen, der siebzigste Geburtstag des "redlichen Tamm" sei doch ein noch schönerer gewesen; freilich meinen Mittagsschlaf ließ auch ich mir an diesem | Tag nicht nehmen, und auch ich "hing in der trautesten Kinder Umarmung"; denn Tochter u. Mann waren aus dem Pastorat zu Grube und Sohn und Weib waren aus Husum - mein Ernst, der Jurist, hat seine Amtsrichterei aufgegeben und ist seit Mai Rechtsanwalt u. Notar in der alten Vaterstadt - herübergekommen; drei Töchter waren mir im Hause, und Frau Do hat der trefflichen alten Frau Küster Tamm nichts nachgegeben, wenn ihr an dem heißen Tage auch der Pantoffel nicht entflogen ist.

     Am 19 Juli 89 ist Ihr siebenzigster; was wird er bringen? - Mit Interesse habe ich die Berichte über die festlichen Aufführungen gelesen, die man Ihnen in Zürich vor einiger Zeit bereitet hat, und über welche Prof Baechthold mir die betreffenden Blätter mitgetheilt hat. Ich wurde von der lebhaftesten Sehnsucht ergriffen, das gesehen zu haben.

     - Anbei sende ich Ihnen die Genesungs-Novelle "Ein Bekenntniß", deren Thema Ihnen | nicht gefallen wird. Es ist ein ähnliches, nicht ganz dasselbe, wie Heyse's "Auf Tod u. Leben" hat. Vor ein paar Jahren, als ich in Hamburg war, schrieb er mir von dieser Novelle und daß ihm die Ausführung jetzt nicht gefalle, weil er ein Lustspiel-Motiv mit dem tragischen Stoff zusammengeschweißt habe. Ich mußte ihm sogleich antworten, dß ich gestern, nur in etwas andrer Weise, den Stoff für mich notirt hätte. Erst nach 2 Jahren, nach der Krankheit nahm ich ihn wieder auf. Als ich Heyse den Correcturbogen geschickt, meinte er, ich hätte ein zweites Motiv hineingebracht (die Entdeckung nach ihrem Tode, dß die Krankheit schon derzeit ein Heilmittel gefunden habe) er meinte trotzdem, das Problem reiner heraus gebracht zu haben; es sei doch nur die Frage: ob es gestattet sei, einem, den man als unheilbar erkannt habe, zum Tode zu verhelfen. - Ich antwortete, mein Thema heiße: wie kommt ein Mensch dazu, sein Geliebtestes selbst zu tödten? und, wenn es geschehen, was | wird mit ihm? Auf dem Wege läge außer dem monirten Umstande auch die Abweisung einer neuen Liebe. - H. meinte, wir müßte<n> die höhere Instanz erwarten. Jetzt liegt denn beides vor. Daß der visionäre Traum für eine strenge Conception besser fehlte, gebe ich gern zu.

     Schon vor meiner Krankheit begonnen und hoffentlich im Februar für die D. Rundschau beendet haben werde ich eine andre Erzählung, deren Stoff und einzelne Partieen Ihnen vielleicht mehr zusagen werden. Sie heißt "der Schimmelreiter" und spielt irgendwo hinter den Deichen in der nordfriesischen Marsch.

     Nur leider - ich weiß nicht, ob ich noch die rechte Kraft hatte den Stoff zu zwingen.

     Haben Sie vor oder zwischen dem Fest noch eine Stunde für mich übrig, so lassen Sie mich wissen, was sie Neues eingespannt haben; ich möchte gern wieder in Ihren Seldwyler oder altzüricher Gärten oder gar im Jugendparadies des "grünen Heinrich" mit Ihnen wandeln, | wo es etwas weniger grausam realistisch (Verzeihung für das Wort!) als in Martin Salander hergeht.

     Und schreiben Sie mir auch, wie es Ihrer alten Schwester geht, und grüßen Sie sie recht freundlich von mir.

     Die Meinen laßen an Sie auch Ihre Grüße bestellen - könnten Sie doch noch einmal in mein freundliches Haus treten; es wird nicht lang mehr möglich sein.

                                                Ihr
                                                ThStorm.

Weihnacht ist vor der Thür; im vorigen Jahr kroch ich aus dem Bett und setzte mich im halben Fieber vor den Weihnachtsbaum, der in einer kleinen Stube unweit meinem Krankenzimmer hergerichtet war, u. Frau und Kinder weinten heimlich, weil sie mich sterbend glaubten. Dießmal ist's doch wieder, wie sonst, unten in den großen | Räumen, und der Märchenzweig glänzt frisch vergoldet aus dem dunklen Tannengrün; und Abends kommen mein Bruder u. Frau und Kinder und wir trinken im Weihnachtspunsch das Wohlsein aller fernen Freunde, worunter Sie nicht fehlen werden!

                                                dO.

 

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