Emil Kuh (1828-1876)

Editorial


 

Österreichischer Literarhistoriker, Hebbel-Biograph;
Besprechungen von Kellers Werken; Korrespondenz mit Keller seit 1871

Anzahl registrierte Briefe: 28 an, 21 von Keller (20 ZB Zürich)


 

3. 4. 1872  Keller an Emil Kuh

<ZB: Ms. GK 77 Nr. 19/3; GB 3.1, S. 162>

Hochverehrter Herr!
 
Ich bin zur Publikation eines kleinen Zwischengerichts, eines lächerlichen Schäälchens eingemachter Pflaumen verleitet worden, welches ich Ihnen hiemit pflichtschuldigst übersende, um Ihre mir erwiesenen Freundlichkeiten wenigstens mit einer winzigen Abschlagszahlung zu erwiedern. Möchten Ihnen diese 7 Legendchen nicht allzu abgelegen u absonderlich vorkommen. Sollen sie überhaupt etwas sein, so sind sie vielleicht ein kleiner Protest gegen die Despotie des Zeitgemäßen in der Wahl des Stoffes und eine Wahrung freier Bewegung in jeder Hinsicht.

     Bei diesem Anlasse sende ich Ihnen auch mit bestem Danke Ihr Buch zurück, in welchem der arme Geiger steht. Inzwischen ist der edle Grillparzer ja endlich auch heim gegangen und es | wird nun das seltsame Phänomen stattfinden, daß mit der Gesammtausgabe, die hoffentlich bald erscheinen wird, ein mehr als Achtzigjähriger erst nach seinem Tode seinem Volke recht bekannt und zugänglich wird. Ich freue mich nicht wenig auf diese Ausgabe und habe vor, sie nicht eher zu lesen, als bis der letzte Theil derselben gebunden in meiner Hand liegt, um einmal wieder das Gefühl eines ganzen Fundes zu haben. Aber freilich wird das schon wegen der Menge mir unbekannter lyrischer Gedichte nicht angehen oder schwer halten, wenn der betreffende Band einmal in der Hand liegt.

     Ich hoffe, Sie haben Ihr Sommerleben voriges Jahr in Berchtesgaden glücklich zugebracht und einen ebenso glücklichen Winter verlebt. Und in der Hoffnung, daß diese Zeilen Sie in fortgesetztem Wohlergehen antreffen, grüßt Sie hochachtungsvoll u ergeben
                                  Ihr Gottfr. Keller
Zürich 3 April 1872.

  


 

8. 6. 1872  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.744; Kuh, S. 50>

Wien. 8. Juni 72.
III. Salesianerg. 13.

Hochverehrter Herr,
 
Zwischen meinem letzten Briefe und diesem Blatte ist beinahe ein Jahr abgelaufen. Aber es war in der That ein Tumult von Arbeiten, in die ich sofort gerieth, als meine Ferienzeit in Berchtesgaden zu Ende gegangen. Was mir Ihre Dichtung bedeutet sagt Ihnen wiederum das Buch, welches ich hiermit in Ihre Hände lege. Sie werden an manchen Stellen, auch dort, wo nicht ausdrücklich Ihr Name zu lesen ist, den nachhaltigen Eindruck wahrnehmen, den Ihre Poesie auf mich geübt hat und fortwährend übt. Vielleicht erfahre ich gelegentlich, wie Sie über die beiden Monographieen: Franz Grillparzer und Adalbert Stifter denken. Ihr aufrichtiges Urtheil wird mir von hohem Werthe sein. Sie lassen sich gewiß dabei nicht von einer Rücksicht auf meine Beweise der Freundlichkeit, wie Sie sich ausdrücken, bestimmen. Was ich über Sie geschrieben und gegen Sie ausgesprochen, das wurde nicht geschrieben und gesprochen, um Ihnen zu gefallen, das entstammt der Nöthigung meiner innersten Natur. MögenSie nur zum zehnten Theile soviel Behagen an meinem kürzlich erschienenen Aufsatze über Ihre Sieben Legenden empfinden als ich Genuß bei Lesung derselben empfunden habe. Diese Legenden sind nach der künstlerischen Seite Ihre vollendetste Leistung. |

     Kommt in diesem Jahre ein zweiter Band der Leute von Seldwyla? Und wäre es Ihnen lästig, mir einen biographischen Abriß Ihres Lebens zu schicken, in Briefform? Ich wollte gar zu gerne im nächsten Winter einen Vortrag über Gottfried Keller halten. Da ich mit den wenigen Vorträgen vor einem gemischten Publikum, hier und in Brünn Wirkung hervorbrachte, so möchte ich einen Dichter Ihrer Art den Leuten in's Herz zu reden suchen. Ferner erbitte ich mir Ihre Photographie. Endlich frage ich Sie, was Sie in den Monaten August, September zu unternehmen vorhaben? Ich will mit den Meinen an den Achensee nach Tirol. Möglich, dß ich selbst auf acht Tage zu Ihnen nach Zürich reiste, falls Sie nicht vorzögen, einen Zug in unser Bergland zu thun. Natürlich müßten Sie mit dergleichen so recht einverstanden sein. Sollen wir einander nur par distance anreden (ich kenne Ihre Eigenheiten nicht) dann geben Sie mir ein entsprechendes Zeichen. Ein einsamer, Innen einsamer Mensch bin ich allerdings, aber vor den Löwen habe ich keine Scheu.

     Ein nächstes Mal will ich von Ihren Gedichten schwatzen, die ich in ihrer Gesammtheit nicht liebe.

     Grillparzers Werke werden Sie vermuthlich enttäuschen; er ist ein wahrhaftiger, aber kein konpletter Dichter. Die Ausgabe wird hastig, litteratenmäßig gemacht. Siebenzig Jahre hat Grillparzer seine Manuscripte wirr durcheinander geschoben im Kasten verwahrt, das Meiste, namentlich | die Gedichte auf Zetteln geschrieben, und zwei Monate nach dem Empfange des Nachlasses geben die Herren Laube und Weilen die Gedichte in die Druckerei. Um Grillparzer nicht bloßzustellen hätte man sorgfältig, überaus sorgfältig zu Werke gehen müssen. Nun ist Laube ein Trachter, ein Routinier, ein "Moderner" vom reinsten Wasser und Joseph Weilen, seines Zeichens dramatischer Dichter, zählt zu den "Strebsamen", welche vor den Senat geprüfter Buchbinder und Rahmenvergolder gehören, wie es im Grünen Heinrich heißt.

     Leben Sie stille Sommertage! Mit inniger Verehrung
                                  Ihr
                                            Emil Kuh.

  


 

28. 7. 1872  Keller an Emil Kuh

<ZB: Ms. GK 77 Nr. 19/4; GB 3.1, S. 163> 

Zürich 28 Juli 1872.

Verehrtester Herr!
 
Das heiße u doch beschäftigte Sommerleben hat mich lange in meiner Briefschuld stecken lassen. Doch jetzt danke ich Ihnen endlich herzlich für Ihre neuen Gaben, für die Besprechung der Legenden u das Grillparzer- u Stifterbuch. Ueber letzteres hoffe ich früher oder später besser mit Ihnen sprechen zu können, als zu schreiben. Für jetzt danke ich Ihnen blos für die wahrhaft gedankenreiche u aus dem Stoffe heraus blühende Diktion. Wenn Sie auch Grillparzer fast etwas zu drücken, Stifter dagegen etwas über sich hinaus zu heben scheinen (seine Schranke lag wohl in dem Stück Philister, das in ihm war, vide auch sein Portrait) so ist doch Alles, was Sie sagen, anregend u lehrreich, eine liebenswürdige Art von Kritik, die auch unabhängig von | ihrem Gegenstand allgemein u wahr bleibt.

     Daß Grillparzers Gedichte salop herausgegeben wurden, ist ersichtlich u zu bedauern; doch ist es ein wichtiger Band u würde während der letzten 40 Jahre manchen Mann berühmt gemacht haben, der ihn gemacht u publicirt hätte. Es sind doch in Ton u Stimmung vollendete Sachen darin u zwar nicht wenige, u werthloses sozusagen Nichts, dagegen Ungerechtes u Eigensinniges ist zu finden; aber wer hat nicht seine Idiosynkrasien? Daß Sie meine Gedichte nicht lieben, ist ganz in der Ordnung; ich thue es auch nicht. Dennoch muß ich diese ungerathenen Jugendkinder noch spät zu striegeln u harmonischer anzukleiden suchen, da sie einmal da sind. Mit einem besonnen durchgearbeiteten u sachlich vermehrten | Gesammtbande hoffe ich jene unfertigen Zufrühbändchen verschwinden zu machen.

     Ich stehe Ihnen gerne zu Diensten mit biographischen Notizen. Doch bin ich in Verlegenheit, zwischen der knappen Form, wie man sie dem Pierer etc liefert, u der reichlicheren Mittheilung die richtige Mitte zu treffen, wobei ich offen gestehe, daß ich nicht gern ein wörtlich zu brauchendes Aktenstück geben möchte. Diese Art, zu Studien über mich selbst mitzuwirken, scheint mir noch nicht am Platze zu sein u wird es vielleicht nie sein.

     Was nun ein persönliches Zusammentreffen angeht, so würde mir ein solches gewiß Freude machen. Ich überlasse die Art u Weise ganz Ihnen. Kommen Sie an u für sich gern einmal nach Zürich, so kann ich Ihnen da auch manchen hübschen Spaziergang vorschlagen, man ist überall gleich an einer schönen Stelle. Auch kann ich mir wohl denken, | für einige Tage nach dem Tirol zu kommen, da ich in der That irgend wohin zu gehen beabsichtige u noch keine Wahl getroffen habe. Entscheiden Sie also. Vielleicht läßt sich beides vereinigen, indem ich Sie von Zürich fortbegleiten würde. Hier ist auch die gewünschte Photographie mit der leidigen Brille; ich habe keine geschmackvollere resp. natürlichere zur Hand. Ich bin kein Löwe, sondern ein kleiner dicker Kerl, der Abends 9 Uhr in's Wirthshaus u um Mitternacht zu Bette geht als alter Junggeselle.

     Ihrer eigenen Photographie hoffe ich bei Gelgenheit auch habhaft zu werden.

     Behalten Sie in freundlichem Andenken Ihren ergebenen
                                  Gottfr. Keller

  


 

10. 2. 1873  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.746; Kuh, S. 60>

Neapel, 10. Februar 1873.
Riviera di Chiaja 171.

Hochverehrter Herr,
 
Schon der Aufgabsort auf dem Couvert dieses Briefes wird Sie in Verwunderung setzen. Sie glauben mich in Wien, den Gaul meiner Berufsarbeiten antreibend, am wenigsten vermuthen Sie mich in Süditalien. Mein Halsleiden war eben so hartnäckig und gab zu solchen Besorgnissen Anlaß, daß ich mich im Spätherbste genöthigt sah, um einen längeren Urlaub bei der Handelsacademie zu bitten. Man rieth mir Neapel an und so ging ich denn, nachdem ich September und October unter der klimatischen Glasglocke Merans umsonst auf eine Heilung meines Uebels gehofft hatte, hinunter an den schönsten Golf des Mittelmeers. Meine Familie nahm ich mit, da das Leben in Wien kostspieliger ist als in Italien und nur die Reiseauslagen in's Gewicht fielen. Seit dem 11. November bin ich hier und empfinde von Tag zu Tag stärker die heilende Wirkung der Seeluft, der südlichen Wärme und Lichtfülle. Von den Balkonen meiner Wohnung aus sehe ich über die Obstbäume, Eichen und Palmen des Gartens an der Riviera hinweg auf den Meeresspiegel und auf Capri. Wenn ich einige hundert Schritte mache, befinde ich mich auf dem Posilip, mit seinen grotesken Tuffsteinschluchten, in denen Orangen, Citronen, Rosen und Lorbeer, Pinien und Cactusgestalten den Hügel hinan oder zum Meere hinab stehen, mit seinen anmuthigen Villen, Osterien und Vignen. Die nach Innen sich verkriechende Seele des Deutschen meiner Artung gewöhnt sich nur allmählich an die taghelle, formenklare |  Landschaft und an die unbefangene Sinnlichkeit des süditalischen Lebens. Mit der Gewöhnung aber kommt die Freude, ja das Glück, das diese Sinnlichkeit einflößt, in unser Herz, eine Sinnlichkeit, welche, um ein Dichterwort zu variiren, ausgestoßen hat jeden Zeugen seelischer Bedürftigkeit. Der nicht verdorbene Mensch muß in Italien den letzten Rest der Ueberschwänglichkeit verlieren, die in ihm noch arbeitet, und jenes Behagen an dem Unaussprechlichen, das eigentlich ein leeres Spinnen in dem Unbestimmten ist. Man braucht nicht Kunstzwecke in Italien zu verfolgen, um einen Lebensgewinn aus dem Aufenthalte in diesem Lande zu ziehen. Die italienischen Reisen sind, seitdem Goethe einen inneren Umschwung durch die seinige erfahren hat, der obligate Wendepunct in dem Dasein jedes Nippwaaren-Novellisten und jedes Vogelhausanstreichers geworden. Italienische Reisen gehören nun in den Kreis der Künstlerstipendien und anderer Aufmunterungen vielversprechender Talente. Wie sie fruchten nehmen wir an den Werken der Aufgemunterten wahr. Wichtig ist es, dß man für Italien reif nach Italien komme. Das einfachste Individuum kann dafür reif sein, wie der hervorragende Geist unreif. Letzteres war z. B. bei Friedrich Hebbel der Fall, welcher ungeachtet einzelner reiner Eindrücke, die er in Rom und Neapel empfing, sich dann erst recht in die unerquicklichsten Prozesse versenkte, was nicht möglich gewesen wäre, wenn er zu guter Stunde den Weg nach dem Süden angetreten hätte.

     Ich beschäftige mich jetzt beinahe ausschließlich mit der Biographie dieses Dichters, die schon lange eine Last ist, welche ich abschütteln muß. Sie werden der Darstellung seines Entwicklungsganges weder Ihren geistigen Antheil, noch Ihre Gemüths-Theilnahme versagen können. Den typischen Merkzeichen Ihres Grünen Heinrich werden Sie häufig begegnen.

     Gegen Ihre Bedenken in Betreff meines Wunsches, Sie sollten mir biographische Skizzen über Ihr Leben senden, habe ich nichts zu bemerken. Aber ein Mißverständniß, durch meinen letzten Brief hervorgerufen, möchte ich beseitigen. Sie irren vollständig, falls Sie meinen, ich stellte mir Ihre Vergangenheit | als einen seltsamen oder schauerlich verschlungenen Knoten vor. "Schinder-Hannesartig" war Ihr Ausdruck. Im Gegentheile. Ich bin überzeugt, dß sich Ihr Leben äußerlich ziemlich normal abgewickelt hat und meine Bezeichnung "criminalistisch" bezog sich auf Ihr keckes und kaltes Anfassen der verborgensten innern Vorgänge. Auch "entern" will ich Ihr "treibendes Schifflein" nicht. Daß ich Ihre Dichtungen genieße, nicht als Rezensent betrachte, dächte ich denn doch durch meine Artikel über Ihren Roman und Ihre Legenden dargethan zu haben.

     Berechtigt ist Ihre Mißbilligung der norddeutschen Phrasen über Grillparzers Werth. Den Leuten, die ehegestern in Robert Prutz und Karl Gutzkow bedeutende Dichter, gestern in Gustav Freytag eine große schöpferische Kraft und heute in Fritz Reuter, in Paul Heyse und Adolph Wilbrandt gottbegnadete Poeten erblickt haben, steht es wahrlich schlecht an, aesthetisch-zollamtliche Einwendungen gegen eine zu hohe Anerkennung, die dem todten Grillparzer wird, zu erheben. Gleichwohl weiche ich in der Werthschätzung Grillparzers von Ihnen ab. An dramatischer Energie halte ich Kleist, Hebbel und Otto Ludwig für größer, an lyrischer Macht Mörike, Uhland und Heine ihm weitaus überlegen. Ich schrieb in einem der Artikel, welche ich über die Schriften des Nachlasses Grillparzers in der Wiener Zeitung veröffentlicht habe, er sei im Umriß der beste nach Schiller und Goethe, aber nicht in der Ausgestaltung. Die kritischen Arbeiten beurtheile ich der Hauptsache nach, ganz so, wie Sie. Ich schickte diese Aufsätze einem Freunde in Meran und will ihn ersuchen, er möge sie an Sie weiter befördern. Laube ist ein Herausgeber und Kunstrichter, wie er ein Schriftsteller und Dichter - daß Gott erbarm - ist. Er riecht überall nur den Leim und hat nur sein Augenmerk auf den Effect, den die geschnitzten Tische und Spiegelrahmen üben; vom Selbstzwecke der Kunst weiß er soviel, wie der Hund, der den Geschlechtstrieb befriedigt, von der generatio aequivoca.

     Die Aussicht, dß ein zweiter Band der Leute von Seldwyla kommt, erfüllt mich buchstäblich mit Frühlingserwartungen. Das wäre was, wenn ich auf | Capri, wo ich die Wochen vom halben April bis Mitte Mai zubringen will, dieses Buch von Ihnen erhielte. Zu Ihren feinsten Lesern unter den Deutschen zähle ich sicherlich, dessen darf ich mich schon rühmen.

     Ein Paar naive Aeußerungen meines neunjährigen Jungen werden Sie ergötzen. Als der Knabe mit uns im Museum war, sagte er zu seiner Mutter: Mama, wie haben denn die Blätter den Göttern gehalten? Und als er die hübschen Ammen sah, welche die Kinder der vornehmen Neapolitanerinnen säugen, da fragte er seine Mutter: woher kommt es denn, dß die Ammen immer schöner als die Frauen sind?

     In den Sommermonaten werde ich die oesterreichischen oder bairischen Alpen aufsuchen. Da Sie nach Wien gehen wollen - ich fürchte die Ausstellung wird eine neue Blamage Oesterreichs, - so könnten wir uns vielleicht irgendwo ein Stelldichein geben. Machen Sie, wenn ich bitten darf, keine zu lange Briefpause! Unter diejenigen, welche Ihre Muse lieben, zählt auch der jetzige Minister DrGlaser in Wien, einer meiner Jugendfreunde, an den ich Ihnen gerne ein warmes Brieflein schicken würde.

     Mit bestem Gruße, Ihr Sie innig verehrender
                                  Emil Kuh.

  


 

8. 1. 1874  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.741; Kuh, S. 84> 

Meran, 8. Januar 1874.
Abends 6 Uhr.

Daß Sie das größte Dichtertalent sind, welches unsere gegenwärtige Litteratur besitzt: war schon nach Ihrem Grünen Heinrich meine Ueberzeugung. Die Sieben Legenden, die formklarsten Ihrer Productionen, bestärkten mich darin und heute wieder und abermals die neuen Erzählungen im 3. Bande der Leute von Seldwyla. Ich habe nur die ersten zwei gelesen: Kleider machen Leute und der Schmied seines Glückes, da ich mir die einzige neue, die ich vorläufig noch habe, auf morgen aufsparte. Ich empfing die drei Bände heute Vormittag, durch die Buchhandlung Gerold aus Wien.

     Welch eine Heiterkeit ruht auf diesen Bildern! welch ein Fabelmund hat sich in Ihnen aufgethan! Die Geschichte von dem blassen Schneiderlein muthet mich als die jetzt erst ausgedichtete Erfindung vom Verwunschenen Prinzen an. Bisher war sie trotz ihrem Reize äußerlich geblieben. Die Geschichte von dem müßiggängerischen Nachhelfer seines Glückes würde unter den Rubinen des Boccaccio noch immer einer | der seltensten Steine sein.

     Ich kenne noch einen deutschen Erzähler unserer Tage - in angemessener Entfernung von Ihnen - Theodor Storm, in welchem die Poesie erzählt - alle übrigen "Novellisten" und Romanschriftsteller, darunter ich einige je nach ihrer Begabung wohl zu schätzen weiß, rechne ich nicht zu den Dichtern. Storm ist ungemein enge auf sein poetisches Gütchen angewiesen, während Ihre Kraft zum Großgrundbesitze gehört, aber Storm hat Resonanz, die Cardinalbedingung tieferer Wirkung. -

     Warum kann ich nicht mit Ihnen persönlich sprechen, in Momenten der Erregung, wie jetzt! Wenn man im innersten Gemüthe bewegt ist, auch künstlerisch bewegt, dann vermag man gegen eine wahlverwandte Natur zu sprechen, aber nicht zu schreiben.

     Ich werde morgen die Verlagshandlung bitten, mir sofort den Schlußband senden zu wollen, wenn er erschienen. In der Wiener Abendpost gedenke ich ausführlich über die Leute von Seldwyla zu reden. Der Neuen Presse könnte es abermals in den Sinn kommen, wenn ich Ihre neuesten Dichtungen dort anzeigen wollte, einen ordinairen Pariser Brief, der eine Hinrichtung "schildert", als erstes Feuilleton zu geben. Das hat Herr Etienne | thatsächlich gethan; der Pariser Pöbel hörte zu johlen auf, nachdem der Henker sein Werk beendet hatte - und mein Artikel über die Fabulistik der Kirche fing an. Aber "Hammerschläge und Historien", eines der "modernen" Meisterstücke, die ich nicht lese, wenn ich nicht muß, ward an erster Stelle in dem sudelhaften Weltblatte angezeigt. Ich verzeihe Herrn Etienne diese, wahrscheinlich nicht mit Absicht begangene, Gemeinheit niemals. Die absichtslose ist immer die niederträchtigere.

     Verzeihen Sie, dß ich von dem Ausdruck reiner Genußfreude zu solchen Dingen herabgeglitten bin. Wenn Sie mich näher kennten, würden Sie die sonderbare, nicht hübsche Eigenschaft an mir längst wahrgenommen haben, dß ich dicht an das Segenswort einen Fluch zu rücken pflege, weil ich, im Anblick des Gartenglücks schwelgend, sofort die Buben erblicke, welche Bäume beschädigen und Steine über die Mauer herüber werfen.

                                  Ihr treu ergebener
                                  Emil Kuh.

Eben fragt mich meine Frau, ob sie den Kindern die Erzählungen | vorlesen dürfe? worauf ich erwiderte: die erste allerdings. Spiegel das Kätzchen hatte ihnen meine Frau ungefähr heute vor einem Jahre in Neapel vorgelesen, und erst vor einigen Tagen sagte mein Paul (11jährig) vor sich hin: "Immer fleißig, Herr Pineiß, immer fleißig." Ich habe überhaupt gefunden, dß halbwegs aufgeweckte Kinder Manches von den letzten Dingen der Poesie dumpf ahnungsvoll empfinden, etwan wie den Geschlechtstrieb, der in dem unschuldigsten Knaben den Iste streift, wenn er die Mutter zärtlich umhalst. - Das ist eines der merkwürdigen Capitel. Ihnen darf ich ja schreiben was ich will. Sie können nichts mißverstehen.

     Jetzt mache ich schon die Seite mit der zweiten Nachschrift voll. Ihre dichterische Heiterkeit ist deshalb so wunderbar, weil sie der Farben- und Lichterschmelz ist auf der grauen Untermalung der Welt und des Menschenwehs. Und gar kein deutscher Dichter außer Ihnen hat diese Art Humors, die nur einzelnen Engländern, namentlich Sterne eigenthümlich.

  


 

12. 2. 1874  Keller an Emil Kuh

<ZB: Ms. GK 77 Nr. 19/8; GB 3.1, S. 172> 

Zürich 12. II. 74.

Meine Briefschulden haben sich wieder tüchtig gehäuft und ich kann sie auch jetzt nicht nach Gebühr abtragen, was Gott bessern wolle, ich werde es schwerlich thun!

     Ich danke Ihnen herzlich für Ihre gute Meinung von den neuen Novellen, soweit Sie dieselben kennen; aber rauchen Sie den starken Lobtabak nicht weiter, wenn Sie mir nicht Feinde erwecken wollen wie Sand am Meer! Ich muß ihn für mich selbst noch auslaugen, wenn ich das mir zukommende u zuträgliche Friedenspfeifchen davon genießen will in stiller Ruhestunde. Da das 4t. Bändchen immer noch 2-3 Wochen zögern wird, so schicke ich Ihnen wenigstens die Aushängebogen der einen kleineren Erzählung desselben. Die erste Hälfte ist vor 10 Jahren gemacht, die zweite neulich am Mondsee im Salzburgischen. Dazwischen liegt nicht ein aufgezeichnetes Wort und von der ersten Hälfte hab' ich selbst das ursprüngliche Manuskript in die Druckerei gegeben. Und doch ist der Schluß anders, als er vor 10 Jahren geworden wäre, oder etwas anderes, d. h. nicht mit Bezug auf die Fabel oder Erfindung. Dieß sage ich, weil ich dieser Tage eine Aeußerung von unserm Otto Ludwig über den 1t. Band der Leute v. Seldw. von 1861 gelesen habe aus einem Briefe an B. Auerbach, den Julian Schmidt der Schwätzer in der Westermann'schen Monatsschrift in einem Aufsatze über Ludwig reproducirt. In dieser Aeußerung, mit welcher ich unverdient gut weg komme, fiel mir nämlich wieder das Grübeln | über die Mache auf, dieses aprioristische Spekuliren, das beim Drama noch am Platz ist, aber nicht bei der Novelle u dergleichen. Das ist bei dieser Schule ein fortwährendes Forschen nach dem Geheimmittel, dem Rezept und dem Goldmacherelixir, das doch einfach darin besteht, daß man unbefangen etwas macht, so gut mans gerade kann, und es das nächste Mal besser macht, aber bei Leibe auch nicht besser als mans kann. Das mag naturburschikos klingen, ist aber doch wahr.

     Sie können Sich denken, daß ich bei Entdeckung der fraglichen Stelle in dem Ludwigsbriefe beinah' humoristisch angeregt wurde, da mir natürlich meine eigene Aeußerung über den Wackern einfiel, die Sie haben abdrucken lassen. Sie ist allerdings etwas zu eckig und hart für die Veröffentlichung gewesen.

     Die letzte Geschichte des 4t. Bändchens habe ich dagegen nochmals umgewendet, da sie mir zu niedrig gegriffen und zu skurril erschien als Abschluß des Ganzen. Vielleicht finden Sie, daß gerade hierdurch das was der oben bezeichneten Schule so Kopfzerbrechens macht, verloren gegangen ist und ich es doch habe besser machen wollen, als ich kann.

     Für Ihr Auftreten gegen den Benedix'schen Unglücksnachlaß bin ich Ihnen sehr dankbar. | Ich hatte leider das Buch, weil ich dessen Inhalt nicht gar so kraß glaubte, als gleichgültiges Zeug mit der gleichzeitig erhaltenen neuen Auflage des Rümelin'schen Buches ungelesen zurückgeschickt. Seither habe ich den unglaublichen Inhalt (unglaublich weil von einem gebildeten deutschen Manne herrührend) in den "zwölf Briefen eines Shakespearomanen" von Noiré zum Theil kennen gelernt und wieder gesehen, daß der Lebenstrieb der Neidhämmel doch die stärkste Kraft ist, denn sie setzt über Jahrhunderte hinweg! Ja über Jahrtausende! Denn ich habe selber einen mehr als Bruchstück gebliebenen Epiker unserer Tage, der auf Homer jaloux war, einmal den letzteren ärgerlich "dieser Mann" nennen hören, als ob er jetzt und in der gleichen Straße mit uns lebte.

     Man sollte aber das Benedix'sche Satyrspiel als Beigabe zu einer Tragirung des Rümelin'schen Wesens brauchen; denn auch hier ist die Strafe noch nicht vollzogen. Ich bin der Meinung, daß hier des Pudels Kern nicht der Handwerksneid, aber ein unberechtigter u unbewiesener nikolaitischer Geschmackseigensinn oder vielmehr eine Geschmacksbeschränktheit ist trotz der feineren Rhetorik.

     Ihre verschiedenen Aufsätze will ich Ihnen gelegentlich | zurückschicken und dazu schreiben, wenn ich sie nochmals gelesen habe. Inzwischen danke ich Ihnen tausendmal dafür.

     Die Placirung Ihrer Besprechung der Legenden in der N. Fr. Presse habe ich nicht bemerkt, dagegen haben Sie recht, wenn Sie Ihre Arbeiten nicht gern hinter diejenigen meines Mit-Zürich-Bewohners u guten Bekannten Scherr gesetzt sehen, der alle Tage trivialer und seiltänzerischer wird.

     Ihre Frau Gemahlin kann glaube ich den beifolgenden "Dietegen" (ein Taufname, der nur noch in unser'm Zürcherkalender vorkommt, wo ich ihn geholt habe, sollte eigentlich Dietdegen geschrieben werden) den Kindern vorlesen; ich bin aber in diesem Punkt nie ganz sicher.

     Schreiben Sie mir immer ein par Nachschriften, so lang Sie Platz haben, das ist behaglich und wärmt, wie ein Schnäpslein. Den Passus wegen des die Mutter umhalsenden Knaben verstehe ich ohne Mißverständniß. Ich war ein Kind von kaum 5 Jahren, da ich von einer Nachbarin sagen hörte, man werde ihre Vermählung feiern. Ich verstand "Vermehlung" und träumte gleich darauf von ihr, d. h. von der Person, wie sie entkleidet, in einen Backtrog gelegt und mit Mehl eingerieben und zugedeckt wurde, und dieser Traum hinterließ mir einen sehnsüchtig-traurigen Eindruck, der mich lange Jahre trotz allen Gelächters nie verließ

     Doch nun gute Nacht nach diesem Hauptstück von Kinderei. Es ist 9 Uhr.
                             Ihr G. Keller |

Nächsten Sommer werde ich ziemlich sicher auf ein par Wochen nach Wien gehen. Da muß doch was abgeredt werden.

  


 

14. 3. 1874  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.749;- Kuh/Keller, S. 91>

Meran, 14. März 1874.

Machen Sie Sich auf abgerissene Tagebuchblätter gefaßt; einen zusammenhängenden Brief werde ich kaum zu Wege bringen.

     Wie warm haben Sie mir das letzte Mal geschrieben und wie sehr war ich gerade in der Zeit, als ich diesen Brief empfing, der Wärme eines männlichen Gemüthes bedürftig! Mitten in meine ernsten Arbeiten, in meine Träumereien und in meinen häuslichen Frieden hinein war eine Neigung gefallen, die den ganzen innern Menschen zerstörungslustig aufgerührt hat. Und weil sie dies gethan, so war auch der Quell hervorgebrochen, den ich seltsamer Weise vor einigen Monaten als verschüttet gegen Sie bezeichnet habe und auf dessen Wiedererscheinen ich nicht im Mindesten gefaßt sein konnte. Im Januar und Februar habe ich buchstäblich nichts Anderes als Verse gemacht, einen kleinen Band Gedichte; wohl viel Besseres, wie ich glaube, als jemals in meiner Jugend, ohne daß ich mir deshalb einbilde, daß der Schriftsteller in mir an dem dichterischen Talent einen zu fetten Bissen bekommen habe. Warum sollte ich Ihnen nicht ein paar Proben geben dürfen!?

[...] 

Abends.

Wenn ich nicht wieder heil wäre: ich hätte Ihnen dann wahrscheinlich nicht Einblick in meine Zustände vergönnt, schon deshalb nicht, um mich nicht dem Verdachte auszusetzen, als wollte ich den Heilkünstler in Ihnen anrufen, Sie sozusagen um moralischen Succurs angehen. Meine gute Frau, die viel viel mehr werth ist, als die Erweckerin der mitgetheilten Gedichte, hat öfters, wann wir schwere, bittere, leidenschaftliche, schauerliche Gespräche mit einander hatten, das Wort variirt anhören müssen: "Meinst du, daß Keller in dem was ich jetzt gesagt, mir Unrecht gäbe?" So haben Sie denn auch in eine meiner innern Krisen hineingespielt. - -

     Ihre Erzählung: Missbrauchte Liebesbriefe wirkte auf meine Frau sogar in jenen dunklen Tagen - und sie wirkte rein, in ihrer vollen Schönheit. In Parenthese bemerke ich, daß meine Frau sehr ungehalten wäre, wenn sie wüßte, daß ich gegen Sie in Rücksicht auf Ihre Dichtungen von ihr spreche. Denn sie will eigentlich gar nicht besprochen werden, und sie ist außer in ihrem Verkehr mit mir, verschlossen gegen Jedermann.

     Die Mißbrauchten Liebesbriefe sind in der That der Gipfel Ihrer Darstellungskraft; die Gestalt der Gritli nach meiner Ueberzeugung das anmuthigste Weib, das in der Poesie nach Goethe geschaffen worden. In mein Taschenbuch notirte ich die nachstehenden Bemerkungen, die Sie corrigiren mögen, wenn Sie durch dieselben dazu veranlaßt werden sollten.

     Was gehörte für eine Sicherheit, für ein Zutrauen in sein eigenes Vermögen dazu ein solches Programm in dem Eingange der Erzählung Mißbr. Liebesbr. zu geben, und dann mit der Dichtung selbst doch nicht den Eindruck des angewandten Beispiels zu machen. Gritli. Ein einziges Mal fehlt sie, wird sie zum Fehlen gedrängt, und nun bezahlt sie dafür mit ihrem scheinbar häuslichen Glück, um sich schließlich damit ihr wesentliches Glück zu erkaufen.

     Die einfachsten Verhältnisse - und doch steht bei Keller Alles unter geheimer Aufsicht. -

     Die Kühnheit der neueren Dicher, Alles anzurühren: vielleicht auch eine Folge des Einflusses der Naturwissenschaften. Alle psychologischen wie sittlichen Vorgänge sind vogelfrei geworden. Wir suchen hier gleichfalls tiefere Grundlagen; die bisherigen des Uebereinkommens reichen nicht mehr aus. Daher das Ueberhandnehmen der Darstellung des Intimsten in der Poesie. - Seitdem der feudale Gutsherr aufgehört hat und mit ihm sein ausschließliches Jagdrecht, geht jeder Bauer mit der Flinte | in's Feld und schießt den Hasen. So hat Jeder jetzt auch seine eigene geistige oder sittliche Gerichtsbarkeit. Das nenne ich das Moderne. - -

     Sie aber, lieber Keller, haben dabei noch etwas von der classischen Unbefangenheit und machen mit den Vorrechten oder Uebergriffen der Poesie der Gegenwart nicht Staat, wähnen nicht, daß Homer, mit uns "Modernen" verglichen, einen Schusterhorizont hatte und jauchzen nicht über das grauenhafte Zuviel unserer Erkenntniß.

     Eines ist mir nunmehr in Betracht Ihrer poetischen Eigenthümlichkeit aufgegangen: Sie sind der erste Humorist unter unseren Dichtern, der zugleich ein Dichter ist. Der siebenfarbig gespaltene Strahl des Humors hört bei Ihnen nicht auf ein Regenbogen zu sein, der die Landschaft einrahmt, während bei den anderen deutschen Humoristen, die fälschlich so heißen, die sieben Farben zwar vorhanden sind, aber nicht mehr im künstlerisch einrahmenden Bogen.

     Die Erzählung Dietegen, für deren Aushängebogen ich treulich danke, macht mir noch zu schaffen: ich kann noch nichts Bestimmtes darüber sagen. Die Symmetrie des Burlesk-Gräßlichen, welche in der Staffage herrscht, leitet glücklich wieder in die Sphäre des Humors hinüber. Ob aber das letzte Schicksal des Mädchens nicht zu symmetrisch mit dem Jugendschicksale Dietegens ist? ist mir noch immer ein ungelöster Scrupel. Vortrefflich dagegen finde ich die innere Entwicklung Dietegens vorgebildet und ausgeführt. Gewaltig ist der Schritt des Bösen oder Grausamen aus der Herbheit seines Wesens heraus gezeichnet. Auch die jungfräuliche Wildheit jener Burgunderkriege spricht die Phantasie des Lesers lebhaft an. Wann kommt der 4te Band?

     Wundersam, daß Sie im vorigen Herbst dieses Gedicht zu Ende bringend am Mondsee saßen, als ich - vielleicht zur selben Zeit - in Berchtesgaden oder in Ischl verweilte. Freilich müssen wir uns im nächsten Sommer sehen. Ich habe gar nichts Anderes vor, als: entweder zu Ihnen zu reisen oder Sie in oder bei Meran zu erwarten oder an irgend einem tyrolischen oder schweizer oder bayrischen See mit Ihnen zusammenzutreffen. Ich wage es, ein Wort der Rahel zu gebrauchen, welche einmal an ihre Freundin Pauline Wiesel schrieb: Wie freue ich mich, Dich zu sehen, mit Dir zusammen zu sein, weil wir einander gar nichts zu sagen haben!

     Schade, daß Sie mir die Stelle des Ludwig'schen Briefes verschwiegen haben? Könnte ich sie nicht nachträglich von Ihnen erfahren? Vielleicht würde sie sich hübsch meinen projectirten Aufsätzen über die Leute von Seldwyla einfügen lassen.|

15. März.

Da Sie die Westermann'schen Hefte zu Gesichte bekommen, so werden Sie vielleicht die im Märzhefte erschienene Erzählung Theodor Storms: Viola tricolor gelesen haben; mir hat sie der Dichter, wahrscheinlich im Aushängebogen, schon im Februar gesendet. Ein ergreifendes Fragment seelischen Lebens, kunstvoll isolirt, nicht künstlich hergerichtet - eigentlich müßte man sagen präparirt. Auf alle Fälle haben wir nicht nöthig, nach Amerika hinüber zu blicken und einen Bret Harte anzustaunen, der Seelenzustände mit ethnographischen Streifen verwebt in Fetzen darbietet, indessen ein Poet, wie Storm, sie uns in schönen Flocken gibt. Ich möchte im Uebrigen nicht voreilig über Bret Harte geurtheilt haben, denn ich las nur Eine Erzählung von ihm, Carrie betitelt, im Dezemberheft der Revue des deux mondes. Gustav Freytag allerdings, der diesen Autor, wie ich hörte, überaus angepriesen haben soll (im deutschen Reich) könnte mir von vornherein den Gepriesenen verleiden. Was weiß der Ingraban- und Soll und Haben-Schriftsteller vom Mysterium der Poesie! Ueber Freytag ist gleichfalls noch nicht die Wahrheit gesagt worden. Ich fürchte, sie wird zu spät gesagt werden, nämlich erst dann, wenn Freytag schon wieder vergessen oder in die bibliographische Unsterblichkeit eingegangen ist.

     Ich war zum Voraus überzeugt, daß Sie Rümelin über die Achsel ansehen müssen. Als die erste Auflage seiner realistischen Shakespeare- Studien erschien, da hatte ich vor, dieselben in einer Artikel-Reihe zu zerpflücken; doch ließ ich die Arbeit liegen, weil sie zu viel Vorstudien in Anspruch genommen hätte. Rümelin ist mir ungleich widerwärtiger als ein Subject, wie Benedix, der bloß ein Cretin ist, der Musterknopf der Handwerkerdummheit und des Handwerkerneids. Rümelins Geistreichigkeit aber macht mir seine rationalistische Auffassung des brittischen Dichters erst recht verhaßt. Goltz' Vater sagte einmal zu dem Sohne: Wenn du Dreck bist, stink! Rümelins Buch überduftet den Gestank, den es ausströmt.

     Neulich las ich das Buch des Prof. Brandstäter: Die Gallicismen in der deutschen Schriftsprache, einen patriotisch philologischen Wegweiser, der manches Lehrreiche zum Besten gibt, aber vom Genius unserer Sprache nichts versteht. Er ist viel correcter als unser Einer, aber ich zähle nicht zu den Eseln, deren Farbe der Herr Prof. trägt und deren sentimentale Ohrenbewegungen er sich angeeignet hat. Schillern mutzt er auf, daß er sich ausgedrückt: Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen! Ein Gallicismus. Wenn Schiller ein lederner Professor in Danzig gewesen wäre, dann hätte er sicherlich geschrieben: Es pflegt die Welt u. s. w. Ferner schulmeistert B.: "Rechte der Völker (droit des gens)statt | Völkerrecht. Schiller, Dreißigj. Krieg. V, 432: Er bemächtigte sich gegen alle Rechte der Völker der Person des Kurfürsten(!) (Dagegen 489: Er ließ ihn gegen alles Völkerrecht erhalten.)" - Als ob das Eine das Nämliche wäre wie das Andere! Bei "Sein von denen" anstatt Theilnehmen, führt er den Gallicismus Goethes im Werther an: Das sind nun wieder von deinen Grillen, sagte Albert. - Goethe hätte nach B. schreiben müssen: Das gehört nun wieder zu deinen Grillen. - Den meisten Raum des Buches nehmen Beispiele aus den Schriften Rodenbergs, Hesekiels, Mundt's, Spielhagens, Max Rings u. dgl. ein. Das sind für Herrn Prof. B. Autoren! Daß Gott erbarme. "Ob aber diese billige Rücksicht auch angesehenen Schriftstellern, wie Th. Mundt, Hesekiel, Spielhagen, Brachvogel, F. Lewald, Hackländer, ja Duller, Hebbel u. A. in ihren wohlüberlegten und zum Drucke bestimmten Schriften zu Gute kommen darf, das ist eine andere Frage.." "Ja Duller, Hebbel" ist doch kostbar. Und Hackländer, Brachvogel, diese Schmierer, die vor das Tribunal des Kellners in Ihren Mißbrauchten Liebesbriefen gehören, schreiben "wohlüberlegt"!! Die Gartenlaube, sage die Gartenlaube, wird häufig als Anwalt der Sprachreinheit achtungsvoll citirt. Unter das freche Wort eines Herrn v. Sallwürk Stilistische Studien (nicht stylistisch) Ztg. f. Gymn.: "Wir thun Unrecht Goethes Prosa unter den Mustern unseres Styls zu nennen. Von Schiller kann in dieser Beziehung ebenfalls nicht die Rede sein..." drückt der Danziger Esel sein Siegel. Einen bornirten Menschen, wie Götzinger, der sich an Goethes "wohlig" im Fischer gestoßen hat, um nur Ein Beispiel zu nennen, ruft er als ehrenwerthen Belastungszeugen gegen Goethe heran! Solche Leute machen den wünschenswerthen Proceß gegen die Verwälschung und Verhunzung unserer Sprache anhängig. Die verschiedensten deutschen Blätter rühmen das Buch Brandstäters und veröffentlichen in diesem Augenblicke Riesenartikel über Victor Hugos neuesten Roman. Es ist etwas Wahres an dem Ausrufe Grillparzers: Daß die Deutschen einen Zug des Treulosen haben. Ich möchte sagen: des Niederträchtigen.

     Mir geht es ziemlich gut und ich freue mich auf den Frühling, der in Meran, wie die Ortskundigen versichern, Blüthenwolken über das Thal breitet. Vorläufig ringen die linden Lüfte noch mit den Stürmen aus Nordost.

     Ich lege dieser Epistel den Separatabdruck eines Aufsatzes über David Strauss bei; der Aufsatz bildete den letzten Abschnitt der unseligen Anti-Nietsche-Arbeit.

                    Treulich Ihr
                             Emil Kuh.

Wenn Sie nicht mühevoll kramen müssen, dann leihen Sie mir freundlichst meinen Artikel über Ihre Legenden.

  


 

16. 3. 1874  Emil Kuh an Keller

<WSL: I. N. 126.750; Kuh 1988, S. 104>

                                                            Meran, 16. März 1874.

 
Durch ein Versehen ist der gestern an Sie abgesendete doppelte oder dreifache Brief - um postalisch zu sprechen - recommandirt, aber nicht frankirt worden. Sie werden also Strafgeld bezahlen für meine lyrischen Gedichte. Possierlich genug, ich möchte fast sagen symbolisch lächerlich.

     Wäre es nicht möglich, einen Abdruck Ihrer in einem Auerbachschen Kalender vor vielen Jahren veröffentlichten Erzählung: Das Fähnlein der sieben Aufrechten, von Ihnen zu erhalten? Sind sonst noch verstreute Productionen aus Ihrer Jugendzeit an versteckten oder vergessenen Orten vorhanden, die mir die liebreiche Dichterhand zugänglich machen könnte? Nicht wahr, ich quäle Sie? In der Regel quäle ich nicht auf solche Weise Schriftsteller und Poeten. Dies muß ich wiederholt betonen. Mir wird vielmehr Geringschätzung der "modernen Poesie" vorgeworfen, unzufriedener Geschmack, unbillig wählerischer Sinn. Angesichts der meisten auf der litterarischen Schaubühne beklatschten "Dichterworte" fällt mir öfters das Wort des Mephistopheles ein:

                         Man weiß, das Volk taugt aus dem Grunde nichts.
                        Geschnürten Leibs, geschminkten Angesichts;
                        Nichts haben sie Gesundes zu erwiedern,
                        Wo man sie anfaßt, morsch in allen Gliedern.
                        Man weiß, man siehts, man kann es greifen,
                        Und dennoch tanzt man, wenn die Luder pfeifen.


                                                Herzlichen Gruß.
                                                Emil Kuh.

 


 

30. 12. 1874  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.759; Kuh, S. 135> 

Meran, 30. December 74.

Hier ist die kleine Characteristik der Leute von Seldwyla. Wenn Ihnen nur der Gesammtton und ein paar Stellen Vergnügen gewähren, dann bin ich in Rücksicht auf diese Arbeit vollauf zufrieden. In den letzten Monaten habe ich mit einer freisinnigen Frau, der Princessin Marie Hohenlohe in Wien, (der Tochter der Liszt-Enthusiastin Fürstin Wittgenstein) einige Briefe über Ihre Dichtungen gewechselt, namentlich über Ihre Sieben Legenden, welche dort auf Widerstand gestoßen sind. Sie vertheidigte sich gegen meine Einwürfe anmuthig und zwar so, dß Sie selber daran Ihre Freude haben könnten.

     Merkwürdiger Weise ist mir schon öfters bei Lesung Ihrer epischen Werke der Gedanke gekommen, dß auch die dramatische Production Ihnen im Handgelenke liegen müsse. Sonst denke ich Solches nicht, wenn mir das volle epische Talent entgegen tritt. Wahrscheinlich hat die in meinem letzten Briefe erwähnte Aehnlichkeit, die mir zwischen Ihnen u. Shakspeare auffiel, auf jenen Gedanken unbewußt Einfluß geübt. Das mir mitgetheilte, von Herrn Josef Weilen schmählich verpfuschte Sujet hängt mit Fäden der Volksüberlieferung bei Romanen wie Germanen zusammen, was Sie wahrnehmen werden, wenn Sie Uhlands Abhandlungen über die Todten von Lustnau lesen, wo allerdings das Gemüthvolle gegen das Grauenhafte überwiegt. Ihre Auffassung der Agnes-Bernauer-Fabel | scheint mir die für das Drama allein angemessene. Melchior Meyer hat in die Behandlung dieses Stoffes seine eigene Armseligkeit hinein getragen; Hebbel hat sich künstlich für das allgemeine Staatspathos erhitzt und in der Agnes Bernauer, wie er glaubte, eine andere Antigone hingestellt. Nun erfuhr ich aber durch den ausgezeichneten Philologen Lehrs, aus dessen populairen Aufsätzen über griechische Poesie und Mythologie, dß es ganz und gar unhellenisch gedacht sei, wenn man sich einbilde, dß Sophokles in der Antigone das Recht des Staates habe verherrlichen wollen; er habe vielmehr dem Menschlichen darin die Ehre gegeben. Otto Ludwig endlich ist so lange klügelnd und nach Handhaben suchend um den Stoff herumgegangen, bis er selbst nicht mehr recht wußte, wo der tragische Hebel anzusetzen sei. Sie hätten das Richtige gethan: das Schwergewicht auf den Herzog Albrecht zu werfen.

     Neulich erzählte mir der Director des Gymnasiums in Meran, ein sittenkundiger Benedictiner aus dem Vinschgau, einen Vorfall, der sich vor Jahren hier in der Nähe ereignet hat und der Sie vielleicht zu einer Erzählung anregt, kurz vor dem epischen Thorschluß, den Sie mir angekündigt haben. Ein zwanzigjähriger armer Bursche heirathet ein hübsches junges Mädchen von irgend einem Bauernhofe her. Nachdem das Paar getraut ist, reicht der Bursche der Dirn treuherzig die Hand und sagt: Nun behüt dich Gott! und geht nach Meran zurück an seine Handwerkerarbeit. So unschuldig ist er, dß er mit dem kirchlichen Act Alles abgethan wähnt. Er bleibt wohnen, wo er gewohnt hat, während das betroffene Mädchen weinend zu | den Ihrigen heimgekehrt ist. Diese legen sich endlich in's Mittel, und dergleichen die Freunde und Bekannten des Burschen; die Capuziner, welche allen Meranern die Beichte abnehmen und in alle Familienheimlichkeiten und Klätschereien des Städtchens eingeweiht sind, müssen das Menschenkind, an dem die Erbsünde glücklich vorbeigegangen ist, bearbeiten, auf daß es anfange, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen. Und so wird nun das matrimonium schließlich consumirt. Köstliche Situationen und so liebenswürdig schlüpfrig, daß man sofort davon naschen möchte.

     Was sind das für lyrische, jetzt in Schwang gehende Umtriebe, worüber Sie zu schreiben versprachen? Was Sie gepeitscht wünschen, das verdient sicherlich Hiebe. - Haben Sie die ersten Artikel der Mad. Betty Paoli in der Allgem. Ztg. über Grillparzer durchflogen? Dieses Frauenzimmer scheint die Genialitätin dem air der Kühnheit zu suchen, womit sie: Ich wünsche wohl gespeist zu haben! sagt. Sechsmal Gedroschenes schüttet sie zum siebenten Mal auf die Tenne. Ich will der Allgem. Ztg. nächstens einen Aufsatz senden über Anklagen und Einbildungen der Oesterreicher.

     Jüngst kam mir eine "Characteristik" Ludwig Uhlands von dem Herrn August Silberstein, gleichfalls einem Oesterreicher, zu Gesichte, welche an unfreiwilliger Komik einzig zu nennen ist. Es wird Sie erlustigen, wenn ich Ihnen etliche Sätze daraus mittheile. - "Am 13. Nov. 1862 verschied in Tübingen ein | daselbst am 26. April 1787 geborener, also 75jähriger Mann, aus dem Reiche der Lebenden." - "Die spätere ungestüme Liederzeit der dreißiger und noch mehr der vierziger Jahre hat ihn eher zu den Todten als den "Lebendigen" gezählt, aber was über sogenannte oder wirkliche "Tyrannen" gesungen wurde, des Längeren, ist kleinlich aufbäumend und bleibt verschwindend gegen die erhabenen und stetigen, schlagwerthhaften zwei Zeilen: Und was er sinnt ist Schrecken ... u. s. w." - "Keine Strophe eines Andern erreicht die durch ihre stählerne und stahlblanke Festigkeit schwerthaft zu nennende seine, gegen Ungerechtigkeit, Härte, Willkür, Tyrannen auf prunkenden Höhen." - "Man fragt sich unwillkürlich ... worin die Wirkung bestehe? Und da man sich stets die Antwort geben muß, sie liege in der unmenschlich tiefen und wahren Poesie, muß man einem Poeten die vollste Huldigung gewähren, der in sich den Ausdruck des im Menschenherzen unausgesprochen Gelegenen verkörpert." - ".. er ist auf dem Schloß am Meere und in der Gefängnißzelle, er schreitet neben der Mäherin in der Wiese, er sitzt und schäkert bei Tische, er lehrt die Muttersprache verwenden, er ist beim Hause, wenn es errichtet wird, bei Schmäusen, Hochzeiten und Geburten, bei Noth und Tod und Gedenken Seliger." - Dieses Subject, von welchem Gedichte, in mehreren Auflagen, Novellen, Romane herrühren, haben schon verschiedene unserer Litteraturzeitungen als ein vollwüchsiges Talent gepriesen. - Wer weiß, ob er nicht gar hinter dem Rücken des deutschen Volkes dessen "Liebling" geworden ist, neben dem bekannten Mützelburg.

     Ich fange kein neues Blatt mehr an. Freundliche Grüße von mir und meiner Frau.
                                  Ihr
                                  Emil Kuh.

Ein arbeitsfrohes Jahr 75.

     Schreiben Sie nicht erst dann wieder, wenn Sie über meinen Storm-Artikel und über meine Lyrika zu sprechen Lust haben. Zu dem erstgenannten kommen Sie schon einmal; die zweitgenannten habe ich selber längst still beigesetzt.

  


 

27. 5. 1875  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.760; Kuh, S. 145>

Meran, 27. Mai 1875.

Diesmal haben Sie länger als sonst geschwiegen, so daß ich eine Zeit lang glaubte, der in Ungeschicklichkeiten erfindungsreiche Postbote hätte einen von Ihnen herrührenden Brief verloren. Dann hoffte ich wieder, daß Sie mit der Zusammenstellung Ihres Novellenbandes beschäftigt seien. Auf alle Fälle erfreute mich Ihr Brief und der unverkümmerte Humor, der heraus spricht.

     Mir ist es inzwischen elend ergangen; so schlimm, wie im letzten Winter und Vorfrühling bin ich noch nie daran gewesen. Schon als ich die Studie über Storm schrieb, im October, fühlte ich mich physisch armselig, bald darauf litt ich unter Abgeschlagenheit und Eßunlust, endlich stellten sich auch Fieberfröste ein. Mein Arzt, der stets sein Augenmerk auf meine nun völlig gesunde Brust gerichtet hatte, bemerkte nicht, daß ein Magenkatarrh im Anzuge sei. Die Reproduktion Ihrer Leute von Seldwyla fiel in eine Zwischenpause meiner krankhaften Zustände. Vom Januar an steigerte sich mein Leiden derart, daß ich Monate hindurch nicht einmal recht lesen konnte. Aus dem Bette auf das Sopha, vom Sopha in's Bett, bei beständiger Bitterkeit im Munde und einem ausgesprochenen Abscheu vor Nahrung, so schlichen Wochen um Wochen dahin. Ich sehnte mich, buchstäblich genommen, aus dem Leben hinaus. Die Hebbel-Biographie blieb liegen, was nicht minder zu meinem schweren Mißmuthe beitrug. Gegen Mitte April fing ich an aufzuathmen. Da traf mich in den ersten Maitagen ein harter Schlag. Einer meiner Brüder, den ich mit am liebsten unter meinen Geschwistern hatte, starb eines plötzlichen Todes; er verunglückte | auf der Vogeljagd in dem weitläufigen Garten seiner anmuthigen Besitzung zu Mira an der Brenta bei Venedig. Im März hatte er uns auf einige Tage hier besucht. So krank ich damals war, er erquickte mich dennoch durch seine edle Heiterkeit, seinen leichtbeflügelten Sinn, seine unbefangene Auffassung der Welt. Ihre Sieben Legenden hatte er nach Venedig mitgenommen und mir das Büchlein acht Tage vor seinem Tode zurückgesendet. Das war sein Abschiedsgruß. - Ich half mir über diesen "Wonnemonat" hinweg, indem ich die Lebensgeschichte Hebbels weiter führte. Nun sind anderthalb Bände fertig, also drei Viertheile des Buchs, bei dessen Abfassung ich öfter an Sie denken muß als an irgend Jemanden sonst.

     Von starken Lobpassagen in meiner Besprechung Ihrer Seldwyler weiß ich nichts; die Vergleichungssüßigkeiten lasse ich gelten. Ihre letzte Novelle werde ich demnächst wieder lesen; wahrscheinlich wird sich alsdann der erste Eindruck so corrigiren, wie dies bei Dietegen der Fall gewesen, den ich jetzt in die vorderste Reihe Ihrer Productionen stelle. Daß Sie mit meiner entschiedenen Zurückweisung des Herrn Schröer einverstanden sind, gereicht mir zu besonderer Befriedigung. Prof. Adolf Pichler in Innsbruck meinte, ich hätte das miserable Buch nicht berühren sollen. Wo das absolut Schädliche in der Litteratur hervortritt, da ist auch nach meiner Ueberzeugung die Abwehr geboten. Der Aufsatz scheint sehr gewirkt zu haben. Wenige Tage nach der Veröffentlichung desselben empfing ich einen impertinenten Brief von dem Lyrikus Herrn Martin Greif in München. Ich hatte diesen Mann, einfach, weil ich ihn unter den von Schröernicht aufgezählten, aber denn doch erwähnenswerthen | Poeten vergaß, ohne es zu ahnen, gerade dadurch auf das Furchtbarste verletzt. Sein Brief hauchte mich mit einem wahren Drachengrimm an. Und warum war just ich verpflichtet, Herrn Greif zu nennen? Deshalb, weil ich ihm, als wir einander vor zwei Jahren auf Capri begegneten, anerkennende Worte über ein paar seiner Gedichte gesagt hatte; ferner aus dem Grunde, weil ich ihn, wie er hoch und teuer versicherte "gegen einen angesehenen" Journalisten in Wien als denjenigen Dichter bezeichnet habe, "welcher neben Eduard Mörike und Gottfried Keller den rechten Platz in der Litteratur der Gegenwart einnehme." Dieser Sperling! Das Subject ist offenbar wahnsinnig! sagte ich zu meiner Frau, und als jüngst Daniel Spitzer, der Verfasser der "Wiener Spaziergänge", bei mir vorsprach, da erzählte er mir, Herr Martin Greif hätte vor vielen Jahren mehrere Monate in einer Irrenanstalt zugebracht.

     Storm hat mir am Neujahrstage einen sehr warmen Brief geschrieben, der meine Verstimmung gegen ihn löste. Im Uebrigen halte ich das aufrecht, was ich einmal gegen Sie über seine Prätentionen äußerte. Er will, was auch seine letzten Briefe an mich bezeugen, nicht nur der "stille Goldschmied", der "silberne Filigranarbeiter" sein, wie Sie ihn nennen, er will auch zu jenen Dichtern gezählt werden, welche erschütternde Accorde anschlagen und über die Töne der Leidenschaft verfügen. Daß ich das Letztere ihm bestreite, war eben der Differenzpunct. Denn über meine Darstellung seiner Erzählungen bekannte er, ich sei ihm in die Seele hinein gestiegen. |

     Ich jauchzte, indem ich Ihre zehn Ausrufungszeilen über die Rahel las, womit Sie dieses außerordentliche Wesen characterisirt haben. Die eben erschienenen vier Bände Briefwechsel kenne ich nicht; ich kenne nur das Buch des Andenkens, die drei Bände Briefe, welche Varnhagen vor dreißig oder vierzig Jahren herausgegeben, und ihre Correspondenz mit der Wiesel. Ihr Anerbieten nehme ich an. Wenn Sie mir die vier Bände auf einige Monate leihen wollen, dann werde ich sie im Hochsommer genießen. Ich schrieb einst einen größeren Aufsatz über die Rahel und möchte gar zu gerne einmal ein Bild derselben entwerfen. Besteht das Zusammentreffen mit Goethe, wovon Sie sprechen, nicht darin, daß er zu früher Stunde, wo sie noch nicht Toilette gemacht hat, in Frankfurt, sie besucht, daß sie rasch eine Mantille umwirft und in wenig anmuthendem Negligé ihn empfängt, nur um Goethen nicht warten zu lassen, daß sie aber, nachdem er wieder fort gegangen, sich nachträglich schmückt, um gleichsam vor sich selbst den unholden Eindruck zu verwischen, den sie, wie sie empfindet, auf den großen Menschen geübt haben muß? Der merkwürdige Brief, der dieses Zusammentreffen schildert, ist in dem Buch des Andenkens enthalten und hat sich mir unauslöschbar eingeprägt. - Auf das Hartmann'sche Buch verzichte ich dankend.

     Zu Ihrem Ergötzen packe ich einzelne Allotria zusammen. Der "Dichter" Josef Weilen, welcher zufolge der Cotta'schen Buchhändleranzeige, Grillparzer nachstrebt, erzieht seinen Jungen mit Vorbedacht zum Poeten. Schon als der Range erst 6 Jahre alt war, ward er von dem züchtenden Vater in den | rechten Begriffen der Metrik unterwiesen. Der hochbegabte Knabe redete einmal zum Geburtstage des damals etwa 36jährigen Weilen diesen mit dem Eingangsverse an: "Ich grüße dich, du greiser Vater!" Weilen kam zu Grillparzer und zeigte dem Meister das Gedicht. Der boshafte Grillparzer erzählte am Abend einem Bekannten davon, indem er hinzusetzte: "Der rasend dumme Bub siecht nicht einmal was, er siecht nit, daß der Vatter braune Haar hat." - In einer der Mainummern der Wiener Abendpost zeigte Hieronymus Lorm das Buch OscarBlumenthals "Allerhand Ungezogenheiten" emphatisch an. Die Einleitung des Artikels setzte mit ekelhafter Rabulistik auseinander, daß er den "Muth der Freundschaft" aufbringen müsse, um einen Schriftsteller loben zu dürfen, zu dem er in inniger Beziehung stehe; ja dieser Muth sei eigentlich heilige Pflicht. Er ist ausnehmend groß dieser Muth, denn Lorm erklärt rundweg, OscarBlumenthal schließe sich zweifellos an Lichtenberg und Börne. (Wie kommen, nebenbei bemerkt, diese zwei zusammen?) Hierauf gibt Lorm Proben, welche die tiefe Bedeutung der "Allerhand Ungezogenheiten" darthun sollen. Lauter platte Witzelei; von dem jüdisch albernen Motto angefangen: "Meinen lieben Feinden gewidmet." Eine der Gnomen habe ich behalten: "Man sagt immer: klug, wie der Tag; man sollte aber sagen: klug, wie die Nacht, weil die Nacht keines Menschen Freund ist." Ausgezeichnet! - Ein Herr Johannes Nordmann wieder, ein windiger Geselle, Redactionsmitglied der N. Fr. Presse, edirte ein "Epos", sammt einem Vorworte, in welchem, wie ich aus einer Anzeige des Opus entnahm, folgende Stelle vorkommt: "Wie | Dante und Goethe vorhandene Dichtformen benutzt hatten, um ihren innersten Gedanken Ausdruck zu geben, so glaube auch ich das Resultat meines geistigen Lebens in der epischen Form niederlegen zu dürfen, si magna licet componere parvis."

     Und nach den Jahrmarktslarven ein Gesicht. Faust Pachler, ein sinniger, feiner, aber ängstlicher, unter den oesterreichischen Beamtenverhältnissen verschüchterter Mensch, schrieb mir, einige Tage nachdem er meinen Aufsatz über Ihre Erzählungen gelesen, Nachstehendes, das Sie interessiren dürfte:

     "Einverstanden bin ich mit dem, daß Sie sagen, man sei wegen Romeo und Julia ungerecht gegen Kellers andere Novellen, und ich stelle gleich Ihnen Frau Regel und die Liebesbriefe, sowie die Kammmacher hoch. Es ist übrigens eine solche Eigenart in Keller, daß er sich absolut mit keinem andern Autor vergleichen und daher auch im Grunde nicht abschätzen läßt; Autor im Sinne von Dichter zu nehmen, denn dies ist er. Er gemahnt mich an die Schweizer Holzschnitzereien in seinen sorgfältig überdachten und langsam ausgearbeiteten Werken. Es ist etwas von der Freiheit des Gefangenen darin, wenn ich paradox sein darf; ein so rechtschaffen idealer Mensch, so weltvergessen und weltunbedürftig, wie einer, der seine Zelle liebgewonnen hat und nicht mehr hinaus will. Er sieht nicht mehr Himmel, als sich ihm von seinem hochgelegenen Fenster aus bietet; aber auf diesem kleinen Stückchen sieht er mehr, als alle andern, und wie die Phantasie des Kindes aus dem Schachbrett sich eine Schaubühne, aus den Schachfiguren die Schauspieler einer Tragödie oder dgl. machen | kann - (ich that's) - so zaubert er sich und damit Andern ein Fleckchen Himmel zum Weltall und glaubt an die Wirklichkeit seiner Träume, ja macht auch Andere daran glauben. Wenigstens ich finde seine Gestalten das, was man sonst in alter Zeit Geistererscheinungen nannte: die Lichtgestalt des Körpers, die für den und den in dieser und jener Stunde sichtbar, aber nicht greifbar herum wandelt. Er zeigt nur, was er sieht, nicht, was wirklich ist; und dadurch macht er selbst das Triviale poetisch und das individuell Persönliche zum allgemein Giltigen. Er gibt mehr als alle heutigen Novellisten den Schein für die Sache, und bei ihm verzehrt (nach Schiller) die Form den Stoff völlig. Er kann daher und soll auch nicht nachgeahmt werden. Nur ein Mensch, wie er, kann ein Dichter sein, wie er, frei von jeder Schablone und enggeschnürt in die spanischen Stiefel der von ihm beliebten, ihm passenden und von ihm bewußtvoll ausgebildeten Manier. Daran an Manier, grenzt es; aber ihm verzeiht man sie. Ihn unter die Dorfgeschichtenschreiber, die häßlichsten Realisten, die es gibt, zu werfen, ist geradezu ein aesthetisches Verbrechen. Ebenso gut könnte man Perlen und Diamanten mit Kieselsteinen in dasselbe Collier fassen. Doch was sage ich das Ihnen?.."

     Sie haben mir noch nie über Fritz Reuter gesprochen. Ich, der ich freilich das Hauptwerk Reuters "Ut mine Stromtid" nicht kenne, theile nicht die allgemeine Bewunderung dieses Poeten.

     Am 15. Juni gedenke ich nach Recuaro zu gehen, drei Stunden von Vicenza | entfernt, um dort Brunnen zu trinken. Der Ort liegt an 2300 Fuß über dem Meere, an der venezianisch tirolischen Grenze. Alsdann möchte ich in Tirol ein paar Wochen mich aufhalten, im nördlichen; ich habe Kitzbühel im Auge, wenige Stunden von der Station Wörgl gelegen. Man hat dort Nadelwald und das vorzüglichste Unterkommen, die beste Küche. Was werden Sie unternehmen? Wohin muß ich im Juni und Juli meine Briefe an Sie richten?

     Gute Wünsche in Ihre neue Wohnung! Daß bei Gelegenheit Ihres Umzugs meine "Drei Erzählungen" durch Ihre Hände glitten, berührte mich eigen; überraschend aber die Thatsache, daß sie überhaupt zu Ihrer Kenntniß gelangt sind. Ueber die Magyaren denke ich, wie Sie. Dieses malerische  Culturvolk, das viel früher finanziell und daher auch politisch zugrunde gegangen sein wird, bevor es auch nur zum kleinsten Theile seine Barbarei abgestreift haben kann, ist mir, seitdem ich reif geworden, in innerster Seele zuwider. Ich empfinde beinahe Uebelkeit, wenn ich von "Oesterreich-Ungarn" höre. Ebenso gut würde "Preußisch-Posen'sche Monarchie"klingen.

     Den freundlichsten Gruß
                                  Ihr
                                  Emil Kuh.

  


 

18. 8. 1875  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.762; Kuh, S. 161> 

Bad Ratzes am Schlern, Tirol, 18. Aug. 75.

Seit 1. August lebe ich hier mitten im Lärchenwalde, nachdem ich bei Frau und Kindern in Sais, eine Wegstunde von Ratzes entfernt, mehrere Tage zugebracht habe. Ich bin im Uebrigen auch jetzt mit meiner Familie viel zusammen, weil sie mich beinahe täglich besucht. In der vorigen Woche kam mein jüngster Bruder an, den ich acht Jahre nicht gesehen und den ich sozusagen recht kennen lernen mußte, da wir von einander auch früher stets getrennt gewesen, räumlich wie geistig.

     Seine ganze Jugend bestand aus lauter Thorheiten, Fehltritten, ja Nichtswürdigkeiten. Er stellte eine Abenteurer-Existenz ersten Ranges vor. Endlich raffte er sich auf, die Besinnung kehrte wieder und mit ihr trat eine kalte, überlegene Auffassung der Menschen und Verhältnisse hervor, wie sie bei Menschen seines Alters (er zählt 29 Jahre) selten angetroffen wird. Durch eines meiner Geschwister wurde er mit Ihrem Grünen Heinrich bekannt, den er einige Male gelesen und über den er manche ausgezeichnete Bemerkung gemacht hat. Interessant war mir seine Mittheilung: er habe als Knabe von 6 Jahren einst vor dem Einschlafen träge übermüthig vor sich die Worte hingesprochen: Dieu est un âne, Dieu est un animal! gleich darauf habe er bitterlich zu weinen angefangen und nach einer meiner Schwestern gerufen, er fürchte sich im Zimmer, er wolle nicht allein bleiben! Als er auf jene Scene im Grünen Heinrich stieß, wo dieser in ähnlichen Ausdrücken über Gott sich ergeht, da sei es ihm kalt über den Rücken gelaufen.

     Es ist characteristisch, daß die verschiedenartigsten Individuen von dem Naturgeiste Ihrer Dichtungen gleich stark ergriffen werden, daß der Eindruck derselben auf | sie in der Hauptsache dem wesentlichen Gehalt dieser Dichtungen entspricht, während in die sogenannte aesthetische Beurtheilung Ihrer Poesie sich eine so große Menge schiefer Gesichtspunkte, falscher Auslegungen, dummer Schlußfolgerungen mischt. Ein Beispiel der Art war die briefliche Auslassung Faust Pachlers, worauf ich diesem ungefähr das Nämliche geantwortet habe, was Ihre Glosse darüber enthielt. Sie nennen Manier, schrieb ich unter Anderem, was ich Styl nenne, Sie bezeichnen, indem Sie sagen, daß Keller nur darstelle, was er selber wahrnehme, als eine Eigenheit oder Eigenthümlichkeit des Einzelnen, was das Merkmal der dichterischen Darstellung überhaupt ist, die ohne das Medium der bestimmten Persönlichkeit natürlicherweise nicht zu denken ist; es fragt sich dabei nur, ob dieses Medium möglichst rein vermittle, ob die Ränder der Linse nicht in Regenbogenfarben spielen. Am entschiedensten wies ich das kleine Stückchen Himmel zurück, das Sie angeblich durch ein kleines Fensterchen sehen. Die Vorstellung von demEinfluß großer Städte auf den Künstler, der blöde Aberglaube, daß die äußere Umgebung, "der Pulsschlag" der "Capitale" u. dgl. für den Poeten im höchsten Grade wichtig und bedeutsam ist, gehört längst zu den Themen, über welche ich mir vorgenommen, etwas zu schreiben. Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich mit Ihering über diesen Gegenstand hatte und wobei ich mit dem geistvollen Juristen und vollen Menschen durchaus in Uebereinstimmung war. Hinter jenemAberglauben verbirgt sich bei den Meisten, die ihn theilen, die verdächtige Einbildung, daß das starke dichterische Vermögen mehr wie eine Speise gekocht und zubereitet als wie eine Baumfrucht aus den geheimen Säften der Erde und unter dem Segen der Sonne und des Regens hervorgelockt und gezeitigt werde. Den Geburtsort, die Glücksgaben, Erziehung und Dressur möchten sie gerne für die Eins ausgeben und das angeborene Talent für die Zwei, weil dann der Abstand zwischen | ihnen und dem hervorragenden Künstler sich minder groß ausnimmt, weil sie sich dann leichtlich mit dem Wenn und Aber behelfen können, diesen elendiglichen Krücken menschlicher Rathlosigkeit und Ohnmacht.

     Daß ich vollkommen Ihrer Ansicht beistimme in Betreff der Wichtigkeit, welche Otto Ludwig auf die "Uhrmacherei des psychologischen Räderwerkes" legt, brauche ich Ihnen nicht mehr ausdrücklich zu versichern. Unbegreiflich ist mir aber Ludwigs Wort: daß Sie, wie die großen italienischen Coloristen, nicht zeichnen könnten, auch wenn ich jene Wichtigkeit als die Motivirung dieses Worts mir vergegenwärtige. Gerade den präcisen Zeichner muß Jedermann, der Augen hat, in Ihren Dichtungen bewundern. Otto Ludwig selbst ist gar kein vortrefflicher Zeichner, ungeachtet seines hin und wieder hervorbrechenden plastischen Talents. Das plastische Talent bei Ludwig entstammt nach meiner Empfindung, meiner Ueberzeugung einer zuweilen poetisch verdichteten Stimmung, es ist, wenn ich so sagen darf, die Plastik des Zustandes, nicht die Plastik der Gestalt, die er gibt. Wenn ich Ihre Eugenia lese oder Ihren Dietegen, so verlieren sich niemals die Contouren in den Luft- Licht- und Dunstwellen des einen und andern Gemüthszustandes der Personen, gleichsam in der eben herrschenden Tageszeit der Seele, in dem Farbenton derselben, mit Einem Worte in der Stimmung; und dennoch sind die Contouren von der jeweiligen Situation, wie Stimmung der Personen modifizirt, bald blasser, bald heller, bald im Profil, bald en face zu sehen. Ludwigs Personen jedoch, wo sie nicht die Formel ihres Seins aussprechen, sondern sich einmal unbefangen ausleben, werden derart dem Stimmungsgeiste der Scene, die sich eben ereignet, botmäßig, daß eine Scheidung nicht mehr angeht, weshalb ich von seinen Characteren ungefähr den selben Eindruck zu empfangen wähne, wie von einem eigenthümlich beleuchteten Baum oder wie von Felsengesichtern in einer Landschaft. Es | ist schwierig, sich hiebei verständlich zu machen und ich weiß nicht, ob mir dies annähernd gelungen ist.

     Da Sie sogar ein größeres, umfassendes Werk über Hebbel nicht alsüberflüssig erachten, so darf ich hoffen, daß meine Lebensarbeit kein Schlag in's Wasser sein wird. Wenn nur der nächste Winter mir soviel Gesundheit läßt, damit ich die zweite Hälfte des zweiten Bandes vollenden kann. - An dem Tage, als ich in Recoaro Ihren jüngsten Brief erhielt, der auch der liebenswürdigen, neidlosen Natur Paul Heyses gedenkt, bekam ich ein paar herzliche Zeilen von Heyse, in Folge meines Gedenkblatts an Mörike, das ich ihm unter Kreuzband geschickt hatte. Haben Sie die sachlich anregende Schrift Notters über den edlen Hingeschiedenen schon zu Gesichte bekommen? Die angefügte Grabrede Vischers fand ich phrasenhaft und in eine unleidliche dichterisch-wissenschaftliche Sprache gekleidet. - Die Zeitschrift: Im neuen Reich, die mich wiederholt um Beiträge ersuchte, veröffentlicht in diesem Augenblick einen litterarischen Abschnitt aus meiner Biographie Hebbels, betitelt: Die Litteraten des jungen Deutschlands. Ich werde Ihnen den, leider von bösen Druckfehlern wimmelnden Aufsatz zusenden, wenn er vollständig gedruckt ist. - Rahels Briefe erwecken in mir neben erhebenden Gefühlen vielfach Wiederstreben und Mißmuth. Ein Rahel-Entusiast bin ich schon lange nicht mehr und das seelische Graswachsen-Hören wird mir nachgerade peinlich. Mir fiel da und dort beim Lesen die cynische Bemerkung ein: Eine Lücke bleibt immer unausgefüllt. Auf alle Fälle sind die geschlechtlichen Entbehrungen der tiefsinnigen und wahrhaftigen Frau nicht zu übersehen. Den Aufsatz, den ich vor acht Jahren über die Rahel geschrieben, werde ich Ihnen gelegentlich aus Meran schicken.

     Am 22. reise ich nach Gmunden, Ende der ersten  Septemberwoche nach Baden-Baden.

                                  Mit herzlichem Gruße, Ihr
                                  Emil Kuh.

  


 

11. 12. 1875  Emil Kuh an Keller

<WSL: I.N. 126.764; Kuh, S. 175>

 

Was sind doch Ihre Sieben Legenden, verehrter Freund, für köstliche Dichtungen! Eben genoß ich wieder Ihre Eugenie, nachdem ich durch Robert Hamerlings Aspasia, die ich in Folge einer übereilten Zusage lesen muß, kalt und nüchtern geworden war. Die Stimmung, die mich erfüllt, wenn ich den schlimmen Eindruck falscher Poesie mit den Wirkungen der echten zu tilgen suche, hat Aehnlichkeit mit den kleinen Schnabelstößen des Vogels, der sein Mäulchen nach der Mahlzeit reinigt. In zehn Zeilen, worin Sie einen landschaftlichen Hintergrund markiren, ist mehr Klima und Tagestemperatur fühlbar, als in zehn Capiteln eines Poeten von der Artung Hamerlings. Sein Verstand geht nach Athen, aber sein inneres Auge bleibt in Gratz; vierspännig fährt seine Bildung in den Straßen des Perikles herum, und ohne es zu ahnen streckt seine Phantasie gleichsam eine Bettlerhand aus nach den Almosen an Zügen aus dem Sophokleischen Hellas. Dem Dichter, der diese Bezeichnung verdient, kann es eigentlich gar nicht in den Sinn kommen, eine Reihe großer Bildner, wie Platon, Sophokles, Phidias zum Gegenstande dichterischer Darstellung zu machen, oder die fürchterlichen Lehrmeister zügelloser Wollust, gleich den männlichen und weiblichen Wahnsinnsgestalten des kaiserlichen Rom zu beschwören, um an ihrer Schilderung die poetische Farbenpracht des sinnlich Ueppigen zu bewähren. Beides hat Hamerling gethan. Sein Seidenwurm sitzt anstatt im Laub des | Maulbeerbaums auf einer Sammtschleppe.

     Sind Sie während des Sommers und Herbstes mit einer Production zu Rande gekommen? oder haben Sie nur Allerlei gesponnen und ersonnen? Längst wollte ich Sie fragen, ob die unvergleichlich erschütternde Episode von dem Leichlein im Grünen Heinrich auch den Wurzelfasern der Erfindung nach Ihr Eigenthum ist. Denn auf dichterischer Erfindung beruht sie auf alle Fälle. Die Meisten wissen eben nicht, daß in der Poesie die Erfindung tausenderlei Standorte und Formen hat. Ich möchte aber gerne wissen, ob das unglaubliche Wort: das Leichlein läuft! Ihnen gehört.

     Friedrich Vischer hat mir sein neues Buch über den Goethe'schen Faust gesendet. Ich blätterte eine Stunde lang darin und legte es dann einstweilen zur Seite. Dergleichen Untersuchungen werden mir mit jedem Tage unangenehmer. - Wie lange noch darf ich Ihre Varnhagen-Rahel-Bände behalten?

     Mein biographisches Werk ist um ein wesentliches Stück wieder vorwärts gebracht. Zum mindesten bin ich jetzt auf dem Abstiege. Mein physisches Befinden ist ein leidlich gutes.

     Unter Kreuzband schicke ich Ihnen morgen den in der Wiener Abendpost gedruckten Abschnitt: Der Dichter der Judith.

     Schreiben Sie frohgemuth in das neue Jahr hinüber!

                                  Ihr
                                  Emil Kuh.
Meran, 11. Dec. 75. Abends.

  


 

15. 5. 1876  Keller an Emil Kuh

<ZB: Ms. GK 77 Nr. 19/18; GB 3.1, S 203>

                                                            Zürich 15 Mai 1876

 
Ich habe Ihnen leider nicht geschrieben; je gründlicher ich es thun wollte, je länger schob ich auf u bin jetzt in einem förmlichen Briefbankerott. Von befreundeten Autoren, Vischer, Hettner, Lazarus, Kinkel liegen seit vielen Monaten geschenkte Bände ansehnlichster Art bei mir, u noch habe ich keinem eine Zeile des Empfangs darüber geschrieben.

     Auf 1 Juli bin ich nun von meinem Amte frei; ich habe es nicht länger ausgehalten; den Tag durch Amtsgeschäfte, des Abends soll man schriftstellern, Lesen, Correspondenz führen etc. das geht nicht u bleibt dann meistens alles zusammen liegen. Ich habe nun in poetisch-literarischer Beziehung so viel zugeschnittene Arbeit oder Werch an der Kunkel, daß ich es wohl wagen kann, meine noch mir vergönnten bessern Jahre damit [zu] | zuzubringen, ohne in schlimme Zustände zu gerathen, wie junge Literaten, oder anderseits einem schnöden Industrialismus zu verfallen. Ich würde auch schlechterdings die Zeit nicht finden, nur die Hälfte von dem zu machen, was ich noch machen kann u soll. Auch scheint mir endlich die äußere Seite der Sache etwas zuzulächeln. Der grüne Heinrich ist vergriffen u scheint öfter verlangt zu werden. Wenigstens habe ich nun drei Verlagsangebote für eine neue Ausgabe, die mir von freien Stücken zugekommen sind. Die Leute von Seldwyla sind nun stereotypirt u werden zu wohlfeilem Preise verkauft, u so halte ich es nicht für unmöglich, daß wenn ich noch ein par Sachen dieser Art gemacht habe, ich einen gewissen ökonomischen Halt daran haben werde. Doch genug von diesem Philisterzeug. Ich war eben daran, | Sie doch mit zwei Worten zu bitten, nicht etwa von Meran wegzugehen, ohne mir die nachherige Adresse zukommen zu lassen.

     Hoffentlich geht es Ihnen u den Ihrigen gut. Nächstens mehr. Dank für die Photographie. Die Akten für den schuldigen Brief liegen diesmal noch ordentlich auf meinem Schreibtisch.

                                                Ihr ergeb.
                                                Gottfr Keller


 

29. 11. 1876  Keller an Emil Kuh

<SNM: B:G.Keller 68.47; unveröffentlicht>

                                           Zürich-Enge
                                           29 Nov. 76.

Ich bin wieder in der Lage, verehrter Freund! Ihre Spuren aufzusuchen. Sie hatten mir Anfangs Sommers in Aussicht gestellt, daß Sie mir Ihren jeweiligen Aufenthalt anzeigen und im Herbst in die Schweiz, nach Zürich kommen würden. Keines von beiden ist geschehen, so daß ich befürchte, es stehe mit Ihrer Gesundheit nicht gut. Ich war allerdings im October etwa 10 Tage in München; ich glaube aber nicht, daß Sie während jener Zeit hier gewesen sind u ich Sie verfehlt habe.

     Ich erwarte mit Spannung Ihr Hebbelwerk, das ich schon angekündigt gesehen habe.

     Im Sommer war ich auch nahe daran, nach Oesterreich zu kommen. Allein eine einfältige Schwätzerei, die über mich resp. meine letzte "< FACE="Arial">Villegiatura" daselbst sich in die "Nuova antologia" verirrt hatte u über die man mir keine Aufklärung geben mochte, verstimmte mich etwas gegen meine Wiener Freunde b<e>ziehungsweise deren Anhang. |

    Ich adressire diese Zeilen nach Meran. Wenn dieselben Sie dort finden und Sie in guter Verfassung sind, so geben Sie ein Lebenszeichen; ich habe nun die Muße u Fähigkeit, Briefe rascher zu beantworten, und befinde mich überhaupt ganz behaglich in meinem Schreibstübchen, wo nicht heftig aber continuirlich immer etwas weniges geschieht. Leider hat sich doch ein neuer Uebelstand gezeigt seit der Befreiung vom Amt, nämlich das unbeschränkte Zusammensein mit den Büchern, die mich immer mehr interessiren als die eigene Arbeit und mich viel Zeit kosten. Doch wird sich das auch geben.

     Mit besten Grüßen u Empfehlungen an Sie u die Ihrigen
                                  Ihr alter
                                  Gottfr. Keller

  

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