Paul Heyse (1830-1914)

Editorial


 

Bekanntschaft mit Keller seit 1857; Briefwechsel seit Nov. 1859

Anzahl registrierte Briefe: 53 an, 56 von Keller (104 ZB Zürich)


3. 11. 1859  Keller an Paul Heyse

<Ms. GK 781 Nr. 1; GB 3.1, S. 9>

Lieber Freund! 
 
Professor Vischer hat mir Ihr neues Novellenbuch freundlich überbracht und mir gleich meinen Namen vorgewiesen, mit welchem Sie Ihr gutes Werk verunziert haben in anmuthiger Laune des Wohlwollens.

     Es ist mir schon mehrmals geschehen, daß ich mich ärgerte über Leute, welche diesem oder jenem Begabten nachrühmten, er sei zugleich auch von freundlicher und guter Gemüthsart und frei von aller Abgunst; denn ich fand jederzeit, daß die Leute, die etwas Rechtes können, selbstverständlich auch sonst ordentliche Menschen seien, weil sie den Grund eines reinen Glückes in sich tragen. Und nun wundere ich mich doch selbst über Ihr gutes Herz, wenigstens insofern ich einen Pfeil desselben auf mich gerichtet sehe, ohne mir sagen zu können, mit was ich denselben mir zugezogen. Nun, ich danke Ihnen für den schönen Gruß und werde meinen Dank mit Werkheiligkeit dadurch bethätigen, daß ich beim Verfertigen meiner eigenen Siebensachen recht fleißig an Sie denke, was freilich nur wieder mein eigener Vortheil ist. Die erste Novelle reiht sich prächtig dem Mädchen von Trepi und der Rabbiata an und ist mit der Mühle zugleich von der schönsten neuen Erfindung. Sie haben mit diesem Genre etwas ganz Neues geschaffen, in diesen italiänischen Mädchengestalten einen Typus antik einfacher ehrlicher Leidenschaftlichkeit im brennendsten Farbenglanze, so daß der einfache Organismus | verbunden mit dem glühenden Kolorit einen eigenthümlichen Zauber hervorbringt. In der zweiten Novelle haben Sie mir ein Motiv wie eine Schnepfe vor der Nase weggeschossen, nämlich das feine Bummeln zweier Verliebter einen schönen Tag hindurch in einer schönen Landschaft, wodurch das bewußte Ende herbeigeführt wird. Damit soll mein nächstes Novellenbüchlein schließen, und es kommt sogar ein altes Kirchlein darin vor, in welchem eine Weinkelter steht und mit großem Geräusch gekeltert wird, während Sie ebenfalls eine mit Wein gefüllte alte Kirche haben. Ich werde das meinige Gotteshäuschen nun abtragen müssen, wenn ich nicht den Reminiszenzenjägern in die Hände fallen will. Alle vier Novellen sind wieder von der soliden selbstgewachsen<en> Erfindung, welche die Frucht der peripatetischen Uebungen ist, die der Kopf mit dem Herzen anstellt. Die letzte, das Bild der Mutter, ist sehr stark gepfeffert und wird in manchem Boudoir etwas unsänftlich anstoßen.

     Ich bin nun zunächst auf Ihr neues Drama begierig. Ich selbst habe nun Zeit, meine laufenden oder eher schleichenden Arbeiten baldigst abzuschließen, sonst muß man sich wieder neu besinnen, was ich eigentlich sonst schon geschustert habe?

     Der Schiller macht uns hier ordentlichen Kummer, weil das Heer der Philister sich in zwei Lager geschieden hat, in einen feindlichen Muckerhaufen und einen hohlen Enthusiastenhaufen, der durch übertriebene und unzweckmäßige Forderungen dem ersten in die Hände arbeitet, so daß wir "Comittirte" welche das Schifflein der Schillerfeier ehrenthalber durchschleppen müssen, den Tag verwünschen, wo wir es bestiegen. Glücklicher Weise hat das Schifflein eine gute Kajütenschenke, d. h. wir halten die Sitzungen in einem Wirthshause, wo wir einen trüblich karneolfarbigen Weinmost trinken, alle Tage frisch vom Lande herein kommend. |

     Burckhardt hat uns, wie Sie wissen, böslich verlassen, und schickt nur zuweilen einen Gruß. Ich hätte fast Lust, ihm ein recht muthwilliges u frivoles Buch zu dediciren, um ihm in seinem frommen Basel eine rechte Unannehmlichkeit zu bereiten, mit einer Anrede, in welcher von nichts, als den Wirthshäusern in der Umgebung Zürichs die Rede ist und etwa noch von einigen fingirten Schenkmädchen. Allein er dauerte mich doch zu sehr.

     Nun seien Sie mir auch herzlichst gegrüßt. Nächstes Jahr werde ich Sie wohl einmal in München sehen, auch müssen Sie etwa wieder einen Schweizer Abstecher machen!

                                               Ihr dankbar ergebener
                                               Gottfried Keller
Zürich d. 3t. Nov. 1859.


 

23. 8. 1860  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/2; GB 3.1, S. 11>

Lieber Freund!
 
Ich erlaube mir, Herrn Maler J. S. Hegi aus Zürich, der aus Mexiko zurückkehrt, mit einem herzlichen Gruß an Sie zu rekommandiren. Er ist mein ältester Freund und ein vortrefflicher Mensch. Wenn Sie ihm etwa zu einer gelegentlichen Bekanntschaft verhelfen können, im Kunstverein einführen etc. so würde ich dankbarlichst dafür gesinnt sein. Im Uebrigen inkommodiren Sie sich in keiner Weise.

     Was meinen Fleiß betrifft, so hat er sich seit einiger Zeit gebessert und ich glaube mit Zuversicht, dies Jahr noch mit 2 Produkten abzusegeln.

                                               Ihr ergebener Gottfried Keller.
Zürich d. 23 August 1860.


 

2. 4. 1871  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/8; GB 3.1, S. 18>

Lieber Freund!
 
Lassen Sie ja den abgehauenen Schwanz wie er ist und brennen Sie den Stumpf mit glühendem Eisen, damit nichts mehr heraus wächst.

     Warum man sich nicht sieht? Weil man faul u resignirt lebt u das am Ende noch für eine Tugend hält. Ich nehme mir jedes Jahr vor, nach München u der Enden zu gehen, endlich wird's doch einmal dazu kommen. In zwei Monaten wird es sich entscheiden, ob ich meine Amtsstelle, welche Einen doch vor Mangel u den Wechselfällen des Bücherschicksals schützt, noch länger behalten oder wieder in | die Linie der Literaturbeflissenen rücken werde. Auch im erstern Falle werde ich eine definitive Zeitanwendung einführen und mir die rechtmäßige Muße nicht mehr durch Geschäft oder unsere verfluchte südgermanische Kneiperei, die ich satt habe, rauben lassen. Schon letzten Winter hat mir die Lampe fleißig gebrannt u ich bin fast fertig mit einem 2t. Bande von den Leuten von Seldwyla. Auch habe ich eine Anzahl Novellchen ohne Lokalfärbung liegen, die ich alle 1½ Jahr einmal besehe u ihnen die Nägel beschneide, sodaß sie zuletzt ganz putzig aussehen werden.

     Kinkel hat sich von der deutschen Friedensfeier, der ich auch beiwohnte, ich weiß nicht in welcher Laune fern gehalten u hätte deswegen Herrn Kurz wohl antworten | können. Wenn ich ihn sehe, so will ich ihm davon sprechen.

     Die Franzosen, die mit ihren rothen Hosen unsern feinern u gröbern Pöbel toll gemacht haben, sind wir nun los. Das Geheimniß der dicken Freundschaft liegt darin, daß leider ein Theil unsers Volkes sich selber für solche Teufelskerle hält, wie die Franzosen seien, und zwar weil sie ahnen, daß es leichter ist, denselben zu gleichen, als den Preußen. Die Zeit muß da das ihrige thun und ad oculos demonstriren. Meinerseits gedenke ich, auch poetisch-schriftstellerisch vorzugehen u den Patriotismus einmal in Tadel statt in Lob zu exerciren und will sehen, ob mir die Bestien auch die Fenster einwerfen werden.

     Ihr für alle Freundlichkeit dankbarer
                                               G. Keller
Zürich 2 April 1871


 

25. 3. 1872  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 186; Heyse, S. 68>

 Lieber Freund!
 
Ich will meine Freude und Dankbarkeit nicht kalt werden lassen, zunächst auch, um den vielen Andern, die Ihnen ihr großes Ergötzen an dem kleinen Büchlein bezeigen werden, den Rang abzulaufen, da ich sonst als Ihr allergeneigtester Leser, der mit Ihnen durch Dick und Dünn geht, kein anderes Verdienst und Würdigkeit aufweisen kann, was Ihnen meine kritischen i. e. kritiklosen Zurufe werth machen könnte. In diesen selben Tagen habe ich zufällig eine andere Herzstärkung kennen und schätzen lernen, die in ihrer geistlich-profanen, magenwärmenden und adernbefeuernden Kraft die merkwürdigste Ähnlichkeit mit Ihren Legenden hat: jenen hochwürdigen Schnaps, Benedictine genannt, der Ihnen hoffentlich nicht unbekannt ist. Wenn ja, so möchte ich Ihnen ein Fläschchen schicken, damit Sie die überraschende Ähnlichkeit | studiren und den Vergleich hernach nicht mehr für eine Sottise halten. Eben so tropfen- oder doch gläschenweise habe ich Ihr Büchlein genossen und gleich letzten Samstag, da ich es erhielt, meine "Krokodile" damit bewirthet, die über den "Vitalis" in ein unisones Schnalzen und Schmatzen ausbrachen.

     Und nun ist denn doch endlich auch Ihr Siebenschlaf vollbracht und Sie werden fortfahren uns mitzutheilen, was Sie sich inzwischen Schönes haben träumen lassen. Ich für mein armes Theil bin eines dreiköpfigen Ungeheuers von Roman genesen und liege noch in Wöchnerschwäche danieder, was Sie auch diesen dürftigen Zeilen anmerken werden. Aber Niemand entgeht seinem Schicksal, und ich Ungeduldigster aller schreibenden Sterblichen bin durch die Hammerschläge des vorigen April so mürbe geworden, daß ich ohne zu murren still gehalten habe, als diese langathmige Plage über mich kam. Mit dem festen Versprechen, es nie wiederzuthun, grüßt Sie herzlichst Ihr

                                               sehr getreuer
                                               PaulHeyse
München. 25 März. 72.


 

13. 12. 1876  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 99c Nr. 188; GB 3.1, S. 24 z. T.>

                                            München. 13. Dec. 76.

 
Wenn Sie mir's nur in diesem Leben verzeihen, lieber Freund, was ich nolens nolenti Ihnen - im eigentlichsten Sinne - auf den Hals gezogen habe, so will ich mit dem Jenseits schon fertig werden. Übrigens warten Sie nur, bis Sie das Kleinod mit Augen gesehen und unter irgend einem weiblichen Beistand "anprobirt" haben. Sie werden sich wundern, wie gut es Ihnen zu Gesicht steht. Das erste u. letzte Mal daß ich mich, nur um meinen alten Freund Liebig nicht ernstlich böse zu machen, dazu bewegen ließ, den Kopf durch diese Schlinge zu stecken, machte ich auf meine Frau einen solchen Effect, daß ich in der That unsre schnöde Cravatten-Mode beklagte, die uns nicht erlaubt, dergleichen im Laden zu kaufen und uns bei hohen Gelegenheiten wie die Biedermänner im 16. u. 17ten Jahrhundert einmal schön zu machen.

     Nun habe ich mich heut erst genau erkundigen können, wie Ihnen am | wenigsten Unbequemlichkeiten mit den Formalitäten erwachsen könnten. Ich musste damals einen Schreibebrief an seine Majestät, mit welcher ich über den Geibel'schen Fuß gespannt war, verfassen und zog mich möglichst ungeschickt aus der Affaire, da ich viel zu weitläufig und aufgeknöpft mich äußerte. Wie mir aber der Secretär des Ordens, Staatsrath Daxenberger (als Carl Fernau unser College à la mode de Bretagne), heut Nachmittag an einem feierlichen Ort vertraute - wir hatten eben einem alten Schauspieler die letzte Ehre erwiesen -, brauchen Sie nur an den bayrischen Gesandten in Bern, der Ihnen das corpus meines delicti und das Brevet zustellen wird, den Empfang zu melden und ihn zu ersuchen, Sr. Majestät Ihren ehrfurchtsvollen Dank in Ihrem Namen zu wissen zu thun, worauf Ihr Gewissen sich auf die andere Seite legen und ruhig weiter schnarchen mag. |

     Stehen Sie mit dem Dichter des Georg Jenatsch in mündlichem oder brieflichem Verkehr, so erweisen Sie mir einen großen Gefallen, wenn Sie nun auch mir einen Dank abnehmen. Das Buch hat mich aufs Tiefste ergriffen, die prächtigen Figuren, der herbe Erzklang des Stils, die wundersame Scenerie. (Der Schluß allein, der Vollzug der Rache nach alle dem, was inzwischen vorgegangen, trübte mir den Genuß.) Dergleichen sagt sich so bequem hinterm Rücken und sieht pedantisch oder gespreizt aus, wenn man es in einem eigenen Brief zu Protokoll geben soll. Auch in der neuesten "Dichterhalle" schwimmt ein Meyersches Gedicht als Fettauge auf der salzlosen Wassersuppe.

     Und wie bin ich nach Ihrer Minnesangnovelle < FACE="Arial">No II lüstern worden durch No I, und gerade dies Heft ist lange heraus und mir noch nicht zugekommen. Ich werde Freund Rodenberg dieser Tage mahnen.

     Freundlichste Grüße von meinen Frauenzimmern und dem Bübchen, das einen Abscheu gegen das Abece zu erkennen giebt, der zu schönen Hoffnungen berechtigt. Wir sind leidlich wohl und denken Ihrer getreulich.

                                  Ihr alter
                                  P. H.


 

26. 12. 1876  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/12; GB 3.1, S. 25>

                                            Zürich-Enge
                                           26 Dec. 1876.

Lieber Freund!
 
Ich danke Ihnen tausendmal für die hülfreiche Hand. Das Kleinod u Dekret war schon da und ich befolgte augenblicklich Ihren Rath. Ich bin durch den Witz veranlaßt worden, zum ersten Mal einen letzten Willen zu redigiren, indem ich einen Zettel zu der kleinen Schachtel legte des Inhalts, daß dieselbe nach meinem Tode nach München zurückzusenden sei, nach Maßgabe der Ordensstatuten. So kommt man in die Gewohnheit des Testirens hinein.

     Nun sollte aber wohl auch etwas dem Capitel gegenüber geschehen, was aber nur stattfinden kann, wenn dasselbe über solche Gegenstände Verhandlungen pflegt und ein Archiv hat, überhaupt Eingaben entgegennimmt. Sollte letzteres der Fall sein, so spannen Sie den Schirm Ihrer Güte nochmals über mir | auf und geben mir einen Wink.

     Im Januar werden Sie also mit einer Novelle meine neue Sandfuhre wie eine Dynamitpatrone auseinandersprengen in der Rundschau; doch wird es nicht so grauslich aussehen, wie wenn eine Geyerwalli dazwischen gekommen wäre, denn da kann gar keiner mehr aufkommen.

     Ihre Mittheilung für C. F. Meyer habe ich mit Vergnügen besorgt. Wegen der Exekution am Schlusse bin ich auch Ihres Geschmacks. Er hat sich die Gruppe nicht plastisch vorgestellt, sonst hätte er den Beilschlag vermieden u die Sache zwischen den Männern austragen lassen. Der rasende Ritt der Bluträcher durch das Land, welcher historisch ist, hätte ihm den richtigen Stil angeben sollen.

                                            den 1 März 1877.

Sie sehen an Vorstehendem, daß es wenigstens am guten Willen nicht | gefehlt hat; ich lasse das Veraltete stehen und ergänze es durch den Dank für Ihre neuen Novellen in der Rundschau u Westermann, für das cicisbeische Epos und die Sonette. Sie machen ja Verse, wie am ersten Maimorgen Ihres ersprießlichen Lebens.

     Das meinige (Sonett) betreffend, hat es mir sofort einen zierlichen Vorfall eingetragen. Obiger C. Ferdinand Meyer, welcher eine Art pedantischer Kauz ist bei aller Begabung, schrieb mir, in der Befürchtung daß ich die Charge mit dem Shakespeare der Novelle als baare Münze aufnehmen und so das Wohl meiner Seele und der Kanton Zürich Schaden leiden könnte, augenblicklich einen allerliebsten feierlichen Brief, in welchem er mir die Tragweite und insoferne Anwendbarkeit des Tropus auseinandersetzte und zwischen den Zeilen Grenzen und nöthigen Vorbehalt diplomatisch säuberlich punktirte, ein wahres Meisterwerklein allseitiger Beruhigung. Meine Antwort war aber nicht minder kunstreich und darf | sich gewiß sehen lassen. Daß ich dabei einen mißbilligenden Seitenblick auf Sie werfen mußte, werden Sie wohl begreifen!

     Uebrigens häufen sich Ihre Uebelthaten gegen mich in so erschreckender Weise, daß ich nun ernstlich auf einen Rachefeldzug denken muß.

     Den Nolten Mörikes habe ich seither auch und zwar zum ersten Male gelesen. Ich war in einer fortwährenden Sonntagsfreude über all das Schöne u all die Specialschönheiten, bis am Schluß ich in das tiefste und traurigste Mißbehagen gerieth wegen der mysterios dubiosen Weltanschauung einer Dämonologie, die nicht einmal religiöser Art ist. Was soll denn um Gottes Willen das Auge voll Elend des gespenstisch abziehenden Helden sagen? Und wo geht er denn hin mit der Zigeunerin? Das berechtigte Geheimniß einer solchen Tragödie haben Sie meines Erachtens in Ihrem Jugendperseus klassisch und harmonisch einfach und gut ausgedrückt u s. w.

     Grüßen Sie doch gütigst die Familie Fries von mir; ich werde dem Meister Bernhard bald einmal schreiben.

     Sie empfehlen mich gewiß auch der eigenen hochverehrten Sippe u bleiben gut Ihrem

                                  G. Keller


 

28. 5. 1878  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 189; GB 3.1, S. 27>

Als ich nach Hause kam, lieber Keller, und mit Seufzen den Berg aufgestapelter Novitäten betrachtete, der in sieben Monaten zu einer bedenklichen Höhe angewachsen war, begrüßten mich trostreich in dem Wust die beiden neuen Bände der Zürcher Novellen. Nun haben mich in dieser wunderlichen Stimmung, aus der ich noch immer nicht wieder auftauchen kann, immer noch von Stimmen des Verlorenen umklungen und von fast spukhaften Gesichten auf Schritt und Tritt begleitet, Deine schönen festen Gestalten zum ersten Mal wieder mit einem warmen Antheil an etwas Fremdem durchdrungen, und heute die lieblichen und ganz mit Deinem Blute getränkten Verse | in der Rundschau, und ich will es nicht länger aufschieben, Dir die Hand zu drücken. Ich setzte mehr als Einmal an, in dem römischen Winter Dir einen Gruß zu schicken; aber so sehr ich von dem guten Willen guter Menschen, und dem Deinen insbesondere, mit mir Geduld zu haben, überzeugt bin, so klar bin ich doch auch über die Unmöglichkeit, meinen gebundenen und zusammengeschnürten Zustand einem Freunde verständlich zu machen, der nichts Ähnliches besessen und verloren hat. Ich merke es nur zu deutlich meinen ältesten Intimen an, daß sie die Köpfe schütteln und die Achseln zucken, weil die ganze Apotheke von philosophischen Hausmitteln mir nicht auf die Beine helfen will. Ich bin aber leider so mürbe geworden, daß selbst das Aufrütteln durch die Scham vor mannhafteren | Kreuzträgern nicht mehr bei mir verfängt. Mein armes Weib schleppt zu allem Andern ihre physischen Leiden hin, bei mir ist wieder der alte Nerven-Belagerungszustand ausgebrochen und hält jede rüstige Arbeit nieder. Nun sollen wir im Juli Hochzeit halten, dann ins Engadin zum heiligen Moritz wallfahrten, der schon einmal ein Wunder an uns gethan hat. Aber wenn wir uns auch ein wenig zusammengeflickt haben, am Besten wird es darum immer noch fehlen.

     Ich merke jetzt erst, daß ich ins Du hineingerathen bin. Es wäre schön, wenn auch Du es so natürlich fändest, wie es mir war und ist. Ein leichtsinniges Smolliren ist's doch wahrhaftig nicht, wenn Du bedenkst, wie lang es her ist, daß wir den ersten Trunk Wein mit einander gethan haben. |

     Ich habe die sieben Aufrechten wiedergelesen, mit jener allerwohlthätigsten Rührung, die aus dem einfach Echten und Liebenswürdigen quillt. Die Ursula war mir zuerst fremder, die schönen scharfen Züge des ersten Theils gingen mir gleich ins Blut, dann verkühlte sich etwas der Antheil, da die Hauptfiguren zurücktraten, nun aber blieb auch hier eine ganze, reine und starke Nachwirkung zurück und ich finde, daß Alles so sein muß. Du hast Alles, was mir fehlt, lieber Theuerster. Niemand betrachte ich mit wärmerem, froherem Neide, der Eins ist mit dem herzlichsten Gönnen, da alles Gute des Andern auch uns zu Gute kommt. Lebe wohl und laß einmal von Dir hören. Mein "Frauenzimmer" grüßt schönstens und hofft Dich bald einmal wiederzusehen.

                                                Treulichst Dein
                                                PaulHeyse
München. 28. Mai 78.


 

9. 6. 1878  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/14; GB 3.1, S. 29>

Zürich 9 Juni 78.

Dein Brief, lieber Freund, ist mir mit dem angebotenen Du ein rechtes Maigeschenk gewesen. Du wirst gedacht haben "Ich habe schon so viel für ihn gethan, daß mir zu thun fast nichts mehr übrig bleibt" u s w. Nun, unsereins nimmt und frißt alles dankbarlich, was er bekommt, wie ein schmunzelndes Bettelweib. Deine leidenden Zustände will ich weder betrösten noch anzweifeln; wenn es Dir vergnüglich zu Muth wäre, würdest Du nicht klagen und jeder hat die Seite, wo ihn das Unheil packen kann. Ich kann mir auch denken, daß das zu Zweitsein von Mann und Frau gewisse Leidenskategorieen verdoppelt, wenigstens erscheinen diese dadurch nach außen hin feierlicher und tiefer oder mit einer Art von Erhöhung u. s. f. Gewiß ist nur, daß ich herzlich Theil nehme und Besserung wünsche. |

     Indessen nimmt mich Wunder, was Du schaffen willst, wenn Dir wieder wohl sein wird, da du so schon fleißiger oder productiver bist, als mancher gesunde Kaffer. Uebrigens, was mich betrifft, bist du ein bischen ein Schmeichelkater mit nicht undeutlichen Krallen. Wenn ich alles habe, was Dir fehlt, so braucht Dir blos nichts zu fehlen, und ich habe säuberlich gar nichts. Solche Vexirbouquets kann Jeder dem Andern unter der Nase wegziehen. So verhält es sich auch mit der Anführung meines Winterliedchens in deinem meisterhaften Seeweib. Das Buch kam mir erst vor vier Wochen in die Hände und als ich an die Stelle kam, war ich ganz verblüfft und dachte nur: Donnerwetter! Als aber nachher das Buch bei Seite geschafft wurde in der Novelle, hatte ich | genau das Gefühl eines hospitirenden Nachbarknäbleins, das wegen begangener Unnützlichkeiten aus der Stube gebracht wird und heult. Dessen ungeachtet erfreute mich an den "neuen Moralischen" der schon von Georg Brandes hervorgehobene Falke, der wiederum durch alle diese Novellen so ungebrochen weiter fliegt.

     Mit meiner letzten Zürcher Geschichte, der Ursula, hat dich der ahnungsvolle Engel nicht betrogen bezüglich des ersten Eindruckes. Das Ding ist einfach nicht fertig, die zweite Hälfte mit sehenden Augen nicht ausgeführt, weil mir der Verleger wegen des üblichen Weihnachtsgeschäftes auf dem Nacken saß. Das Versespektakel in der Rundschau wird sich leider noch einmal wiederholen, obgleich du, wie mir Rodenberg schreibt, mit wohltönenden Sonetten dazwischen fahren wirst. Ich muß eben noch einiges der Art fortsündigen, damit ich eine Nothausgabe meiner "sämmtlichen Gedichte" zuweg bringe. |

     Die Verlobungsanzeige aus Rom habe ich s. Z. erhalten und wünsche nun dem Fräulein und den Eltern das landesübliche Maß von Glück und noch eine gute Handvoll als Zugabe. Alle zehn Finger halte ich ausgespreizt wie eine Höckerin, die eine Metze Kirschen generös aufgethürmt hat. Nachher wünsche ich eine fröhliche Hochzeit.

     Wenn Ihr Euch nicht vorher in der Schweiz sichtbar macht, so komme ich vielleicht im September für ein par Tage nach München, wo ich inzwischen zu grüßen bitte, wer sich etwa hiefür darbietet, Fries, Schneegans etc.

     Vor allem aber die verehrten Inhaberinnen des Frauenzimmers.

     Wegen der Berliner Ereignisse brauche ich nicht extra zu condoliren, da man hier ebenso consternirt und Böses fürchtend ist, als draußen im Reiche. In einem Bierlokal wurde dieser Tage ein social demokr. deutscher Literat der sich in spöttischem Sinne äußerte, von hiesigen Bürgern hinausgeschmissen, tout comme chez vous. Viele Grüße

                                                G. Keller.


 

9. 7. 1880  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/20; GB 3.1, S. 42>

Zürich 9 VII 1880.

Lieber Freund! Tausendfältigen Dank für Brief und Weiber von Schondorf. Ich will nun trachten, meine "schonende Freude" (ein ingeniöser Ausdruck!) mit deinem dramatischen Hypochondrismus möglichst zärtlich zu vermählen, ohne der Aufrichtigkeit Eintrag zu thun. Da muß ich denn zuvorderst bekennen, daß Du mit der gewählten Auffassung und Behandlung Recht hast. Der erste flüchtige Eindruck war bei mir, es dürfte ein bischen bunter und breitspuriger sein; allein am gleichen Tag noch, eh' der Brief nachkam, fand ich, dadurch käme man sogleich in's sogenannte Shakespearisiren hinein, im bekannten Stil der bekannten Uebersetzung, und dann würden alle feineren Leute sagen: connu! So aber hast Du ganz das Richtige getroffen, indem Du das Motiv aus sich selbst heraus sich hast entwickeln lassen und nichts dazu gethan, als die höhere ethische Frage. Eine gute Ausstattung und Inscenirung, welche ja auf jeder Seite mitdichtend vorgesehen ist, muß das deutlich herausstellen. Beim Lesen hat mir, beiläufig gesagt, in ein par Interjectionen und proverbialen Wendungen die Manier etwas zu tief gegriffen erscheinen wollen. Da ich aber auf der Bühne | nicht zu Hause bin, so mag diese Bemerkung nichtig sein. Die Charaktere des Bürgermeister-Paares, der Tochter u Abels sind gewiß durchaus glücklich und das Uebrige entsprechend daran gewachsen. Nur die eigentlich militärische Aktion der Weiber ist mir, für jetzt noch, zu unvermittelt. Selbst der Commandant scheint mir zu wenig verwundert über das Phänomen. Die Wahrscheinlichkeit hätte gewonnen, wenn die Handlung in Einem Zuge, während die Rathsherren eingeschlossen blieben, vor sich gegangen wäre; aber dann hätte die Unterwerfung und Reue der Weiber, das beidseitige Rechthaben etc nicht herbeigeführt werden können, und so zeigt es sich wieder, daß der Herr und Dichter Recht hat.

     Wegen des Erfolges solltest Du dich doch endlich nicht mehr grämen, sofern Du's überhaupt je gethan hast. Ich habe neulich wieder deinen Hadrian und die Sabinerinnen gelesen und mich abermals gewundert, daß die Hamletspieler und die virtuosischen Heroinen sich nicht längst auf die Prachtsrollen, die in diesen Werken bereit liegen, geworfen haben. Es ist | eben heutzutage alles dummes Viehzeugs, das nur durch einen Zufall mit der Nase auf das grüne Kraut gestossen wird. Doch statte ich meine Glückwünsche unverfroren jetzt schon ab! Mit aller Glut meiner schonenden Freude!

     Betreffend einen Luftkurort, wie Ihr ihn wünscht, wüßte ich zur Stunde mit einiger Sicherheit nur den Ort "auf dem Stoß" eine von gesunder und milder Luft umspielte Höhe bei Brunnen am 4 Waldstättersee zu nennen. Ich war noch nie dort; aber viele Zürcher und andere Schweizer gehen gerne hin und rühmen den Aufenthalt. Ein anderer beliebter Luftort ist Schwarzenberg in der Pilatusgegend. Da aber die Gäste dort zahlreich aus der Classe der Schullehrer und kleinen Geschäftsleute stammen, die gewöhnlich nicht wissen was gut ist, so fürchte ich, die Verpflegung könnte nicht ganz nach Wunsch sein. Aber fröhlich muß es dort zugehen; denn im Winter bilden sich in den Städten Vereine ehemaliger Schwarzenberg-Gäste, die kleine Erinnerungsfeste | mit Tanzvergnügen für die Frauen abhalten und also nicht warten mögen, bis es wieder Sommer ist. Ueber die Nahrung habe ich indessen nie klagen gehört. Der "Stoß" aber wird mehr gerühmt.

     Wenn ich die Freude haben soll, das genesende Königspaar Ende dieses Monates zu sehen, so kann ich den Grünspecht unseligen Andenkens persönlich überreichen. Ich habe ein Schmerzensjahr darüber zugebracht. Die Geld- und Hungersachen z. B. waren mir so zuwider, daß ich sie monatelang liegen ließ, wie wenn sie mir in natura bevorständen. Unverdienter Weise bleibt der Kerl jetzt leben u. s. w. Deinen Fleiß in Novellen und andern Dingen beobachte ich sehr wohl, verspare aber das Lesen auf die Buchform, da ich auf dem Museum keine Novellen lese. Mit meinen neuen oder alten Novellchen will Rodenberg im Novemberheft anfangen. Es giebt wieder Lalenburgergeschichten, wie Storm meine göttl. Erfindungen nennt. Dein G. Keller.


 

13. 11. 1880  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/24; GB 3.1, S. 48>

nach Martini 1880

Du hast mich nicht wenig beruhigt, liebster Freund; denn wenn ich von dem Tenor deines lieben Briefes auch abziehen muß, was billigermaßen nur deinem eigenen edeln Wesen innewohnt und gutzuschreiben ist, so bleibt mir noch genug übrig, um mich vor mir selbst bestehen zu lassen. Die beiden Grundübel des Grünlings: die unpoetische Form der Biographie und die untypische Specialität der Landschaftsmalerei, bleiben freilich als Kielwasser unverändert und lassen das Schiff nie fröhlich fahren.

     Auch danke ich Dir feierlichst, daß Du mich so freundschaftlich ein bischen mit unterstehen lässest unter den Poetensegen deiner Mutter.

     Deine Novelle ist im Novemberheft der Rundschau wieder nicht gekommen; | dafür die hübsche Geschichte Wilbrandts, an der mich nur die kühle Verniade mit der Venus etwas chokirt. Indessen werde ich immer begieriger auf die neuen Provençalen deiner Muse. (Wilbrandts Haman aus dem Abendstern ist zum Theil von ungewöhnlicher Energie und tiefer Wahrheit in der Schilderung; nur scheint mir das Ende nicht ganz entsprechend: diese sanften Nazarener Gesichter sind in der Regel nicht so unglücklich, sondern werden öfter dick u fett.)

     Ein weiteres Vergnügen hatte ich neulich daran, daß dein Herr Verleger Wilhelm Herz mir im Voraus den Verlag der von der Rundschau angekündigten Novellen anbot, was mich Deiner guten Gesellschaft wegen eitel machen würde. |

     Grüße und empfehle mich freundlich der verehrten Gemahlin und schätzbarsten Fräulein Tochter. Noch schäme ich mich, wie ich mich letzthin verleiten ließ, Euch im Gasthof um Abendessen und einen Schoppen Extrawein zu schinden. Einstweilen konnte ich sagen:

                        Mit Euch, Frau Doctor, zu soupiren,
                        Ist ehrenvoll und ist Gewinn!

     Und das, nachdem Ihr so schmälich Hunger gelitten in meinem schönen Vaterlande.

     Nächstes Jahr wollen wir's besser machen.

     Dein dankbares Christengemüth, das Dich allen bekannten u unbekannten Göttern Athens anempfiehlt

                                               G Keller


 

4. 1. 1881  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 201; Heyse, S. 143>

München. 4. Jan. 81.

Wir sind längst wieder unter eignem Dach und Fach, liebster Freund. Meine "kleine Gesundheit" war Anfangs November schon wieder so eingeschrumpft, daß sie gänzlich zu verschwinden drohte. Da sprach meine kluge Frau ein Machtwort und entschloß uns von heut auf übermorgen zu dieser Fahrt. Es galt aber nur, überhaupt einmal zu kosten, wie Paris schmeckt, um auch dieses Gericht auf der großen Weltspeisekarte zu kennen. Nun, es schmeckt freilich nach Mehr, aber ein Erstgeburtsrecht würde ich nicht darum hingeben. Es fehlt ganz und gar dort an jenen feierlich stillen Erinnerungswinkeln, in denen sich wie in Rom, Florenz, Venedig die Seele einnistet wie der Vogel im Busch, an dem warmblütigen, kindischen und erhabenen Volksstil, der einem Menschenfreunde da unten das Herz gewinnt, am Schönen und Unschuldigen der südlicheren Romanen, und eine bis ins Kolossale u. Unabsehliche gesteigerte Eleganz ist kein Ersatz dafür. Aber ich will Dir keinen "Pariser Brief" schreiben. Wie ich zurück war, fielen die neuen Eindrücke so kühl und platt von mir ab, daß ich die Feder wieder ansetzen konnte, wo ich sie vor 14 Tagen niedergelegt hatte. Da hätte ich nun | <für> Deinen letzten Brief vor Allem danken sollen, verlor mich aber richtig ins Altgriechische und blieb so rüstig dabei, daß ich am 2ten Weihnachtsfeiertag einem sterbenden Alkibiades die letzte Ehre erweisen konnte. Ob er nun friedlich in der Familiengruft meines Pultes, ove sono i piu, beigesetzt werden wird, oder ob er sein Bett aufnehmen und über die Bretter der k. k. Hofburg wandeln soll, habe ich noch nicht überlegt. Es eilt auch nicht. Auf "Stücke mit nackete Füß" wartet in Deutschland kein Mensch.

     Und jetzt will ich einen langen langen Winterschlaf thun und mir von jenem Buch, das ich Dir in unserer letzten Mitternachtsstunde ankündigte, Einiges träumen lassen. Seltsam! daß Du nicht den Kopf dazu geschüttelt hast, ist dem alten Project so in die Glieder gefahren, daß es sie gereckt u. gestreckt hat und plötzlich zu einer ganz gesunden Gestalt zusammenwuchs. Dabei haben sich alle überflüssigen Extremitäten abgesondert, und ich kann hoffen, das Ganze in Einen starken Band zusammenzudrängen. Hiefür braucht es freilich rüstigere Kräfte, als der alte anbrüchige Sohn meiner lieben Mutter einstweilen einzusetzen hat, | und darum will ich probiren, ob ich mich noch einmal durch eine tiefe Ruhe so weit bringen kann, daß es nicht einem Selbstmordsversuch gleicht, wenn ich mich in den Abgrund einer solchen Aufgabe stürze.

     Nun erwarte ich mit Ungeduld Deine neuen Rundschau-Gaben, und fahre inzwischen fort, die alten immer wieder durchzunaschen und mir, wenn mein Mund davon überfließt, Haß u. Mißvergnügen meiner theuren Collegen zuzuziehen. Desto wohliger konnte ich vor kurzem meiner Grünen Heinrichs-Wonne Luft machen gegen einen ganz unconcurabeln Keller-Enthusiasten, Ernst Fleischl. Laß Dich aber nicht irren des Germanistenpöbels Geschrei. Diese Leute sind wie die Schlangen, die ein Lebendiges nur genießen und verdauen können, wenn sie es vorher mit ihrem Schleim überzogen haben. Da sie einem Dichtergebilde nichts abgewinnen können, wenn es ihre "Methode" nicht in Bewegung setzt, so beginnt ihr Interesse erst mit den Varianten. Und auch hier wäre ja Manches für eine tiefere Betrachtung zu holen, wenn das ewige Starren durch ihre Goethebrille die Guten nicht myopisch gemacht hätte. |

     Was Du über die Laokoonfrage schreibst ist ganz nach meinem Herzen. Ich habe längst erwartet, daß einer der modernen Experimental-Aesthetiker eine Abhandlung schreiben würde über den Einfluß der Photographie auf unsere Kunst u. Literatur, da ich in derselben die Erzeugerin u. Amme unseres heutigen Realismus erblicke. Aber jene Herren haben wichtigere Dinge zu thun und schreiben selbst realistische Romane, in denen sie den Ekel unters Mikroskop bringen. - Freund Petersen hab' ich jene Stelle Deines Briefes mitgetheilt, als Antwort auf seine Frage, warum ich bei meiner Hexe von der guten alten Gepflogenheit abgewichen, den Leser sich allein etwas malen zu lassen. Übrigens hat er auch übersehen, daß in diesem Falle das Unterschlagen des Portraits eine pure Affectation gewesen wäre. Mein Held wacht ja aus der Ohnmacht auf u. entdeckt Zug für Zug das Gesicht u. die Gestalt, die sich's an seinem Fußende bequem gemacht hat.

     Lebewohl, Geliebter! Und empfange die schönsten und herzlichsten Neujahrswünsche von meiner Frau und dem langen Fräulein. Grüße auch Dr. Bächtold, von dem Du wohl schwerlich je eine Vergewaltigung zu befahren hast. Und schließlich kannst Du jeden Augenblick den "Haftbanden entfahren" und in die Arme flüchten Deines getreuesten

                                               P. H.

Auch an Prof. Meyer einen freundlichen Gruß, u. an die Meise!


 

8. 4. 1881  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/26; GB 3.1, S. 51>

Zürich 8 April 1881.

Endlich komme ich herangeschlichen, lieber Paul, wie das schlechte Gewissen selbst, mich endlich wieder bei Dir einzustellen. Das Erbübel, das wirklich niederschreiben zu müssen, auf eine Anzahl periodischer Termine, was man sich peripatetisch zurechtgeträumt hat, plagte mich seit dem letzten Dezember, und wenn ich auch die Hauptsache immer in acht Tagen jeden Monats zuwege brachte, so ließ ich doch dabei alles Briefschreiben. Jetzt bin ich Gott sei Dank wieder aus der Rundschau heraus, drin ich mich habe herumdrehen müssen, wie der Hund im Kegelspiel, und kann wieder an Anderes denken.

     Für Deinen guten Brief vom 4 Januar herzlich dankend, bezeuge ich nachträglich meine Theilnahme an Eueren Pariser Genüssen, die ich wol auch einmal goutiren möchte, wenn der Aberwitz der Leute dort mich nicht ein wenig abschreckte. Doch stört das außerhalb vielleicht mehr, als wenn man mitten drin ist, und wer weiß, wie froh die Welt gelegentlich wieder über das Nest wird, cum grano salis genommen. |

     Jetzt habe ich aber einen moralischen Abgrund schüchtern vor Dir zu entschleiern, theuerster Herr und Freund! der Dich kurios angähnen wird: Ich habe den Gegenstand des neuen Romanes, von dem Du mir letzten Herbst auf der Meise hier gesprochen, gleich am andern Tag vergessen, d. h. das Gespräch steigt mir erst mit deinem Briefe in der Erinnerung wieder auf und ich weiß nicht mehr, welches Problem es ist, von dem Du sprachst, ich weiß nur noch, daß es mich sogleich anmuthend frappirte. Durch irgend welche psycholog. Vorgänge ist das infame Symptom beginnender Alterszustände möglich geworden. Spring' also über die schwarze Spalte hinweg und sag' mir's nochmals, was es ist. Ich hoffte immer, das Gedächtniß daran würde sich unerwartet einmal einstellen; allein es ist und bleibt verschwunden. Was es aber auch sein mag, so denke ich hinsichtlich der gesundheitl. Anstrengung, Du werdest doch ganz gemächlich damit anfangen können oder es schon gethan haben, und die Bogen ruhig auf einige Zeit weglegen, so wie es zu viel wird, so kann es unvermerkt doch fertig werden und plötzlich da sein.

     Freilich scheint Dein rastloser Fleiß ein so halbwegs philisterliches Verfahren nicht zuzulassen. Mit Bewunderung sehe ich überall | die Früchte desselben, lese die prächtigen Anfänge auf dem Museum und freue mich auf den häuslichen Genuß in meinem Sorgenstühlchen. Und dabei legst Du zwischenhinein immer neue Tragödien und andere Dramen in's Pult. An meinem unliterarischen Wohnort habe ich nicht vernehmen können, ob der sterb. Alcibiades wirklich dort geblieben ist. Nämlich unliterarisch sind die Bürgersleute mit denen ich verkehre; sonst wächst hier ein wildes Literatenthum heran, schöner als irgendwo, nur geht man nicht mit um.

     Verfeinde Dich doch nicht zu sehr wegen meiner cryptogamen Verdienste mit deinen Genossen, sie hauen sonst schließlich nur mich auf den Kopf. Die Schelle des Shakespere der Novelle, die Du mir an den Hals gehenkt, wird da und dort angezogen; ich werde nächstens einen Commentar liefern. Auf dem Münch. Kupferstichkabinet findest Du vielleicht die Blätter des längst verstorbenen Berner Malers Gottfried Mind, der ein halber Idiot war, aber drollige Katzengruppen zeichnete. Diesen nannte man auch den Katzenraphael. Die kindische Anwendung der philol. historischen Methode der jungen Germanisten (deren Feld schon abgewirthschaftet scheint) auf unsere allerneusten | Hervorbringungen ist allerdings etwas ärgerlich. Die Lächerlichkeit wird den Spaß aber nicht alt werden lassen, besonders wenn man ihn gelegentlich etwa ad absurdum führt.

     Petersens Reaktion gegen das malerisch beschreibende Element ist mir nicht auffallend; er will als Dilettant mitthätig sein und selbst malen, liebt daher nur andeutende "Drucker" und leichte "Touchen". Wäre er nicht ein so enthusiastisch freundlicher Kerl nach verschollenen Mustern, so müßte man ihm einmal Goethes Untersuchung über den Dilettantismus empfehlen, den der Alte so schalkhaft als ein gemüthliches Schema hinstellte. Etwas störender war mir in seinem letzten Briefe das Lob der Resignation des Grün. Hch. u der Judith am Schlusse meines Vierspänners, indem er mit elegischer Klage grundsätzlich das pathologische Concretum als das allgemein Richtige und Bessere anpries und den unschönen Gemeinplatz des "entzweigerissenen Wahns" auftischte. Es paßt das nicht recht zu dem Vergnügen, das er sich immer mit seinen Kindern macht und besingt, wie billig. Von den Experimental-Aesthetikern ist so wenig Gutes zu erwarten, als von den philologischen germanist. Realkritikern, weil beide bereits die Seele des Geschäftes verloren oder nie gekannt haben. Die innige Verbindung von Inhalt und Form ist aber für die Untersuchung so unentbehrlich, wie für die Produktion, und zwar subjektiv wie objektiv. Die allerschönsten Grüße an die verehrte Frau Doctorin und das der Verehrungswürdigkeit immer länger entgegen wachsende lange Fräulein.

                                               Dein G. Keller


 

5. 6. 1881  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 202; GB 3.1, S. 53>

Wenn das Sprichwort Recht hätte, Liebster, und Schweigen wäre wirklich Gold und Alles, was ich in diesen letzten Monaten gegen Dich zusammengeschwiegen, würde Dir bar ausbezahlt, so müsstest Du zur Stund ein kleiner Millionär sein. Ich aber, wenn ich einmal der Gläubiger war, habe mich nie bereichert gefühlt, hätte vielmehr mit Abschlagszahlungen in schlechterem Metall vorlieb genommen, wenn's nur nicht gerade Blech gewesen wäre. Der Himmel weiß, welcher Teufel mich ritt, daß ich mir fest einbildete, ich müsse Dir etwas recht Sinniges über Dein "Sinngedicht" sagen, eher könne ich mich nicht vor Dir sehen lassen. Und da ich zuerst abwartete, bis ich mich des Ganzen erfreut haben würde, und hernach wieder am Einzelnen hängen blieb, ist dies dumme Verstummen zu Stande gekommen, das ich heute beim Styx und allen Höllenrichtern für ewige Zeiten abschwöre. Ich hätte durch Nutzen klüger geworden sein können. Denn oft ist mir's mit Deinen Sachen so ergangen, daß ich dies u. das zu Anfang nicht ganz nach meinem Gusto fand, was mir hernach desto trefflicher schmeckte, da Deine Sachen eben keine Kartoffeln sind von denen der Dichter singt: "sie däu'n sich lieblich und geschwind". Wenn ich nun | aber doch "etwas Vorläufiges" sagen soll, so ist mir, abgesehen von der gemüthlosen Zerstückelung durch die monatliche Collation, der Zweifel ein wenig im Wege gewesen, ob Alles in einem nothwendigen Zusammenhang stehe, oder die Bilder nur lose in den Rahmen gefügt seien. Ich suchte daher hinter Manchem mehr, als seiner Natur nach dahinter sein konnte, und verdarb mir das frische von der Leber weg-Genießen. Nun sehe ich, daß ich mich selbst zum Besten gehabt habe, und in der Rückschau treten die einzelnen Figuren in ihrer unbekümmerten Selbstgenüglichkeit ganz anders und ganz mit Deinem alten Zauber vor mich hin, und so werde ich sie jetzt zum zweiten Mal genießen, als ob es keinen Rahmen in der Welt gäbe. (Nicht daß ich diesen geringschätzte; er ist nur nicht weit genug, Alles zu fassen, was über seinen Rand schwillt.) Ob ich dann über drei oder vier Anstöße hinüberkomme, die sich mir in die Seele gehakt haben, bin ich selbst neugierig zu erproben. Ob die Abwandlung der Sippschaft Deiner illustre fregona, der Baronin, mir nicht nach wie vor barbarisch erscheinen, das Schweigen der jungen Eheleute während der Meerfahrt, das Reginens trübseliges Ende herbeiführt, nicht allzu gewaltsam | vorkommen wird, ob ich das "Kameel" verdauen lerne, obwohl mein Zartgefühl etwas weiter ist als ein Nadelöhr, ob - aber ich glaube, ich bin schon zu Ende. Petersen, der Musterleser, hat auf seiner Novellistenrundreise auch mich gestreift und mir erzählt, Du wollest das schließliche gute Ende noch etwas breiter austönen lassen, was mir sehr willkommen ist. (Halt! da fällt mir ein, daß Dein trefflicher Don Correa doch vielleicht noch vor dem Verdacht ein wenig mehr geschützt werden könnte, als ob er gar zu brünstig dem schlimmen Weibe in den Schooß gerannt wäre. Wenn sie so ist, wie sie sich später entlarvt, sollt' es wohl hie u. da zu Anfang durchblicken, von welchem Schlag sie ist. Zwei Zeilen würden genügen. Die Wildin ist desto herzerquicklicher.)

     Ich habe in dieser langen Zeit viel Ungemach erlitten, immer wider den Wind laviren und mit dem bischen Sonnenblick vorlieb nehmen müssen, der zwischendurch mein müdes Haupt beschlich. War in Rothenburg an der Tauber acht Tage lang - wovon Du ein Mehreres schriftlich erleben wirst - bei meiner Frau Tochter auf dem Gut, immer mit einem teufelsmäßigen Hinkefuß, aus welchem die Unlust jetzt durch Streichen und Kneten kunstgerecht hinausexorcisirt wird. | Der Orlando ist mit Ach und Krach vorgerückt, eine sehr problematische Novelle zu Stande gekommen, die im October-Rundschauheft erscheinen wird, u. das alte Leben so fortgeschleppt worden, mit jenem agrodolcen Nachgeschmack, den Weisheit und Tugend zu verleihen pflegen, wenn man sich ihrer in tormentis bedient. Zu jenem Roman, von dem ich ein Wort in unsrer letzten Viertelstunde fallen ließ, mag ich gar nicht reden um nicht den Stachel der Ohnmacht, daß ich ihn nicht schreiben kann, mir wieder neu ins Fleisch zu wühlen. Ich erwarte mit Kummer das Ende des Juli, wo ich mich von meinem treuen Weibe auf ganze 6 Wochen scheiden soll, um ganz Deutschland zwischen uns zu bringen. Sie soll nach St. Moritz, dessen Luft mich aus all meinen Sinnen ängstigt, ich an die Ostsee, die wie alle Seenähe ihr verderblich wäre. Das Fräulein wird indeß auf der Mitte des Weges ihr junges Leben genießen, in Leipzig u. Dresden. Und dies wäre nun das. Was auf diesem Blatte steht, mag ich gar nicht erst überlesen. Ich bin froh, daß ich überhaupt endlich wieder zu Worte gekommen bin. Laß mich's nicht entgelten, Geliebtester, und bleibe mir gut. Meine Wybervölkcher grüßen herzlichst, auch die Großmama, deren letzte Liebe Du bist. Lebewohl!

M. 5. VI. 81.

                                               Dein ältester PaulHeyse


 

27. 7. 1881  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/27; GB 3.1, S. 55>

Zürich 27 Juli 81

Lieber Freund! Ich habe in Euerer Schützenzeitung gelesen, wie Du mit einem Festamte belehnt bist, und schließe daraus, daß du diesen Monat jedenfalls dort noch aufhältig sein wirst. Daher schreib' ich noch schnell, nicht daß Du gleich lesen sollst, sondern damit du den Brief mit anderm Alltagszeuge bequemlich vorfindest, wenn der Jubel verbrauset ist und deine Festinsignien hoffentlich recht bestäubt und mit Wein getränkt auf dem Tische liegen. Denn ich denke mir, es dürfte eine nicht unheilsame Vorkur sein, wenn du vor dem Seebade eine Woche lang an dem warmen Volksherde sitzest, aller Sorgen vergessend und nach Thunlichkeit mitthuest. Nachdem Du aber mit der Epistel an Lingg so famos deinen Tribut bezahlt, dürftest du freilich mit weiterem Verseschmieden während dieser Zeit nicht mehr fortfahren, sondern nur den Becher schwenken. |

     Wegen meines verspäteten Dankes für deinen guten Junibrief will ich mich nicht lang entschuldigen; vielmehr möchte ich die Aufmunterung ergehen lassen, daß wir uns ja kein Gewissen daraus machen wollen, so lang und so fröhlich zu schweigen, als es uns nicht anders gelingen mag, jederzeit gegenseitig der treulichsten Gesinnung versichert. So fühle ich, gröber organisirt, als gewisse andere Leute, gegenwärtig keine Gewissensbisse darüber, daß ich die staffelförmige Schlachtordnung deiner neuen Provence-Novellen noch nicht besprechen kann, und wenn ich auch noch so neugierig bin. Die Buchausgabe werde ich freilich nicht abwarten; dagegen muß ich den Herbst abwarten, bis ich die verschiedenen Zeitschriften u Hefte kann in's Haus kommen lassen.

      Natürlich war ich nichts desto weniger froh über deine Nachricht betreffend des Sinngedichts, und gedenke die Winke, die du mir gegeben, bei der Revision klüglich zu benutzen. Nur zwei allgemeine Bemerkungen, aus der eigenwilligen Natur des Menschenthums erwachsend, muß ich mir zu Schulden kommen lassen. Einmal bezüglich | der psychologischen Motivirung. Wir sind nachgerade gewöhnt, psychologisch sorgfältig ausgeführte kleine Romane Novellen zu nennen, und würden den Werther, den vicar of Wakefield und d. gl. heut ebenfalls Novellen nennen. Dem gegenüber, glaubte ich, könne man zur Abwechslung etwa auch wieder die kurze Novelle cultiviren, in welcher man puncto Charakterpsychologie zuweilen zwischen den Seiten zu lesen hat, resp. zwischen den Facti, was nicht dort steht. Freilich darf man dabei keine Unmöglichkeiten zusammenpferchen, und immerhin muß der Eindruck gewahrt bleiben, daß dergleichen vorkommen könne und in concreto die Umstände wohl darnach beschaffen sein mögen. Sind dann die Ereignisse nicht interessant genug, daß sie auch ohne psychologische Begleitung fesseln, so ist der Handel freilich gefehlt.

     Das Andere betrifft die unglückseligen Barone, die an Kuhschwänzen geschleppt werden. Diese schöne Erfindung, die wahrscheinlich dem Büchlein Schaden zufügt, gehört zu den Schnurren, die mir fast unwiderstehlich aufstoßen und wie unbewegliche erratische Blöcke in meinem Felde liegen bleiben. Die Erklärung ihrer Herkunft soll nicht prätentiös klingen. Es existirt seit Ewigkeit eine ungeschriebene Comödie in mir, wie eine endlose Schraube (vulgo Melodie), deren derbe | Sceenen ad hoc sich gebären und in meine fromme Märchenwelt hereinragen. Bei allem Bewußtsein ihrer Ungehörigkeit ist es mir alsdann, sobald sie unerwartet da sind, nicht mehr möglich, sie zu tilgen. Ich glaube, wenn ich einmal das Monstrum von Comödie wirklich hervorgebracht hätte, so wäre ich von dem Uebel befreit. Vischer definirt es als "närrische Vorstellungen" und scheint ihm eine gewisse Berechtigung zuzugestehen. Stellt man sich übrigens die Sceene als wirklich dramatisch aufgeführt, mit genügendem Dialog versehen, vor, so verschwindet das Verletzende und glaube ich, würde an seiner Stelle sich sogar ein gewisser Reiz einfinden. Die Braut kann und darf ja nichts von dem Sachverhalt wissen und Niemand kennt ihn, als der Mann und die drei Schurken, die seiner Geliebten u Erwählten so viel Schmach und Leid zugefügt haben. Er ist aber schon früher als ein Mensch geschildert worden, der neben dem Hang zum Wohlthun einen scharfen richterlichen Bestrafungstrieb dem Unrecht gegenüber hegt. Er also, der überhaupt ein Absonderling ist, erhöht lediglich seine Hochzeitsfreude durch den Strafakt; mithin bleibt Niemand übrig als der | Zuschauer, der ja Alles übersieht und beruhigt ist. Die Unwahrscheinlichkeit betreffend (von der größern oder kleineren Geschmacklosigkeit einstweilen abgesehen) so ist sie in allen diesen Fällen die gleiche. Auch die Geschichte mit dem Logau'schen Sinngedicht, die Ausfahrt Reinharts auf die Kußproben kommt ja nicht vor; Niemand unternimmt dergleichen, und doch spielt sie durch mehrere Capitel. Im Stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, d. h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne Weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Culturwandlungen nehmen lassen soll. Sieht man schließlich genauer zu, so gab es am Ende doch immer einzelne Käuze, die in der Laune sind, das Ungewohnte wirklich zu thun, und warum soll nun dieß nicht das Element einer Novelle sein dürfen? Natürlich Alles cum grano salis.

     Schlimmer bin ich aber mit dem Kameel daran, das du nicht verdauen kannst. Die sociale Unschicklichkeit dieses Ausdruckes fiel mir nicht ein. Das Fräulein in der Rahmenerzählung braucht irgendwo den Ausdruck: mit einem Gedanken schwanger gehen. Von verschiedenen Seiten | sagte man mir, das sei im Munde einer heutigen Dame anstößig. Das Zusammentreffen der beiden Fälle beweis't mir also, daß ich in der Sprache nicht auf dem Niveau der guten Gesellschaft stehe. Die unerlaubte Schwangerschaft habe ich beseitigt; dagegen bin ich mit dem Kameel in Verlegenheit, da es mit der Katastrophe der kleinen Geschichte verwachsen ist. Ich hatte geglaubt, der drastische Ausdruck u Begriff könne mit Fug stattfinden, wo es sich um ein verdrehtes Landmädchen und einen nichtsnutzigen Zierbengel handelt, wie man die geeigneten Gesellschaftsklassen sich auf anderweitige Weise injuriren, beschimpfen und fluchen läßt, ohne Anstoß zu erregen. Das scheint nun nicht so zu stehen und ich muß wol für eine andere, weniger verpönte Grobheit sorgen; denn ohne Noth möchte ich das so schon leichtfüßige Zeug nicht ungenießbar machen.

     Jetzt aber, mein Lieber, langweile Dich nicht zu sehr über die vielen Worte und nimm sie für nichts anderes, als ein Mittel, mich selbst zu belehren und meine mangelhaften Gedanken einen Augenblick zu fixiren! |

     Meine obige Hoffnung auf eine achttägige fröhliche Sorglosigkeit für dich geht mir halbwegs wieder zu Wasser, da ich mich plötzlich erinnere, daß während der Festzeit Dramen von Dir aufgeführt werden. Wenn Du nicht ganz verpicht bist gegen die dießfälligen Verdrießlichkeiten und Ablenkungen, so wird der Anklang an olympische Spiele, der sonst in dem Faktum läge, seine Wohlthat nicht voll ausüben können. Auf den Alkibiades mit die nackte Fieß freue ich mich außergewöhnlich; die Zeit für diese Stücke kommt schon wieder einmal. Uebrigens mag ein Hauptgrund ihrer Unpopularität in dem absoluten Ungeschick liegen, das antike Costüm zu ordnen und zu brauchen. Die schmälichen Blousen und rosenrothen Beine der Männer können auch einem Gebildeten die Freude des Sehens verleiden, so gut wie das dumme Behaben der Weiber. Der Vorgang der seligen Rachel scheint ohne alle Wirkung geblieben zu sein.

     Mich wundert ein bischen, daß du mit dem Roland neben dem perpendikularen Spargelbeet oder Regenstrich-Maler Doré hast arbeiten mögen; es wird sich freilich um das Belieben des Buchhändlers, sowie um deine Pietät gegen Kurzen handeln, o Protector poetarum transmontanorum cisque (sic)!

     Möge nun der Himmel mit Euch sein und dem | ganzen Haus Paul Heyse eine sommerliche Heilspause verleihen! Mögen auch deine Glieder fortfahren, Dich zu zwicken, wenn dabei fortwährend so manigfaltig geschafft und gewirkt wird! Scherz bei Seite jedoch glaube ich, die Zeit des Leidens werde allmälig jetzt ablaufen und der Inhaber deiner Nerven sich für einen weiteren Lebensabschnitt consolidiren.

     Sei mit Frau Gemahlin und Fräulein Tochter und mit der gnädigen Mama feierlichst gegrüßt (letztere natürlich unter dem Vorbehalt, daß wahr sei, was Du von ihr aussagst) und komme im Herbste nur gesund wieder zum Vorschein am Horizonte deines

                                               G Keller


 

11. 8. 1881  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 203; Heyse, S. 156>

Haffkrug, Station Gleschendorf.
(Holstein) 11. VII. 81.

Du sollst nur wissen, liebster Freund, daß ich Deinen langen, schönen und liebreichen Brief habe, aber fürs Erste nicht beantworten kann. Zwei weise Doctoren haben mir angekündigt, daß ich nur wieder auf gesunde Füße kommen könnte, wenn ich ein, am liebsten zwei ganze Jahre mich alles Gebrauches meiner Vernunft enthielte und meine Gedanken auf eine grüne Weide schickte, da ich leider nicht wie jener alte König selber Gras fressen lernen würde. Nun bin ich an dieses von Seegras und Quallen überschwemmte graue Gestade der Ostsee geflüchtet, "allein und abgetrennt von jeder Freude", da mein Weib in St. Moritz, meine lange Tochter in Starnberg mit der Großmama übersommern, und befinde mich hier so mißtröstlich, | wie ich mich Zeit meines Lebens nicht entsinnen kann. Ich komme mir mit meinem inhaftirten Gehirn vor wie ein Gendarm, der einem armen Sünder Handschellen angelegt hat, und ihn in einem Einzelcoupé dritter Classe per Schub durch die Welt transportirt. So begreifst Du, daß ich auf all die klugen Dinge, die Du gesagt und zu denen ich in besseren Zeiten wohl hie und da eine kleine Anmerkg gemacht hätte, tief verstummen muß.

     "Dumm sein, net g'scheidter werden, das ist unser Loos ja hinieden auf Erden." Diesen Refrain singe oder knirsche ich zwischen den Zähnen, wenn ich am Strande wandle über die unfruchtbaren Dünen, oder Mittags zwischen vergnügten, lautlachenden u. immer hungrigen Obotriten rothe Grütze und Aalsuppe esse. Diese | Heilspause soll noch fünf Wochen dauern, und ein Stück davon denke ich an der Nordsee zu verbringen, wo es etwas meerhafter zugehen soll als an dieser trägen Binnensee, u. überdies mein alter Storm mich erwartet. Meine hiesigen Freuden bestehen in den Orlando-Correcturen, mit denen ich, wenn die Götter wollen, in vier Wochen aufgeräumt haben werde. Du wirst aber doch Augen machen, zu welchen traumhaften Höhen und phantastischen Realitäten dieser Monsieur Doré auf Astolfens Flügelroß sich aufgeschwungen hat. Freilich habe ich die saure u. undankbare Arbeit um meines theuren Kurz willen (u. der Seinigen) übernommen. Doch kommt schließlich etwas zu Stande, was sich sehen lassen kann, und der Franzose hat den Löwenantheil davon.

     Und nun laß Dich noch beschwören, mit meinen Provenzalen zu warten, | bis sie in reinlichem Aufzuge zu Dir kommen, was nicht lange anstehen wird. Ich habe noch hie u. da nachgearbeitet, so die Poren und kleinen Hautfältchen ihnen anciselirt. Mein Hauptspaß daran ist, daß unsre bildungsbedürftigen Damen sich sehr getäuscht finden werden, wenn sie aus dem Büchlein nützliche Kenntnisse über das 12te Jahrhundert zu schöpfen hoffen. Dieser "Ahnen"-Dünkel ist mir ganz fremd geblieben.

     Und nun soll's in die See gehen, die heute nur 10° Reaumur hat. Lebewohl! bleibe mir hold und treu, wenn ich auch für eine Zeitlang nicht der Rede werth bin. Du weißt, es geschieht nicht gern. Grüße Baechtold und schicke mir das Sinngedicht, am liebsten in Aushängebogen. Ich kann es brauchen, daß man mir was Liebes anthut.

                                               In aeternum  Dein
                                               P. H.


 

5. 10. 1881  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/28; GB 3.1, S. 59>

Zürich 5 X 81

Liebster Paulus. Ich hätte Dir s. Z. gern sofort nach dem schändlichen Hafkrug an der Ostsee geschrieben, wenn inzwischen nicht eine Mittheilung Petersens eingelaufen wäre, daß er dich von dort weg nach der Nordsee locken werde. Seither verlor ich den Compaß für die rechtzeitige Ankunft meiner papiernen Schiffchen. Dennoch habe ich deine Sterne so ziemlich verfolgen können, da Petersen mir getreuliche, begeisterte und ausführliche Berichte zukommen ließ, wie es seit den Tagen der schönen Sophie von Laroche kaum mehr geschehen ist, wo alle Lieb und Freundschaft herrschte. Und Du selbst hast mir im Verein mit Bruder Storm biedern Gruß geschickt.

 Wenn es Dir wirklich nicht besser geworden ist durch die Kur und müssige Begehung der Zeit, so bekümmert mich das ungewöhnlich und um so wehseliger, als ich nicht helfen oder rathen kann. Solltest Du allenfalls | zu deinem Hinkebein ein zitronenförmiges Mützchen auf den Kopf setzen, so gäbest du einen stattlichen Hephästos ab, der rüstig an dem Schilde des Peliden fortschmiedet und dazu eine brävere Anmuth zur Hausfrau hat, als jener Feuermann. Der Anstoß zu diesem lausigen Concetto besteht in der Idee, ob Du statt der Kaltwasserkünste, die ich einmal nicht für des Menschen Freunde halte, nicht lieber das heiße Wasser aufsuchen solltest, das unsern reisigen Vorfahren so segensreich und lustig vorkam? Freilich weiß ich nicht, ob Du am Ende nicht auch schon die Beine in die Thermalquellen gesteckt hast. Aber wenn ich so betrachte, wie schon seit den alten Römern in Süd-Germanien alle gliederkranken Bürger und Bauern zur Sommerzeit in die warmen Bäder rennen und sich für ein Jahr Genesung und Wohlsein holen, so kann ich mir des laienhaften Gedankens nicht erwehren.

     Von einer mehrtägigen Nebeltour am Vierwaldstätter See vorgestern zurückgekehrt, | traf ich das neuste Rundschauheft zu Hause und erwärmte meine erfrorenen Lebensgeister nicht sowol an dem übrigen Inhalt, als an deiner Novelle, zu welcher Du dir besonders kräftig darfst Glück wünschen lassen. Es ist alles so trefflich vorgesehen, motivirt und durchgeführt, und der Abschluß ist so neu, unerwartet und wirft auf das Ganze ein so helles Licht ethischen Wesens zurück, daß das Prädicat einer Musternovelle diesem deinem Kindlein wieder einmal nicht vorenthalten werden kann auch nach dem längeren Ellenstecken, der an Dich zu legen ist. Ein einziger Punkt gibt mir Einiges zu denken, der Zweifel nämlich, ob nicht der tragische Anklang: "Sie schlief, damit wir uns freuten" nicht durch eine etwelche vorhergehende Andeutung, daß die verstorbene Frau von den Dingen doch mehr ergriffen war, als es den Anschein hatte, etwas unterlegt werden dürfte? Doch kann ich nach der einmaligen hastigen Lektüre nicht auf dem Zweifel beharren. |

     Vielleicht mache ich mich deutlicher, wenn ich sage, daß vielleicht eine Art Schilderung, wie ungern und schwer sie von Mann und Kind weggestorben sei, sofort helfen würde.

     Von meinen letzten Unthaten sende ich Dir die Aushängebogen, die erst jetzt vollständig geworden sind. Du brauchst nur das letzte Capitel anzusehen, welches Neues enthält, nämlich die Mädchengeschichte der Rahmenheldin. Ob es geholfen hat, weiß ich nicht.

     Jetzo bist Du wahrscheinlich wieder mit Frau Doctor Heysin und der Fräulein Tochter vereinigt und bitte, beide Damen herzlichst zu grüßen, sowie die gnädige Frau Mama resp. Großmama.

     Auf Deine Minnesinger warte ich mit Begier oder bin darnach verlangend, wie Schiller in seinen Briefen sich ausdrückte. Ich weiß nicht, warum der Verleger mit der Ausgabe so zögernd ist.

                                               Dein alter u ewig neuer Freund
                                               G. Keller.


 

12. 10. 1881  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 205; GB 3.1, S. 61>

Liebster Freund, ich habe mich gleich über das neue Finale hergemacht und große Freude dran gehabt. Zwar, wenn ich ehrlich sein soll, hat mir da gegen den Schluß eigentlich Nichts gefehlt, so sehr es angemessen scheint, daß gerade die Hauptperson, an der sich das Sprüchlein bewährt, uns recht intim bekannt gemacht wird, während Du diese lux früher ein wenig unter den Scheffel gestellt hattest. Aber der allerletzte Schluß hatte mich schon damals so bezaubert, daß ich gar Nichts mehr vermisste. Die Scene vor der Schusterstube, wie da mitten aus dem verrückten Singsang und der ganzen herrlichen Armseligkeit der Situation  ihre lang herangeglommene Verliebtheit plötzlich in einer hellen Flamme aufschlägt und sie ohne viel Wesens zu machen sich küssen, das ist so einzig schön, so, wie nur Du es machen kannst, | daß ich auch jetzt wieder, da ich es nun zum zweiten Male las, vor lauter Vergnügen die Augen übergehen fühlte. Hierbei traf mich Levi, der das Sinngedicht noch nicht kannte. Er nahm die losen Bogen, schlug sie aufs Gerathewohl auf u. gerieth an eine ganz ausbündige Stelle, die er laut zu lesen anfing. Dann sprachen wir noch Verschiedenes, was ich Deiner Bescheidenheit ersparen will. Auch ist es gut, daß Du nicht zugegen bist, wenn ich als Reiseprediger den Heiden das Evangelium verkündige, wobei ich in letzter Zeit die Erfahrung gemacht habe, daß ich Alles schon bekehrt finde und nicht einmal nöthig habe, die Schwachen im Glauben zu stärken. Daß mich dies doch noch verwundert, darfst Du mir nicht übel nehmen. Die Welt, in der Deine Gestalten athmen, ist so gar nicht ir aller werld, ein Märchenduft, wie er aus der schäbigen "Jetztzeit" ganz und gar geschwunden ist, umgiebt Deine handfestesten Figuren, und jener Goldton schimmert durch ihr Fleisch, der den Giorgione | so unwiderstehlich macht, daß ich mich frage, wie dieselben Biederleute, die sich an Gartenlauben-Histörchen erquicken, zu Deinen ewigen Gedichten einen Herzenszug spüren können. Und doch ist dem so, woraus wieder einmal erhellt, daß man die Menschennatur in Grund und Boden verbilden kann, und doch den himmlischen Funken nicht ganz ersticken, der nur wartet, bis er von dem rechten Munde angeblasen wird, um fröhlich wieder aufzuflackern.

     Ich gerathe da aber auf ein uferloses Meer, und soll doch mit eingezogenen Segeln am Strande bleiben und meine Havarie ausflicken. Dieses schöne Gleichniß ist der einzige Gewinn, den ich von der Ost- u. Nordsee mitgebracht habe. Im Übrigen ist der Sommer rein verloren, ich liege mit den alten Schmerzen u. Chicanen auf dem alten Fleck u. bin so eingeschüchtert, daß ich meinem Arzt einen theuren Eid geschworen habe, in Jahr und Tag mein Handwerk, das | diesen schnöden Zustand auf dem Gewissen hat, nicht wieder zu betreiben. Dies saure Nichtsthun, zu dem ich so gar kein Talent habe, versüße ich mir einigermaßen, indem ich mir jeden Morgen mein Dänenroß satteln lasse, will sagen einen dänischen Ollendorf zur Hand nehme, der mich bereits so sattelfest gemacht hat, daß ich nur noch hie und da über eine Vocabel stolpere. Ich kann auf keine bessere Art mir mein Deutsch vom Halse schaffen, und zudem haben diese unsere feindlichen Brüder so viel gute und schöne Sachen zu Stande gebracht, daß es der Mühe wohl verlohnt, sie einmal in Augenschein zu nehmen. Ich denke auf die Art über die härtesten Wintermonate hinüberzukommen u. Anfang März mit Frau u. Kind nach dem südlichen Frankreich zu wandern. Grüße ihn sehr, sagte meine Frau, und sage ihm, daß wir ihn auf der Heimreise besuchen wollen. - Wer weiß, wie lange wir dann hängen bleiben! Denn es eilt mir | gar nicht, die Entdeckung zu machen, daß ich meinen Troubadouren einen weit farbigeren Hintergrund hätte geben sollen. Hoffentlich bist Du nicht dort gewesen und weißt davon nicht mehr als ich.

     Was das getheilte Herz betrifft, das letzte was ich gemacht habe, ehe ich die Werkstatt für so lange zuschloß, so ist es mir tröstlich, daß Du ihm nichts von der Unzulänglichkeit meines armen Leibes anmerktest, die ich selbst mit Noth im Schreiben überwand. Was Du mit Deinem Bedenken gegen die Haltung der Frau meinst, wird gewiß seine Richtigkeit haben, ich darf mich aber im Vergessen der ganzen Geschichte, das schon ziemlich geglückt ist, nicht stören, um später einmal als ganz unbefangener geneigter Leser das Ding wieder anzusehen. Sehr bald schicke ich Dir den Alkibiades, unter den ich auch schreiben könnte, wie König Wilhelm unter seine in der Wassersucht gemalten Bilder: pinx. in tormentis. | Doch ist mir das ganze Menschenbild hoffentlich nicht mißlungen, und die tragische Collision, daß Jemand untergeht, weil er gegen seine Gewohnheit sittlich gehandelt hat, behält immerhin ihren Reiz.

     Stormen habe ich drei Tage erlebt, ganz den Alten  in ihm gefunden, der alle kleinen Freuden seines 64jährigen Lebens beständig wie ein stehendes Heer um sich geschaart hat und sich damit gegen die Unbilden von Zeit u. Welt siegreich vertheidigt, ein wahrer Lebenskünstler. Auch daß er sich nie daran wagt, seine Grenzen zu erweitern, ist klug und sichert seinen Frieden. Er hat sich ein Haus, das sehr behaglich eingerichtet ist, in eine der lachendsten Gegenden seiner Heimath hingebaut und lässt sich von Frau und vier Töchtern in Baumwolle | wickeln. Und bei allem Altjüngferlichen, Züs-Bünzlihaften, das ihm anhängt, fährt dann wieder ein so schneidiges Mannesschwert aus seinem Munde, daß man froh erschrickt. Dich liebt er nun über die Maßen, und Wenige wissen besser Bescheid in allem Deinigen. Auch bei Freund Petersen war ich sehr guter Dinge. Er hat zwei prächtige Kinder, die es mir ganz eigen angethan haben. Und wie schön ist es da oben in den Seestädten, und erst auf der einsamen Nordsee-Insel, wo ich nur leider sonnen- u heillos hingelebt habe!

     Doch genug für heut. Grüße Dr Bächtold. Meine lange Tochter u. die Schwiegermama empfehlen sich Dir angelegentlichst.

                                               In ältester Liebe u Treue
                                               Dein

München. 12. Oct. 81.  PaulH.


 

19. 11. 1881  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/29; GB 3.1, S. 63>

Zürich 19 Nov.1881.

Lieber Freund und Gutthäter!
 
Anfangs October stach mich der Hafer, daß ich mich einige Tage am Vierwaldstätter See, der unablässig in einem dunkeln Nebel lag, im Sommer-Ueberzieher und ohne wärmende Halsbinde herum trieb und dafür das Angebinde eines vierwöchentlichen infamen Katarrhs nach Haus brachte. Da konnte ich wol lesen aber nicht schreiben, und so ist dein Brief vom 12t. Oct. ohne Dank geblieben, obgleich die stattlichen Troubadours zu Fuß und zu Pferd, unter dem Vortritt des wackern Petersen, und dann gleich der gewaltige Alcibiades mir auf die Bude rückten und sich drohend aufstellten, um zum Rechten zu sehen.

     Ich bin jedenfalls zum Theil an dem reinen Element Deiner Sprache, wie es auch diese Novellen wieder umflutet, | gesund geworden. Du hast auch nicht zu befürchten, daß der farbigere Hintergrund mangle, da Land und Klima überall genugsam aus den Menschen hervorleuchten. Schon die zwei Stücke am Eingang und Ausgang repräsentiren das auf das Schönste, wie der lahme Engel und der verkaufte Gesang mir überhaupt an's Herz gewachsen sind, ohne den andern Geschichten weh zu thun. In diesem Punkt ist ein vergnüglich glückliches Verhältniß in dem Buche und dieses ein ebenmäßiges sich selbst ergänzendes Werk wie ein oligarchischer Rathskörper. Ob die Rache der Vizgräfin heutzutage im Reiche der Germanen salonfähig sei, ist glaub' ich nicht zu untersuchen, da das romanische Blut und die Zeitkultur ihre eigene Decenzgesetze mitbringen. Nach wie vor endlich ist deine Kraft zu bewundern, mit der Du in so kurzer | Zeit eine solche Zahl homogener und doch unter sich verschiedener Compositionen frei und entschlossen gebildet hast. Sie erinnern an eine Reihe schöner Spitzbogen, von denen jeder ein neues Maßwerk zeigt.

     Bei der neuen Tragödie, dem Alkibiades, läßt mich obige Geschwätzigkeit in Bildern im Stich. Ich las dieselbe in stiller Nacht und noch bin ich in der Gefühlsstimmung befangen, in welcher ich das Buch zum ersten Male schloß, und noch nicht im Stande, die 1½ technisch-dramaturgischen Schneidergriffe, deren ich etwa mächtig bin, anzuwenden und zu orakeln. Trotz der altbekannten klassischen Himmelsluft ist doch Alles neu u überraschend; ich kenne weder eine Mandanen ähnliche Figur, noch eine zweite Timandra und muß mich nur auf's Neue wundern, wenn sich die Bühnenlöwinnen nicht herandrängen, hier neue Kräfte und Lorbeeren zu holen. Beim Alkibiades selbst würde ich mich schon | weniger wundern, weil es für die Herren nicht leicht sein wird, die Kunst zu bewältigen, welche der ungeheure Umschwung im letzten Akte erfordert. Uebrigens glaubt man diese Mondnacht mitzuleben; schon die scenische Anordnung ist meisterhaft gedacht, und es ist gewiß nichts weniger als zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß in den Grillparzer'schen Zugstücken es nicht höher und schöner hergeht, als hier. Wollte ich nicht den Verdacht scheuen, deinen letzten Schmeichelbrief nachzuahmen, so würde ich ganz andere Vergleiche anstellen, auf die Gefahr hin, daß wir uns augurisch in's Gesicht lachen würden.

 Das neue Münchner Dichterbuch ist mir übrigens noch ganz unbekannt, wahrscheinlich erscheint es erst noch.

     Was die Fabel des Alk. betrifft, so mochte ich meine par Griechenquellen | und Hülfsmittel gar nicht hervorholen, um mit einer Controlirung des Planes etc. die Zeit zu verderben. Nächstens werde ich indessen das Buch wieder lesen und hoffe, zu etwas deutlicheren und festern Ideen zu gelangen, als ich jetzt zu äußern im Stande bin.

     Die Fruchtlosigkeit deiner Heilversuche und Sommerkuren hat mich übel berührt und thut es noch, wenn der Zustand noch immer gleich ist. Die dänischen Studien trösten mich wenig, obgleich ich es den Dänemärksern wohl gönnen mag, wenn sie deine Gunst erwerben. So weit es sich um die norweg'sche Partie handelt, kann ich mich immer noch nicht stark für die Sache begeistern. Ich nehme manchmal aus dem Wirthshaus, wo die fliegenden Buchhändler mit den Reklam'schen Büchelchen hausiren, einen Ibsen oder Björnson mit nach Haus, und muß gestehen, daß mich die ewigen Wechsel- und Fabrikaffairen, | kurz alle die Lumpenprosa wenig erbaut, noch weniger der pseudo geniale Jargon, der mir gar keine Diktion zu haben scheint. Freilich lese ich nur Uebersetzungen. Ich komme nicht darüber hinaus, immer wieder an den guten Schiller zu denken, der schon vor 80 Jahren in seinem "Schatten Shakespeares" die Situation ausreichend behandelt hat.

     Sonst aber haben sich namentlich die eigentlichen Dänen allerdings immer als reichbegabte, gute und fidele Brüder gehalten und besonders der deutsche Bruder Dichter und Literat durfte sich bis 48 nicht über sie beklagen. Seither laboriren sie in dieser Hinsicht am Fluche jeder aufgestörten politischen Klein-Existenz; und das wahre Glück trifft auch mit der materiellen Größe so selten ein. |

     Verspürst Du jetzt schon einige Besserung beim Nichtsthun? Höre nur nicht auf damit! Und wie ist der verehrten Frau Doctorin St. Moritz bekommen? Als ich eines Tages las, es sei ein Postwagen, der dorthin fuhr, mit zwei deutschen Damen über den Abhang des Bergpasses gefallen, erschrack ich heftig, rechnete aber aus, daß Frau Heyse schon früher hingefahren sein müsse. Die Länge Eueres Fräuleins, die Du immer hervorhebst, muß ich doch einmal näher besichtigen, wenn Ihr im März wirklich hier durchpassirt. Sie ist mir gar nicht so aufgefallen.

     Berthold Auerbach geht, wie ich gelesen, nach Cannes zu Anfang December, wird aber wol nicht so lange dort Ruh' haben, bis Ihr in die Gegend kommt.

     An Storm und Petersen muß ich auch schreiben. Letzterer meldete mir s. Z. mit der liebenswürdigsten, jungfräulichsten Glückseligkeit die Ankunft der Troubadours mit deiner Dedication, und warf die Frage auf, ob nicht würdigere Männer da wären, eine solche Ehre zu empfangen? |

     Storm hätte ich in seiner Behaglichkeit und lustigen Landschaft wol auch sehen mögen. Ich glaube, ich habe ihn etwas verschnupft, denn ich hielt ihm wegen ein par Monita, die er mir wegen Nichtverheiratung einiger Novellenfiguren machte, den Spiegel eigener Sünden dieser Art vor, die zu den Juwelen unter seinen Sachen gehören; ferner parirte ich mit dem neusten Etatsrath einen malitiösen Bakelhieb, den er wegen der drei zusammen gebundenen Kuhschwänze nach mir führte. Er ist glaub ich so fromm und naiv, daß er vielleicht meinen Spaß für Ernst nahm und nun knurrt.

     Deine Grüße an Bächtolden richte ich jederzeit aus und er freut sich jedesmal sehr und würde mir gewiß eine Ladung auflegen, wenn er zur Hand wäre.

     Nun lebe auf ein Kurzes wohl und pflege Dich recht! Gehorche dem Arzt und sammle einmal die Einfälle ein bischen auf. Es hat auch sein Angenehmes, über den Vorräthen eine Zeitlang zu spintisiren, was wol nicht verboten sein wird. Tausend Grüße von Dein- u Euerem

                                               G. Keller


   

1. 6. 1882  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/33; GB Bd. 3.1, S. 74> 

Zürich 1 Juni 1882

Aus Vergnügen über deine guten Nachrichten, lieber Freund, will ich Dir in der That sofort antworten; denn weil ich nichts von Dir gehört noch gelesen, hatte ich einige Besorgniß, es möchte nicht ganz gut stehen. Ich war sogar auf dem Punkte, mich mit einer Anfrage an dein Haus in Münchheim zu wenden resp. eine kleine Correspondenz mit dem Fräulein anzuspinnen, wo Vater und Mutter seien u. s. w. Diesem Fräulein lass' ich mich nichts desto minder nun neuerdings empfehlen, eh es nach Leipzig reis't um dort das Tantchen zu spielen.

     Da Du jetzt wieder zwischen die neun Schwestern gestellt bist, wie der Mengsische Apollo in der Villa Albani, so hast Du Recht, wenn Du thust, was Dir wohlgefällt und das neue Dreiaktige frisch beim Zipfel nimmst. Mach Du nur drauf los, damit das Oel da ist, wenn der Bräutigam endlich kommt, den Du meinst. Er spukt übrigens ja schon überall herum, so viel ich in den Journalen sehen kann, und hat es eigentlich schon lang gethan.

     Euer Palladio-Vergnügen in Vicenza betreffend habe ich gleich in Burkhardts Cicerone nachgesehen, was es dort alles gibt. Ich hoffe halbwegs, den höchst würdigen Säulen, Pilastern u Bogenstellungen in etlichen Diätverletzungen zu begegnen, die Du dir in schönen Reimen vorläufig erlaubt haben wirst. |

     Ich danke Dir auch schönstens für dein fleißiges Lob des Dietegen, das mir auch sine grano salis hoffentlich nichts schaden wird. Laistner hat übrigens Recht wegen des Namens. Er sollte Dietdegen geschrieben werden u gehört in die Familie der Diethelm, Diepold, Dietwald, Dietrich etc. Der Name figurirt seit Jahrhunderten im Namensverzeichnisse der Züricher Kalender, wo ich dergleichen zu suchen pflege; auch "Herdegen" ist ein alter Zürchername.

     Das Romänchen habe ich einstweilen weglegen müssen, da es wegen zu großer Aktualität jetzt noch seine Schwierigkeiten hat und leicht als eine Art Pamphlet angesehen werden oder wirken könnte. Dafür bin ich auf die Idee gekommen, einen Trauerspiel- und zwei Comödienstoffe, die ich seit 3 Decennien heimlich herumtrage, in Gottes Namen als Novellen einzpöckeln, eh' auch dies unmöglich wird. Der allgemeine Theaterpessimismus macht ja ohnehin einem alten Kerl nicht räthlich, mit solchen Jugendvelleitäten noch herauszurücken. Besagte Stoffe sind durch die Länge der Zeit ganz ausgetragen und ich kann fast Szene für Szene anfangen zu erzählen und als Neues ein freies Beschreibungsgaudium haben. Sollte eine dramatische Ader darin vermerkt werden und ich bei Kräften bleiben, so kann ich das Abenteuer ja immerhin später wagen und mein eigener Birchpfeifer sein. Aber laß mich nun diese gefährlichen Selbstentdeckungen nicht mit | ironischer Schmachanthuung entgelten, sondern behandle dieselben mitleidsvoll als Skelett im Hause deines Freundes und Verehrers.

     Indessen bin ich jetzt mitten in meinem lyrischen Fegefeuer sitzend, nach dem Du fragst, oder vielmehr herumgehend und viel Cigarren consumirend. Manchmal passiren 5-6 Stück in einem Tage, manchmal habe ich 2 Tage an einem einzigen, bis es entweder etwas ziemlich Anderes geworden ist oder kassirt wird. Dazwischen entsteht hie und da im Gedränge etwas Neues, kurz, Theodor Storm, der behauptet, es gebe, Goethe inbegriffen, höchstens 6 oder 7 wirklich gute lyrische Gedichte in der deutschen Literatur, würde sich entsetzen, wenn er diese posteriorkritische Reproduzirerei ansähe, von allen Göttern der momentanen Eingebung und Empfindung verlassen, was die Leutchen so nennen. Und doch gibt es gewiß auch im Lyrischen, sobald einmal vom psychischen Vorgang die Rede ist, etwas Perennirendes oder vielmehr Zeitloses. Womit ich übrigens meine Flickerei nicht beschönigen will; sie ist eben eine gebotene Sache. Ob auf Weihnachten gedruckt werden kann, ist sehr zweifelhaft, auch nicht nöthig; wozu mit dem Heidenzeug immer hinter dem Christkindchen herlaufen, dem armen Wurm? Es ist eine komische Sache, daß gerade Es der allgemeine deutsche Colporteur sein soll! |

     Beim Niederschreiben dieses Gedichtsels beachte ich zum ersten Mal die neue Rechtschreibung, wie sie im Anschlusse an das in Deutschland Vorbereitete in der Schweiz bereits in Schule und Amtsstuben officiel eingeführt wird. Ich merke aber nicht, daß Ihr draußen Miene macht, mit dem h u. s. w aufzuräumen, und weiß nicht, woran es liegt, daß die Autoren u großen Zeitschriften nichts thun; denn ich bin überzeugt, daß die jetzigen Bücher in wenigen Jahren dem jüngeren Geschlechte gerade so zopfig und unbeholfen vorkommen werden, wie uns die alten Drucke mit den unendlichen Ypsilons und Buchstabenverdoppelungen den "nahmentlich, nähmlich, ohnverschähmt etc". Unangenehmer ist mir der Antiqua-Druck, da ich überzeugt bin, daß wir für den Anfang auf einen Schlag eine Menge Leser der älteren, schlichteren Klasse verlieren werden. Wie steht es nun bei Euch? Wartet Ihr auf die Initiative der Verleger, oder diese auf die Eurige? Jedenfalls glaube ich, sollte man das Nötige, soweit man gehen will, selbst besorgen und nicht den Herren Setzern überlassen. Bei metrischen Publicationen aber sollte gewiß jetzt allgemein vorgegangen werden.

     Nun grüße ich recht angelegentlich die Frau Doktor Heyse und deren Wirt, den gelahrten und berühmten Paulus und Ehren vollen Freund
                                                Deines alten
                                                Gottfr. K.


 

7. 8. 1882  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 211; GB 3.1, S. 77>


Es ist eine Sünde und Schande, liebster Freund, wie durch meine Schuld auf der Poststraße zwischen uns das Gras im Stillen immer höher wächs't, daß sich nächstens ein Reiter zu Roß darin verbergen kann. Aber ich habe der Gewalt weichen und in den letzten nassen Wochen und Monaten allerlei Spuk aus meinem Gehirn austreiben müssen, der dort schon zu lange sein Unwesen trieb und mich nachgerade so sehr molestirte, daß ich Tag und Nacht keine Ruhe hatte. Ich habe ihn jetzt vom Halse, er liegt ganz kleinlaut in einem alten ledernen Mäppchen, in welchem mein Vater seine Collectaneen aufbewahrte und das mir nun immer als eine Mahnung vor Augen bleibt, mich eines Deutsch zu befleißigen, das vor den verklärten Augen zweier Grammatiker-Generationen zu bestehen vermöchte. Diese erlauchte Abkunft und die Pflichten, zu denen | mich meine noblesse obligirt, bewahren mich auch vor all den Nöthen, in deren Irrgarten ich Dich herumtaumeln sehe, - den orthographischen Fallen und Wolfsgruben, welche die heutige puristische Neuerungs- resp. Veraltungssucht einem Schriftsteller ohne solche ehrwürdigen Familientraditionen zu legen pflegt. Mit dem Gott meiner Väter bin ich ein wenig über den Fuß gespannt, aber die Heyse'sche Grammatik gilt mir noch für das Buch der Bücher und in diesem Glauben werde ich leben und sterben, mich meiner überflüssigen h's und y's und der Fülle traulicher Inconsequenzen harmlos erfreuend, bis einmal, was höchst unwahrscheinlich ist, ein consensus sanctorum über ein alleinseligmachendes rechtgläubiges orthographisches Dogma erzielt wird und kein deutscher Setzer einem deutschen Toten sein behagliches d mehr mit in die Grube geben will. |

     Wenn ich mich aber in diesem Punkte Dir so überlegen fühlte wie ein Prinz von Geblüt dem ersten besten Roturier, so habe ich Dich desto herzlicher um Deine Rückkehr zu den lyrischen premières amours beneidet. Ich weiß kein vergnüglicheres Tagewerk, als an alten Liedern und vergilbten gereimten Tagebuchfetzen herumzustricheln und das Häuflein reinlicher Blätter im stillen Winkel seines Pultes anwachsen zu sehen. Dies habe ich ein einziges Mal genossen bei Gelegenheit meines Skizzenbuches und meine, es sei die schönste und wonnigste Zeit meines Lebens gewesen, wovon freilich hernach keine Menschenseele Notiz genommen hat. Mi nich to slimm, seggt de Swinegel. Hatt' ich doch meine Freude dran. Dir wird's auch in dieser Hinsicht besser ergehen, da die Gemeinde der klugen Leute, die sich zu orthodoxen Kelleranbetern ausgewachsen haben, sichtbar anschwillt und | längst auf diese Deine guten Gaben "spannt", wie wir Münchener sagen. Am ungeduldigsten aber Schreiber dieses. Und ich war schon drauf u. dran Dich zu bitten, daß Du mir doch das Ausgeschiedene anvertrauen solltest, weil ich - obwohl "bekanntermaßen" kein Lyriker - eine feine lyrische Nase besitze und mir getraute noch Manches bei Dir zu Gnaden zu bringen, was Du selbst nicht mehr des Aufhebens werth gehalten. Nun wird aber am Ende der Druck schon begonnen haben, also möchte ich mich nur für die 2te vermehrte Ausgabe bestens recommandiren.

     Seltsam traf es sich, daß gerade, da Du mir von alten Dramen schriebst, die Du zu Novellen umzuschaffen gedächtest, ich damit umging, ein altes Trauerspiel zu retten, das ich über 20 Jahre mit mir herumgetragen, bis es überreif und doch noch nicht genießbar geworden. Von fünf zu fünf Jahren habe ich dies Heft immer wieder hervorgeholt, eine Weile damit geliebäugelt, | die "Spitz' und Schneide besehen" und es "seufzend wieder eingesteckt". Nun will ich's denn doch nicht meinen Testamentsvollstreckern überlassen, sich mit dem Unding abzufinden, da es zum Verbrennen zu gut u. zum Drucken zu mangelhaft wäre, sondern ein paar gute stille Winterwochen dran wenden, das überflüssige Jambenfleisch ihm abzukasteien und es zu einem schlankeren strafferen Wuchs in fester Prosa zu erziehen. Das hätte jetzt schon geschehen sein können, wäre mir nicht ein dreiaktiges modernes Schauspielchen, eine Meerfrucht, die ich am Strande vor Sylt aufgelesen, in die Quere gekommen. Mit diesem Product bin ich noch immer so wohl zufrieden, daß mir bangt, es möchte arg mißrathen sein. Die nächste Zeit wird's an den Tag bringen. Es heißt "Das Recht des Stärkeren" und ist so zwischen Lust- u. Trauerspiel, was die Franzosen comédie nennen und wofür wir Dichter u. Denker-Volk | noch immer keinen richtigen Namen gefunden haben. Ich würde es daher am liebsten "Novelle in drei Akten" nennen, wenn ich nicht voraussähe, daß dann von der hohen u. niedern Kritik zuerst u. zuletzt über den Namen und nicht von fern über die Sache debattirt werden würde.

     Wo diese Blätter Dich treffen werden, ist mir ungewiß. Ich selbst bin noch bis zum 20sten hier zu finden, gehe dann auf 2-3 Wochen in die fichtelgebirgischen Wälder, wo ich noch eine Hängematte deponirt habe, und um die Septembermitte noch nördlicher, da ich mit meinen drei Frauen - die Tochter ist auf dem schwesterlichen Gut als Tante und Laufmädchen angestellt - über Prag, Dresden, Berlin nach Leipzig rundreisen will. Am 7. October wollen sie mir in Weimar den Alkibiades aufführen, da muß ich auch dabei sein. Du aber darfst nicht früher hieherkommen, oder ich | fahre spornstreichs wieder nach Hause und lasse alle griechischen Lorbeere im Stich, die am Strande der Ilm ohnehin nur kümmerlich wachsen werden.

     Mein liebe Frau grüßt Dich allerschönstens, desgleichen die Schwiegermama. Und nun laß von Dir hören. Ich darf mir nach der scharfen Scharwerkerei dieses Sommers wohl eine Güte thun und dazu gehört, daß Morgens auf meinem Frühstückstisch ein Brief aus Zürich liegt.

     Lebewohl!
                                                Treulichst Dein ältester
                                                PaulHeyse
München.7. Aug. 82


 

10. 8. 1882  Keller an Paul Heyse

<ZB: Ms. GK 78c Nr. 1/34; GB 3.1, S. 78>

Zürich 10 Aug. 1882.

Allerdings, du hochmütiger Grammaticide! stecke ich in diesem Augenblicke in der ersten orthographischen Schwulität, da ich bei der Revision einer im Druck befindlichen Auflage der Zürcher Geschichtchen wenigstens mit dem th am Schlusse der Silben abfahren wollte und nun eine heillose Verwirrung entstanden ist. Aber nur um so hartnäckiger werde ich auf meinem plebejisch biedermeierschen Tun beharren, und im Gedichtmanuskript schlage ich allen Todtenbeinen unbarmherzig das weichliche Knorpelfutter des d weg. Obwol mein fromme Mutter weint, da ich die Sach' hätt g'fangen an - Ich hab's gewagt! ruf' ich dir zu, trotz deinem Wappenschilde! Aber freilich blutet mir das Herz dabei, wenn ich in dem verwüsteten Buchstabengärtlein meiner Kindheit so einsamlich dastehe. Wenn man mich aber reizt, so fang' ich einfach wieder an, mittelhochdeutsch zu schreiben und dann ist die Purifikation von selbst am Platze!

     Deine liebliche Geneigtheit, ein bischen in meine lyrische Hexenküche hineinzusehen, | kommt einem schüchternen Wunsche entgegen, der mir mehr als ein Mal aufgetaucht ist. Ich habe allerdings hier Niemand, mit dem ich mich über vorkommende Zweifel und Schwierigkeiten beraten kann; die Schulmänner und Literarhistoriker können nicht helfen, weil sie immer nur die Schulbänke vor sich sehen und vom Werden und Schaffen in der Wirklichkeit nichts kennen. Daher auch die verfluchte Oberlehrer-Kritik, die jetzt grassirt neben dem unsterblichen Sekundanerstil à la Julian Schmidt. Selbst Dichter wie Kinkel oder C. Ferd. Meyer, die selbst Schönes gemacht haben, kann ich nicht brauchen, weil ich kein Vertrauen zu ihnen habe. Warum? Weil ich nie ein mündliches oder schriftliches Wort von ihnen gehört oder gesehen habe, das in kritischen Dingen von Verstand und Herz gezeugt hätte. Solche Leute stellen sich im Verkehre auch immer halb verrückt, um den Mangel einer lebendigen Seele zu verbergen, den sie wohl fühlen.

     Dich aber, lieber Freund, kann ich nicht mit einem dicken Manuskript und auch nicht mit einer sukzessiven Correspondenz zu Grunde richten, so wenig, als ich selbst dergleichen aushalten würde. Um Rettung verworfener Kindlein wäre es mir auch | weniger zu tun, als um guten Rat hinsichtlich der Verwerfung noch mehrerer. Gedruckt wird noch nicht, ich habe noch gar keinen Verleger angefragt, vielleicht aus richtigem Instinkt. Wenn nun der Spätherbst noch schöne trockene Tage brächte, so würde ich vielleicht mit dem bis dahin fertigen Ungeheuer von Handschrift nach München kommen und dich in einigen kurzen Sitzungen damit behelligen und deinen Finger auf die mir besonders schadhaft erscheinenden Stellen legen, d.h. mehr auf ganze Partie'n als auf Schuldetails, Alles, vorausgesetzt, daß Du alsdann noch munter und dazu aufgelegt wärest, und, wie gesagt, die kleine Reise Ende October u Anfang Novembers nicht zu naßkalt ausfällt.

     Hoffnungen setze ich so dünne auf das Buch, als das Pflichtgefühl, mit dem ich es zusammenstopsle, dick ist. Und wie sollt' ich anders, wenn ein Maestro, wie Signor Paolo, sich über die Lauheit der Aufnahme seiner metrischen Werke zu beklagen hat? Was übrigens zu hypochondrisch ist; denn Deine Bände werden eifrig gelesen und | schön gefunden; allein es wird das als selbstverständlich betrachtet, wovon man nicht zu reden brauche! Und diejenigen, die reden könnten (oder konnten) halten dann weislich das Maul. Das große Publikum der Jugend und des gebildeten Alters gerät schon einmal hinter die Sache, wozu indessen eine kompakte handliche Ausgabe deiner Lyrika beitragen würde. Ich will aber mir die Finger nicht länger verbrennen mit solchen naseweisen Trostreden, wie neulich wegen des dramatischen Glückes, während Du bereits mit einem Heuwagen voll Lorbeeren einhergefahren bist. Zu dem Alkibiades in Weimar wünsche ich gerechtes Schicksal und fröhliches Genießen. Es wird hoffentlich doch für den letzten Akt eine eigene Decoration und Einrichtung gemacht, wenn nicht für das Ganze!

     Du hast deine Aerzte und Freunde schön bemogelt, da du offenbar die ganze Zeit, wo du ruhen solltest, producirt hast, Dramen, Novellen und weiß Gott was! Nun kannst du wieder nach dem Wolfe rufen, es wird Niemand Mitleid fühlen, als ich, der ich die Größe der Arbeitsleidenschaft aus deren Gegensatz, der Majestät der Faulheit kenne und zu ermessen weiß, wie die Höhe eines Berges aus dem Abgrunde. Empfehle mich grüßend deinen edlen Damen und reise glückselig.

                                                Dein ehrwürdig alter
                                                Freund G. Keller


 

1. 1. 1883  Paul Heyse an Keller

<ZB: Ms. GK 79c Nr. 207; GB 3.1, S. 86 - Jahreszahl von Heyse irrtümlich eingesetzt>

München. 1. Januar 1882

Excelsior ist ein ganz schönes Wort, liebster Gotofrede, und zum Jahresanfang, an welchem ich diese Zeilen schreibe, ein gutes Motto, das ich meinen lahmen Schenkeln zu eifriger Beherzigung zurufen möchte. Auch würde unser verewigter Altmeister im Titelfinden, der gute Auerbach, der die Schwächen des werthen Publicums aus dem Grunde kannte, einem Buch in hoc signo den Sieg prophezeit haben, und sicherlich nicht Lügen gestraft worden sein. Dennoch, und obwohl ich nicht weiß, wie genau vielleicht diese Flagge zu Deiner Ladung passt, "warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe". Ein solches Citat ist mir nicht Gottfried Kellerisch genug, es erinnert an Gartenlauben-Allüren, an Dingelstedterei, und ich | zöge eine simple "Bergfahrt" oder was sonst sich schicken mag, bei Weitem vor. Unangesehen daß jenes Longfellow'sche Poem mir von jeher wie eine Attrape vorgekommen ist, die uns Schritt vor Schritt, Strophe für Strophe auf irgend einen Inhalt, ein Erreichtes, eine Aussicht vom Bergesgipfel spannt und zuletzt mit langen Gesichtern stehen lässt, da die Moral der Geschichte darin zu bestehen scheint, daß es auf das Klimmen und Klettern "als solches" ankomme, was mit geringerem lyrisch-pathetischen Aufwand auch zu sagen war. Du wirst wissen was Du willst und thust; mein Votum ins Blaue soll Dir nur zeigen, daß ich als Dein allzeit dienstwilliger Geselle mich nicht schäme, selbst mit der Stange im Nebel herumzufahren, wenn Dir damit ein Gefalle geschehen kann. |

     Neulich hat mir ein Landsmann von Dir ein Büchlein zugehen lassen, das mir freilich einen so dicken allegorisch-mythologischen Qualm aufwirbelt, wie ich noch keinen erlebt, so daß ich nach vergeblichen Versuchen, mich durchzutappen, schleunigst Kehrt gemacht und mich in die reine und lieblich durchsonnte Luft Deiner Sieben Legenden geflüchtet habe. Zu meinem größten Erstaunen höre ich, daß dieser Nebulist in Eurer klaren Höhenwelt schwärmerische Anhänger gefunden hat, so den trefflichen Widmann, der an Schack in überschwänglichen Ausdrücken von diesem tandem aliquando auferstandenen Genius geschrieben hat. Das Schlimmste ist, daß die Auflösung dieser sehr pretiös vorgetragenen - nur hie und da von wahrem Empfindungshauch durchwehten - extramundanen Räthsel noch weit sibyllinischer ist, als die Offenbarungen selbst. Und es | ist so billig, den Schein des Tiefsinns zu erregen, wenn man in Sandwüsten artesische Brunnen gräbt zu deren Grunde kein dialektisch geflochtenes Seil hinabreicht. Ich lobe mir die Mosesse, die aus dem ersten besten Felsen lebendige Quellen hervorspringen lassen.

     Mit Julius dem Grossen habe ich meine liebe Noth gehabt. Er ist ein gar guter Kerl und auch sicherlich ein Poet, dem es nur leider an jenem Körnchen bon sens fehlt, mit welchem man selbst die tollste Phantasterei genießbar machen kann. Dazu ließ er seine Gedichte so ungekämmt u. verwahrlos't an Kleidern u. Schuhen herumlaufen, wie er selbst sich zu tragen pflegt. Nicht daß es ihm an innerer Reinlichkeit fehlte; er ist eine anima candida wie wenige. Aber was er auch an seine Toilette wenden mag, es battet nichts, nicht einmal die Hülfe seiner guten Frau; und auch was hier ein Freund an ihm gethan, hat schwerlich alle Spuren dieses natürlichen Unwesens getilgt. |

     Aber ich muß schließen. Ich leide viel Schmerzen und habe triste, unergiebige Tage. Dir wünsche ich, daß es mit Deinem blühenden und grünenden excelsior so fort gehen möge bis ans Ende der Dinge. Mein Frauenzimmer grüßt herzlichst. Die Großmama glänzte übers ganze Gesicht vom Wiederschein Deiner goldnen Nüsse. Lebewohl

                                               Dein PaulHeyse

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