Ferdinand Freiligrath (1810-1876)

Editorial


Seit 1846 (Emigration in die Schweiz) mit Keller befreundet; Korrespondenz mit Keller seit 1847

 


22. 4. 1860  Keller an Ferdinand Freiligrath

<GSA 17/VIII, 53, zit. nach Kopie: ZB: Ms. GK 78p; GB 1, S. 264> 

Lieber Freund!
 
Ich habe dieser Tage einen Anlauf genommen, einiger alter Freundschaft mit papierenen Stützen beizuspringen, und ein par Briefe angefangen, deren glückliche Beendigung und Absendung die Sterne in Obhut nehmen mögen; denn ich als Mensch bin fortwährend schwach und unbeträchtlich in Ausführung meiner Absichten.

     Ich danke Dir für deine freundlichen Zeilen und die Grüße, auch für diejenigen der Frau Freiligrath und besonders auch für die elegante Postanstalt, welche Alles überbrachte und mich in meinen unwirthlichen 4 Wänden in Verwirrung setzte. Es hat sich aber ein tragisches Verhältniß daraus entwickelt. Da ich vergaß zu fragen, ob Fräulein Blind überhaupt in Zürich bleibe und bei wem sie wohne, so wurde ein zierlicher Gegenbesuch verzögert und zuletzt, wie man denn so ist, ganz aufgegeben. Meine Kurzsichtigkeit ferner veranlaßt, daß ich auf der Straße, wenn die Schöne darauf wandelt, unsicher und oft verspätet im Grüßen bin, daher ein ungnädiges Wegblicken derselben und eine nicht | mehr zu verhöhlende bedönkliche Spannung. Indessen spielt das Fräulein, wie ich höre, in der deutschen Gesellschaft eine imposante Rolle und wird besonders vom alten Sempergottfried angebetet, sodaß sie für den Kellergottfried übermäßig entschädigt ist.

     Jetzt aber zu der Hauptsache, wegen der ich eigentlich u endlich die Feder ergreife, nämlich nicht etwa, um Dich als schweizerischen Bankmagnaten anzupumpen, sondern um von dem unerwarteten Abdefiliren unsers armen Schulz zu reden. Er hat eine organische Wassersucht bekommen und konnte wörtlich nichts mehr genießen, so daß er still erloschen ist, wie ein Lichtchen. Er hat es aber nicht gern gethan und starb namentlich ungern vor Louis Napoleons Katastrophe, wenn er überhaupt eine bekommt. Frau Schulz war sehr betrübt. Sie hat ihn musterhaft gepflegt und ist jetzt vereinsamt; denn sie waren immer beisammen und spazierten nie ohne einander in der Welt umher. Neulich traf sie ein anderes indirektes Unglück, indem die Werdmühle, das Haus u Etablissement der Bodmerschen Familie, abgebrannt ist; es war ein Heidenfeuer. Ihr Vater, der alte Bodmer, ist jetzt auch in Zürich.

     Schulz war immer der Gleiche und von unverlierbarer Freundlichkeit. Vor einigen Jahren, als er eine Streitschrift gegen Vogt in Sachen des Materialismus geschrieben, die mir nicht gefiel | führte ich mich in seinem Hause schlecht auf mit Schimpfen und Tadeln und wurde so sau grob, daß die Frau Schulz sogar einige Thränchen vergoß vor Zorn. Nun gab es einige Wochen des Schmollens; allein wer zuerst wieder zu mir kam, war der gute alte Schulz, so daß die feurigen Kohlen mir fast ein Loch durch den Schädel brannten. Ich nahm sie aber herunter und da sie einmal da waren, so streute ich einige Wachholderbeeren darauf und räucherte meine Stube. Meine Mutter glaubte beinahe, ich fange an ökonomisch zu werden.

     Schulz's einziger Fehler war seine Sucht, immer etwas machiniren und intrigiren zu wollen und er hatte immer tausend kleine Aufträge und Anliegen in Sachen der Politik, besonders der Militärpolitik. Natürlich gehört diese Beharrlichkeit zu einem tugendhaften Streben; nur muß man nicht so viel vom persönlichen unmittelbaren Eingreifen und Einwirken auf Andere hoffen. In diesem Sinne hatte er sich auch an Bunsen gemacht und ist dann von dem Faselhans richtig genarrt worden, was ich ihm gerne voraus gesagt hätte, wenn ich ihn hätte betrüben mögen. Er war überhaupt in Personalsachen etwas täppisch u taktlos u manchmal indiskret.

     Er war fortwährend fleißig u unermüdlich, in der letzten Zeit aber reichten die natürlichen Gaben wohl nicht mehr ganz aus | für das erweiterte Feld; wie er sich denn mit Unrecht für einen geriebenen Taktiker hielt und sich selbst zum spezifischen Militärschriftsteller kreirt hatte.

     Was der Mensch doch für ein Scheusal ist; wenn man dieses briefliche Todtengericht mit dem Nekrolog vergliche, den ich in eine Zeitung schrieb, so würde man vor Schreck erstarren über diese Manigfaltigkeit der Auffassungen.

     Spucken thut Schulz bis dato noch nicht, wenigstens nicht in der Hottingergegend. Vielleicht spuckt er in Darmstadt; es nimmt mich Wunder, ob es ihn Wunder genommen hat, nicht wieder zu erwachen, oder ob er sein Selbstbewußtsein glücklich wieder eingefangen hat. Aber wenn er mir unsichtbar jetzt in den Brief guckt und kein Leibliches mehr hat, so kann er ja nicht einmal lachen. Möge es ihm wohl ergehen in der Ewigkeit und uns in der Zeitlichkeit.

     Deinen brillanten antiken Schillergesang

d. 22 Aprill 1860.

so weit hatte ich vor circa 4 Wochen geschrieben, als ich richtig stecken blieb. Ich fahre fort: habe ich aufrichtig bewundert. Der für die Amerikaner gefiel mir nicht ganz so gut wie der Londoner. Dieser ist aber wieder aus dem bekannten FF. Mein Prolögelchen ist leider sehr hausbacken ausgefallen. Die Schauspieler hatten gewünscht, ungereimte Jamben zu bekommen, während ich nachher zu meinem Schrecken gewahrte, daß alle Welt in den künstlichsten gereimten Formen sang.

     Inzwischen habe ich auch deinen neulichen Brief durch Herrn Graß, Vater, aus St. Gallen erhalten mit der Frage, ob er mit dem Sohne, der dort malt, auch nach Zürich kommen soll? | Das ist nun schwierig zu beantworten. Ich lebe so zurückgezogen und entfernt von allen Wohlhabenden und Banquiers, die sich heut zu Tage noch in Oel malen lassen, daß ich der ungeeignetste Mensch von der Welt bin, einem Künstler Kunden zu verschaffen. Alles was ich thun kann, ist, dem jungen Mann bei Ausstellung seiner Proben und mit Zeitungsartikeln an die Hand zu gehen, und indem ich ihn da oder dort anrühme (wenn er wirklich was kann) so vor mich hin, in den Bart murmelnd, damit die Leute glauben, es sei mir geheimnißvoll und ernst zu Muthe.

     Wir sind jetzt in großer Schwulität mit der Canaille zu Paris. Es ist leider kaum zu zweifeln, daß er unser Gebiet wird beschneiden wollen. Das Schweizervolk ist durchaus der naiven Meinung, sich mit den Franzosen zu schlagen, wenn es so weit kommt, und es kann der Schweiz eine schöne und ehrenvolle Aufgabe gestellt sein. Die größte Gefahr ist nur, daß die Franzosen mit ihrer bekannten Arglist und Katzentücke die Dinge so verwirren und abhetzen, daß der rechte Moment verhunzt wird, der indessen bis jetzt noch nicht versäumt ist. Denn die Besetzung von Nordsavoyen wäre ein wahrer Oestreichercoup gewesen. Mag übrigens kommen, was da will, Glück und Segen wird dem Bonaparte aus diesem Handel in keinem Fall erwachsen. Schwerlich würde er die Unabhängigkeit u Integrität der Schweiz lange überleben.

     Dieser Tage werde ich endlich ein Gedicht wegschicken, das mir seit sieben Jahren herum liegt. Es ist in ungereimten Trochäen etwa 8-9 Bogen lang und hat den Titel: der Apotheker v. Chamouny oder der kleine Romanzero. Es ist eine Art Grabgesang für die Heine'sche Wilkür und Polissonerie, indem bei dergleichen, mit Sentimentalität gespickt, für uns Deutsche nichts herauskomme, welche klar, wahr und naiv sein sollen, ohne deswegen Esel zu sein. |

     Es ist nun aber keine metrische Rezension, sondern eine wirkliche Romanze, allenthalben plastisch. Dennoch bin ich tragisch gestellt, indem ich die Verspätung und Unzeitgemäßheit wohl fühle, aber zu bettelhaft bin, um fertige Manuskripte ungedruckt liegen lassen zu können! O Tugend der Entsagung und der Selbstentäußerung wo bist du hingegangen? Wäre es erlaubt, die Gläubiger zu prügeln, anstatt sie zu bezahlen, so würde ich das verfluchte Gedicht mit tausend Freuden verbrennen. So aber muß ich es mit sehenden Augen in's Unglück senden, ich weiß nicht einmal, ob das Ganze nicht eine Trivialität u Dummheit ist!

     Ferner sind nächstens fertig die Fortsetzung der Leute v. Seldwyla und 2 Bändchen Novellen mit dem Titel: die Galatee. Einer ließt Logaus Distichon:

                    Wie willst du weiße Lilien zu rothen Rosen machen?
                    Küß eine weiße Galatee, sie wird erröthend lachen!

und reis't aus, das Ding zu probiren, bis es am Ende des 2t. Bandes gelingt. In diesen Novellen sind unter anderm 7 christliche Legenden eingeflochten. Ich fand nämlich eine Legendensammlung v. Kosegarten in einem läppisch frömmelnden u einfältiglichen Style erzählt (von einem norddeutschen Protestanten doppelt lächerlich) in Prosa u Versen. Ich nahm 7 oder 8 Stück aus dem vergessenen Schmöcker, fing sie mit den süßlichen u heiligen Worten Kosegärtchens an und machte dann eine erotisch-weltliche Historie daraus, in welcher die Jungfrau Maria die Schutzpatronin der Heirathslustigen ist. Wenn Gutzkow den Handel entdeckt, so wird er mich des Plagiats beschuldigen. Was sagst du zu Daumer? Humboldts u Varnhagens Briefe sind sehr zweckdienlich. sub rosa gestehe ich jedoch, daß ich einen Theil der Entrüstung u Freiheitsliebe für die bekannte Medisance geistreicher Greise halte.

     Grüße ergebenst die Frau Gemahlin und die kleinen FF'chen, welche freilich dem Diminutiv nun entwachsen sein werden.
                                  dein G. Keller.
Frau Schulz grüßt natürlich bestens. |

Auf welche Art schickt man an Dich u Kinkeldei am füglichsten Buchpaketchen?

  


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