GH 4.09

187 Neuntes Kapitel.

Das Grafenschloß.

So ging es bis zur Abenddämmerung, wo die Ermüdung, Frost und jegliche Schwäche so überhand nahmen, daß ein moralischer Zusammenbruch nur durch die ärgerliche Betrachtung verhindert wurde: es könne ja keine Rede davon sein, etwa umzukommen oder unterzugehen, und das schlechte Abenteuer wäre also als bloße Vexation durchaus entbehrlich. Ich raffte mich nochmals zusammen und bekam wieder die Oberhand.

Endlich trat ich aus den Forsten heraus und sah ein breites Thal vor mir, in welchem ein großes Herrengut zu liegen schien; denn schöne Parkbäume zeigten sich anstatt des Waldes und umgaben eine Dächergruppe, und weiterhin lag zwischen Feldern und Weidegründen eine weitläufige Dorfschaft zerstreut. Zunächst vor mir sah ich eine kleine Kirche stehen, deren Thüren geöffnet waren.

Ich ging hinein, wo es schon ziemlich dunkel 188 war und das ewige Licht wie ein trübröthlicher Stern vor dem Altare schwebte. Die Kirche war offenbar sehr alt, die Fenster zum Theil noch aus gemalten Scheiben bestehend und Wand und Boden mit Grabsteinen und Mälern bedeckt.

«Hier will ich die Nacht zubringen,» sagte ich zu mir selbst, «und mich im Schatten dieses Tempels ausruhen!»

Ich setzte mich in einen schrankartigen Beichtstuhl, in welchem ein dickes Kissen lag, und wollte eben das Vorhängelchen zuziehen, um augenblicklich einzuschlafen, als eine Hand das grüne Seidenfähnchen festhielt, und der Küster, der mir in weichen Hausschuhen nachgegangen, vor mir stand und sagte:

«Wollt Ihr etwa hier übernachten, guter Freund? Ihr könnt nicht da bleiben!»

«Warum nicht?» sagte ich.

«Weil ich sogleich die Kirche schließen werde! Geht nur hinaus!» erwiderte der Küster.

«Ich kann nicht gehen,» sagte ich, «laßt mich hier sitzen, nur einige Stunden, die Mutter Gottes wird es Euch nicht übel nehmen!»

«Geht jetzt sogleich!» rief er, «Ihr könnet durchaus nicht hier bleiben!»

Ich schlich also trübselig aus der Kirche und der wachsame Seilzieher machte sich daran, die Thüren 189 zu verschließen. Ich stand jetzt auf dem Kirchhofe, welcher einem wohlgepflegten Garten glich; jedes Grab war für sich oder mit andern zusammen ein Blumenbeet, in freier Anordnung; besonders die Kindergräblein waren anmuthig vertheilt, bald als eine kleine Versammlung auf einer Raseninsel, bald einsam in einem lieblichen Schmollwinkel unter einem Baume, bald zwischen Gräbern der Alten, gleich Kindern, die den Müttern an der Schürze hangen. Die Wege waren mit Kies bedeckt und sorgfältig gerechet und führten ohne Scheidemauer unter die dunkeln Bäume eines Lustwaldes, Ahorne, Ulmen und Eschen. Der Regen hatte nachgelassen; doch fielen noch zahlreiche Tropfen, indeß im Westen ein Streifen feurigen Abendrothes lag und einen schwachen Schein auf die Leichensteine warf. Ich ließ mich unwillkürlich auf eine Gartenbank nieder, die mitten in den Gräbern stand.

Da kam ein schlankes weibliches Wesen aus dem tiefen Schatten der Bäume hervor, mit raschen Schritten, welches reiche dunkle Locken im Winde schüttelte und mit der einen Hand eine Mantille über der Brust zusammenhielt, während die andere einen leichten Regenschirm trug, der aber nicht aufgespannt war. Diese sehr anmuthige Gestalt eilte gar wohlgemuth zwischen den Gräbern herum und 190 schien dieselben aufmerksam zu besichtigen, ob die Gewächse von Sturm und Regen nicht gelitten hätten. Hie und da kauerte sie nieder, warf den leichten Schirm auf den Kiesweg und band eine flatternde Spätrose frisch auf oder schnitt mit einem glänzenden Scheerchen eine Aster oder dergleichen ab, worauf sie weiter eilte. Erschöpft wie ich war, sah ich die schöne Erscheinung vor mir hinschweben und dachte nicht viel dabei, als der Küster wieder zum Vorschein kam.

«Hier könnt Ihr auch nicht bleiben, guter Freund!» redete er mich abermals an; «dieser Gottesacker gehört gewissermaßen zu den herrschaftlichen Gärten, und kein Fremder darf sich da zur Nachtzeit herumtreiben.»

Ich antwortete gar nichts, sondern sah rathlos vor mich hin; denn ich konnte mich beinah nicht entschließen aufzustehen.

«Nun, hört Ihr nicht? Auf! Steht in Gottes Namen auf!» rief er etwas lauter und rüttelte mich an der Schulter, wie man einen auf der Wirthsbank Eingeschlafenen aufmuntert.

In diesem Augenblicke kam die Dame in die Nähe und hielt ihren sorglosen Gang an, um dem Handel zuzuschauen. Ihre Neugierde war von so kindlich anmuthiger Gebärde und die Person so schönäugig, 191 so viel in der Dämmerung zu sehen, von so unverhohlener natürlicher Freundlichkeit, daß ich für den Augenblick neu belebt mich erhob und mit dem Hut in der Hand vor ihr stand. Ich schlug jedoch verlegen die Augen nieder, als sie mich in meinem durchnäßten und beschmutzten Aufzuge aufmerksam betrachtete.

Inzwischen sagte sie zu dem Kirchendiener:

«Was giebt es hier mit diesem Manne?»

«Ei, gnädiges Fräulein!» antwortete der Küster, «Gott weiß, was das für ein Mensch mag sein! Er will durchaus hier einschlafen; das kann doch nicht geschehen, und wenn er ein armer Vagabund ist, so schläft er gewiß besser im Dorf in irgend einer Scheuer!»

Die junge Dame sagte freundlich, zu mir gewendet: «Warum wollen Sie denn hier schlafen? Lieben Sie die Todten so sehr?»

«Ach, mein Fräulein,» erwiderte ich aufblickend, «ich hielt sie für die eigentlichen Inhaber und Gastwirthe der Erde, die keinen Müden abweisen; aber wie ich sehe, sind sie nicht viel vermögend und wird ihre Intention ausgelegt, wie es denen gefällt, die über ihren Köpfen einhergehen!»

«Das sollen Sie nicht sagen,» versetzte lächelnd das Fräulein, «daß wir hier zu Lande schlimmer 192 gesinnt seien, als die Todten! Wenn Sie sich nur erst ein bischen ausweisen wollen und sagen, wie es Ihnen geht, so werden Sie uns Lebendige hier schon als leidliche Leute finden!»

«Darf ich Ihnen zum Anfang meine Schriften vorweisen?»

«Die können falsch sein! Verfahren Sie lieber mündlich!»

«Nun, ich bin guter Leute Kind und eben im Begriff, so sehr ich kann zu laufen, woher ich gekommen bin! Leider geht es nicht unaufgehalten, wie es scheint!»

«Und woher kamen Sie denn?»

«Aus der Schweiz. Seit einigen Jahren lebte ich als Künstler in Ihrer Hauptstadt, um zu entdecken, daß ich keiner sei. So bin ich nun ohne bequeme Reisemittel auf dem Heimwege und glaubte, ohne Jemandem lästig zu fallen, nur so durchlaufen zu können. Das hat der Regen verhindert; darum hoffte ich ungesehen die Nacht in dieser Kirche zuzubringen und in aller Frühe still weiter zu ziehen. Wenn hier ganz in der Nähe ein Vordach oder ein offener Schuppen ist, denn weiter kann ich nicht mehr, so befehlen Sie großmüthig, daß man mich dort ruhen läßt und thut, als ob ich gar nicht da wäre, und am Morgen werde ich dankbar wieder verschwunden sein!»

193 «Sie sollen ein besseres Quartier haben, kommen Sie jetzt mit mir, ich will es vorläufig über mich nehmen, bis mein Vater erscheint, der bald von seiner Jagdpartie zurückkehren wird.»

Obschon ich vor kalter Nässe schlotterte, seit ich dastand, zögerte ich doch, ihr zu folgen. Als das Fräulein mich wartend ansah, bat ich um Entschuldigung, ich sei trotz meiner wunderlichen Lage kein Bettler, und ihr Anerbieten kreuze meinen Plan, ohne fremde Hülfe nach Hause zu gelangen.

«Sie sind aber ja ganz durchnäßt und frieren, wie ein Pudel, mein stolzer Herr! Wenn Sie im Freien bleiben, so können Sie bis zum Morgen das schönste Fieber haben und sind dann erst recht verhindert, ohne Hülfe und Pflege weiter zu kommen. Sie sollen sich vor der Hand auch nur in einem Gartenhause aufhalten, wo ich den Tag zugebracht habe und ein warmes Feuer brennt. So sperren Sie sich denn nicht länger, damit wir Sie nach Ihrem Wunsche am sichersten und auf's bäldeste wieder los werden! Und Ihr, Küster, folgt uns als dienstbare Begleitung zur Strafe dafür, daß Ihr diesen frommen Pilgrim so ungastlich behandelt habt!»

«Und was würde man mir sagen, gnädigstes Fräulein,» brummte der Küster ganz unwirsch, «was 194 würde man mit mir anfangen, wenn ich Nachts die Kirche offen ließe oder einen Fremden darin einschlösse? Hat man noch nie von nächtlichem Kirchenraub gehört? Wurden noch keine Leuchter, Kelche und Patenen gestohlen?»

Hier mußte ich lachen und sagte: «Haltet Ihr mich für einen Shakespeare'schen Bardolph, der in Frankreich wegen der gestohlenen Monstranz gehängt wurde?»

«Nachdem er schon in England einen Lautenkasten entwendet, zwölf Stunden weit getragen und für drei Kreuzer verkauft hatte?» fügte das vortreffliche Frauenzimmer bei, indem sie mit einem hellen Antwortlachen mich anblickte. Da versetzte ich meinerseits:

«Wenn Sie im Gebrauch gemeinschädlicher Citate so schlagfertig sind, darf ich es doch wagen, Ihnen zu folgen; denn wir gehören ja einem öffentlichen Geheimorden an, der sein Dasein billig durch gegenseitiges Wohlthun nützlich machen mag.»

«Sehen Sie, so hat Alles in der Welt seine gute Seite!» sagte sie und schritt vorwärts; ich ging mit und der Küster folgte uns verblüfft und mißtrauisch durch den dunkeln Park. Bald leuchteten durch die Bäume die erhellten Fenster eines geräumigen Gartenhauses, das in einiger Entfernung vom 195 Wohngebäude stehen mochte. Wir traten in einen kleinen Saal, der nur durch eine Glasthüre vom Parke getrennt war; ein schönes Feuer brannte im Kamin, die Dame rückte einen Lehnstuhl von Rohrgeflecht herbei und forderte mich auf, nunmehr auszuruhen. Ohne Säumen setzte ich mich in den Stuhl, fand mich aber durch meine unförmige Reisetasche einigermaßen belästigt.

«So legen Sie doch die Tasche ab!» sagte die Herrschaftstochter, «oder tragen Sie wirklich einen gestohlenen Lautenkasten darin herum, weil Sie sich nicht davon trennen können?»

«Es ist so was!» meinte ich dagegen, entledigte mich aber des von dem Schädel geschwollenen Umhängsels, welches der Küster auf einen Wink des Fräuleins mir abnahm und in einen Winkel lehnte. Mit der Fußspitze befühlte er dabei fast unmerklich die rundliche Erhöhung, ob nicht wenigstens eine geraubte Melone dahinter stecke, da er aus dem Lautenkasten nicht klug wurde.

Das Fräulein, das inzwischen sich zu schaffen gemacht, kam jetzt wieder, stellte sich vor mich hin und frug mitleidig: «Wie heißen Sie denn? Oder wollen Sie ganz incognito reisen?»

«Heinrich Lee,» sagte ich.

«Herr Lee, geht es Ihnen durchaus schlecht? 196 Ich habe keinen rechten Begriff davon. Sie sind doch am Ende nicht so arm, daß Sie auch nichts zu essen haben?»

«Es hat nichts zu bedeuten, aber im Augenblicke ist es allerdings so; denn wenn ich mehr als ein Mal im Tag esse, so reicht meine Kriegskasse nicht aus, bis ich nach Hause komme.»

«Aber warum thun Sie das? Wie kann man sich so der Noth aussetzen?»

«Nun, mit Absicht habe ich es gerade nicht gethan; da es aber einmal so ist, so nehme ich es sogar dankbar hin, insoweit der Zwang einen Dank verdient. Man lernt an Allem etwas. Für Frauen sind dergleichen Uebungen nicht nothwendig, da sie immer nur thun, was sie nicht lassen können; für unsereinen sind so recht handgreifliche Exerzitien gut; denn was wir nicht sehen und fühlen, sind wir selten zu glauben geneigt oder halten es für unvernünftig und nicht der Beachtung werth!»

Sogleich holte sie mit Hülfe des Küsters einen kleinen Tisch herbei, auf welchem ein par Teller mit einigem Essen standen.

«Hier ist zum Glück gerade mein Abendbrot. Nehmen Sie vorläufig etwas zu sich, bis Papa nach Haus kommt und für Sie sorgt. Geht schnell in's Haus hinüber, Küster, und laßt Euch von der Haushälterin 197 eine Flasche Wein geben, hört Ihr? Trinken Sie lieber weißen oder Rothwein, Herr Lee?»

«Rothen!» sagte ich unhöflich, weil ich jetzt wieder verlegen war, in diesem Zustande zwischen einem hülfsbedürftigen und unbekannten Landfahrer und einem gut behandelten Angehörigen der Gesellschaft das rechte Wort zu treffen.

«So soll man Euch von unserm rothen Tischwein geben!» rief sie dem abgehenden Küster nach und zog dann an einer Klingelschnur, worauf ein ländlich gekleidetes Mädchen herbeigelaufen kam, welches von meinem Anblick überrascht stehen blieb und mich mit Erstaunen betrachtete. Es war die Tochter eines Gärtners, der unter dem gleichen Dache seine Wohnung hatte; wie sich mit der Zeit ergab, stellte sie die Dienerin und Vertraute des Fräuleins in einer Person vor und stand mit der Herrentochter auf du und du.

«Wo steckst du, Röschen?» rief die letztere, «hurtig zünde Licht an, wir haben eine Heimsuchung und bleiben vorerst noch hier!»

Ich unterdessen hatte Gabel und Messer ergriffen, um einer Schnitte kalten Bratens zuzusprechen, war aber neuerdings verlegen. Das silberne Werkzeug war ein offenbar lange gebrauchtes Kinderbesteck; auf der kleinen Gabel war in gothischer Schrift der 198 Name «Dorothea» sauber eingegraben, und da das neu angekommene Röschen die Herrin so eben Dortchen nannte, hielt ich unzweifelhaft ihr eigenes Eßgeräthe in der Hand. Ich legte dasselbe nieder; Röschen bemerkte gleichzeitig den Umstand und rief: «Was machst du denn, Dortchen? Du hast ja dem Manne dein eigenes Besteck gegeben!»

Leicht erröthend sagte das sogenannte Fräulein Dortchen: «Wahrhaftig, so geht es, wenn man zerstreut ist! Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit meinen Kinderwaffen versehen habe! Sollten Sie indessen nicht davor ekeln, so dürften Sie nur ruhig fortfahren, und ich selbst gewänne das Ansehen einer heiligen Elisabeth, welche die Armen aus ihrem eigenen Teller speist.»

Auf diesen artigen Scherz wußte ich nichts mehr einzuwenden. Doch wollte es mit dem Essen nicht recht gehen; ich empfand auf einmal keinen Appetit, vielmehr bedrückte mich ein Gefühl, als ob ich am unrechten Orte wäre, und wünschte, draußen auf der Landstraße und in der Freiheit zu sein, wußte aber freilich, daß es nicht gut gehen würde. Es wurde mir etwas behaglicher zu Muthe, als ich ein Glas Wein ausgetrunken, das mir Röschen eingeschenkt, mich mit kritischen Aeuglein musternd. Dann lehnte ich mich zurück und sah dem Treiben der beiden 199 Personen zu. Das Fräulein hatte sich inmitten des Saales an einen großen runden Tisch gesetzt und die Gärtnerstochter stand neben ihr. Auf dem Tische befanden sich allerlei Gläser und Krügelchen mit Blumen und bunten Waldsachen, wie sie der Herbst zu bringen pflegt, rothe und schwarze Beerenbüschel. Dazwischen lag merkwürdiges, purpurrothes oder goldgelbes Blattwerk, gefiedert und herzförmig, glänzend grüne Epheublätter von besonderer Schönheit, Schilf, alles bereit, zu einem Strauße vereinigt zu werden oder auch so zur Augenweide zu dienen. Die Blumen schienen von dem Kirchhofe zu kommen, wie ich denn sah, daß das Fräulein auch die heute gepflückten eben in ein Glas mit frischem Wasser stellte. Einige Sträußchen waren frisch, andere verwelkt oder halb verwelkt, was anzuzeigen schien, daß die Schöne eine liebevolle Freundin und Pflegerin der Todten sein müsse. Das erinnerte mich an die Sage von der heiligen Elisabeth, die als Kind mit ihren Genossen gern auf Gräbern gespielt und von den Todten gesprochen hatte, und da diese Dorothea selbst in jenen Legenden bewandert war, so verlieh dies alles ihrem Wesen den Goldglanz einer tieferen Gemüthsart, während ihr freies und entschiedenes Benehmen die Voraussetzung einer kirchlichen Bigotterie nicht aufkommen ließ.

200 Ich blickte mit einer Art einschläfernden Wohlgefallens nach dem Tische hin, sah und hörte mit halboffenen Augen und Ohren noch eine Weile, was sie thaten und sprachen, ohne darauf zu merken, bis ich wirklich einschlief. Auf einem Stuhle neben sich hatte das Fräulein eine umfangreiche Mappe stehen, aus welcher sie größere und kleinere Blätter nahm, die auf Bogen starken Papieres zu heften sie beschäftigt war, daß die Blätter geschützt und mit einem breiten Rande versehen wurden. Das bewerkstelligte sie mit kleinen Papierstreifchen und etwas arabischem Gummi, und Röschen hielt ihr diese Dinge bereit.

«Nun müssen wir wieder Papier zuschneiden,» sagte sie, als der Vorrath der Unterlagen soeben zu Ende ging. Sie schoben die hindernde Unordnung des Tisches eifrig zur Seite, um Raum zu gewinnen, legten neue Bogen auf und begannen mit ihren Arbeitsscheerchen darin zu wirthschaften, wie wenn sie Leinwand vor sich hätten und Handtücher zuschnitten. Da das Papier keine leitenden Fäden besaß, so schrumpfte es stellenweise auf der Klinge zusammen, oder die Scheeren fuhren in's Krumme, und die Mädchen erlitten allerhand kleinen Verdruß, den sie sich scherzend vorwarfen.

«Ei, Kind,» rief Dorothea, «du machst ja lauter 201 gefranzte Ränder, Papa wird unsere Arbeit gewiß kassiren, wenn er sie sieht, und sich endlich selbst dahinter machen!»

«Und du mit deinem Augenmaß! Sieh wie schief die Landkarte dort sitzt! Da machen wir's besser, der Vater und ich, wenn wir die Gemüsebeete abtheilen!»

«So schweig doch, ich weiß es ja schon! Es sind aber auch gar zu große Dinger darunter, man kann sie ja gar nicht ordentlich übersehen! Da haben wir im Institut vernünftigeres Format gehabt, wenn wir unsere Blumenbildchen malten; nun, der Papa bringt die Sachen nachher schon mit Lineal und Bleistift in die Richte. Die Hauptsache ist, daß wir kein Blatt zu klein schneiden; denn er will alle von der gleichen Größe haben. Er hat schon einen Kasten dafür machen lassen, worin sie liegen sollen, wie in Abrahams Schooß; auch ein par hölzerne Rahmen mit Gläsern hat er für sein Studierzimmer bestellt, um abwechselnd dies oder jenes Blatt darin aufzuhängen, das ihm besonders gefällt. Diese Rahmen werden auf der Rückseite mit bequemen Schiebern versehen sein.»

«Was nur an diesen Sachen zu gucken ist? Zu was braucht man sie denn?»

«Ei, du Närrchen, zum Vergnügen! Man muß 202 sie kennen oder verstehen, das ist das Vergnügen! Siehst du denn nicht, wie lustig dies aussieht, alle diese Bäume, wie das kribbelt und krabbelt von Zweigen und Blättern und wie die Sonne darauf spielt? Und alles das hat Einer lernen müssen, um es hervorzubringen!»

Röschen legte die Arme auf den Tisch, neigte das Näschen gegen ein Blatt und sagte: «Wahrhaftig, ja, ich seh's! Wie meines Vaters grüne Sonntagsweste! Ist das hier ein See?»

«Warum nicht gar ein See, du Heuschreck! Das ist ja der blaue Himmel, der über den Bäumen steht! Seit wann sind denn die Bäume unten und das Wasser oben?»

«Geh' doch, der Himmel ist ja rund und gewölbt und das Blaue hier ist flach und viereckig, wie unser großer Teich, wo der Herr die jungen Linden drum hat pflanzen lassen. Gewiß hast du das Bild verkehrt aufgeklebt! Wend' es einmal um, dann ist das Wasser unten und die Bäume sind ordentlich oben!»

«Ja, auf dem Kopf stehend! Das ist ja nur ein Stück vom Himmel, du Kind! Guck durch's Fenster, so siehst du auch nur ein solches Viereck, du Viereck!»

«Und du Fünfeck!» sagte Röschen und schlug 203 der Herrin mit der flachen Hand sanft auf den Rücken.

Ich schlief über dem Mädchengezwitscher, das sich bis hieher ohne meine Theilnahme mir in's Gehör geschmeichelt, wirklich ein, erwachte aber einige Minuten später über einer ganz nah vor mir stattfindenden wohllautenden Ausrufung meines Namens. Die Gärtnerin hatte nämlich nach einem Weilchen, indem sie das aufgezogene Blatt weglegte, in einer Ecke desselben Namen und Jahreszahl zufällig bemerkt und gesagt: «Was steht denn hier geschrieben?»

«Was wird da stehen!» hatte Dorothea erwidert, «der Name des Künstlers, der die Studien gemacht hat; denn das nennt man Studien, Landschaftsstudien! Heinrich Lee heißt er, alles in dieser Mappe ist von ihm!» Dann hatte sie sich plötzlich selbst unterbrochen, nach mir hergesehen und gerufen: «Wie kann man so gedankenlos sein! Das sind ja meistens Schweizerlandschaften, wie Papa sagt!»

Als ich jetzt die Augen aufschlug, stand sie dicht vor mir und hielt einen großen Bogen, zierlich an den obern Ecken gefaßt, vor der Brust, wie eine Kirchenstandarte, den schönen Mund noch geöffnet von dem Ausrufe: «Herr Heinrich Lee!»

Ich war aber schon so schlaftrunken, daß ich die 204 ersten Augenblicke nicht wußte, wo ich mich befand. Ich sah nur ein reizendes Wesen vor mir stehen, das mit freundlichen Augensternen über ein Bild herblickte. Voll traumhafter Neugierde beugte ich mich vor und starrte auf das Bild, bis mir erst die Waldlandschaft als bekannt erschien und ich mich dann auch meiner Jugendarbeit erinnerte. Es war ein überhöhtes Bild, welches zwischen schlanken Stämmen eine helvetische Schneefirne schimmern ließ. Ich erkannte es besonders auch an einer großen, breit wuchernden Schierlingspflanze, deren weiße auf tiefem Helldunkel schwebende Blüthenbüschel hell vom Lichte gestreift wurden. Diese malerische Pflanze hatte mir in jenen vergangenen Tagen so viel Freude gemacht, daß ich sie mit glücklicherem Fleiße, als gewöhnlich, nachgebildet, und sie war auch so reichhaltig und gelungen in ihren speziellen Stengel- und Blätterkünsten, daß ich nie einer zweiten Schierlingsstudie bedurfte, so lang ich dieses Blatt besaß. Auch hatte ich ihr ein wehmüthiges Fahrewohl gesagt, als ich mich davon trennte.

Aber von dem Bilde weg blickte ich in das Gesicht hinauf, welches darüber lächelte, und auch dieses erschien mir in dieser Nähe und der glänzenden Beleuchtung des Feuers plötzlich als alt vertraut; und doch wußte ich nicht, wo ich es schon gesehen. 205 Ich sann und sann, denn die Erscheinung reichte über diesen Tag, dessen Erlebnisse mir übrigens auch nicht gleich gegenwärtig waren, in das Vergangene zurück. Unversehens erkannte ich an einem grüßenden Winken der Augen und der geöffneten Lippen das schöne Frauenzimmer, welches einst bei dem alten Trödler in's Fenster geschaut und nach chinesischen Tassen gefragt hatte; und nun zweifelte ich nicht länger, daß ich noch in einem jener Träume von der mißlungenen Heimkehr begriffen sei, und hielt demnach die ganze Erscheinung für ein neckendes Traumbild und meine Gedanken hierüber für das scheinbare Bewußtwerden des Träumenden, der zu erwachen und sich im alten Elende zu finden fürchtet. Da ich aber in der That erwacht war und mit lebendigem Verstande arbeitete, so empfand ich alles um so deutlicher und stärker, und als ich den Blick wieder auf die unschuldige Landschaft wandte, in welcher ich jeden bunten Stein und jedes Gras wieder zu erkennen mir bewußt war, wurden mir die Augen naß und ich drehte den Kopf zur Seite, um das Traumbild verschwinden zu lassen.

Nach Jahren noch entnehme ich dieser kleinen Begebenheit, daß das Erlebte zuweilen doch so schön ist, wie das Geträumte, und dabei vernünftiger; und auf die Dauer kommt es ja nicht an.

206 Dorothea war verstummt und sah mit Rührung und Theilnahme meinem Verhalten zu; sie vermochte sich nicht zu bewegen und verharrte daher eine Minute in ihrer anmuthvollen Stellung.

Endlich rief sie wiederholt meinen Namen und sagte: «So sprechen Sie doch! Sind Sie es, der dies gemacht hat?»

Von dem vollen Ton ihrer Stimme ermuntert, stand ich auf, ergriff den Bogen und nahm denselben prüfend in beide Hände. «Gewiß hab' ich das gemacht,» sagte ich; «wie kommen Sie dazu?» Zugleich wurde ich nachträglich auch der übrigen Sachen vollständig gewahr, mit denen ich die Frauenzimmer im Halbwachen hatte hantieren sehen; ich ging zum Tische hin, nahm einige Blätter in die Hand, störte auch mit ein par Griffen in der Mappe herum, alle waren es meine Zeichnungen und Studien; nichts schien zu fehlen, sie lagen bei einander, wie sie einst in meinem Besitz gethan.

«Welch' ein Abenteuer!» rief ich nun selbst voll Verwunderung; «wer würde glauben, dergleichen zu erfahren!»

Dann blickte ich wieder auf das Fräulein, das meinen Bewegungen mit ebenso gespannter als erfreuter Neugierde und offenen Auges folgte; und ich sagte: «Aber auch Sie hab' ich schon gesehen, 207 und ich weiß jetzt, wo Sie die Sachen geholt haben! Haben Sie nicht eines Tages dem alten Joseph Schmalhöfer in's Fenster gesehen und nach alten Tassen gefragt, als Einer dort auf der Flöte blies?»

«Freilich, freilich!» rief sie; «aber lassen Sie mal sehen!»

Ohne sich zu scheuen, schaute sie mich genau an, indem sie die Hände auf meine Schultern legte.

«Wo hab' ich heute nur meine Gedanken?» sagte sie mit neuem Erstaunen; «es ist so! Ich habe dies Gesicht gesehen in der Höhle des Hexentrödlers, wie ihn der Vater nennt. Und ob die Wolke sie verhülle, haben Sie geflötet, nicht wahr, Herr Heinrich – Herr Heinrich Lee? Wie heißt es nur weiter?»

«Die Sonne bleibt am Himmelszelt! es waltet dort ein heil'ger Wille, nicht blindem Zufall dient die Welt! Was soll ich nun davon denken?»

«Nun, wenn wir durchaus Mythologie treiben wollen, so mag die allerliebste Gottheit des Zufalls herrschen, so lange sie so artige Streiche macht! Man sollte ihr nur junge Rosen und Mandelmilch opfern, damit sie immer so leicht, so leis und so wohlthätig regiert! Jetzt aber sollen Sie auch in aller Ordnung aufgenommen sein, wie es der 208 denkwürdigen Begebenheit und den Umständen gemäß ist! Im Hause hier ist ein einfaches Gastzimmer. Ich will sogleich die nöthige Vorkehr treffen, daß Sie sich vor der Hand umkleiden können. Bleibe so lang hier, Röschen, daß dem ärmsten Herrn Lee niemand etwas thut!» Worauf sie forteilte.

Ich wußte nicht, ob ich diese neue Wendung für ein Glück erachten sollte, und beschaute seufzend meine Zeichnungen, die ich so unerwartet wieder gefunden, um sie abermals zu verlieren. Das Mädchen Rosine, welches sich schnell in die gute Laune der Herrin gefunden und mich für schüchtern halten mochte, sagte freundlich: «Machen Sie sich gar nichts daraus! Der Herr Graf und das Fräulein thun immer, was ihnen beliebt und was recht ist. Und wie sie es thun, so meinen sie es auch und kümmern sich nicht um das, was andere Herrschaften sagen.»

«Also bin ich gar noch bei einem Grafen?» versetzte ich mehr erschrocken als angenehm überrascht.

«Das wissen Sie nicht? Beim Grafen Dietrich zu W...berg!»

Da kam nun zu Allem noch die Unkunde hinzu, mit Leuten mir gänzlich fremder Rangklassen umzugehen; 209 ich hatte in meinem Leben nie mit einem sogenannten Grafen verkehrt und hegte abenteuerliche Vorstellungen von den persönlichen Lebensarten und Ansprüchen solcher Herren, die meinen angeborenen bürgerlichen Gleichheitssinn beeinträchtigten. Bedachte ich aber, daß ich, selbst wenn der Hausherr ein Bauer wäre, in meinen Schuhen schon nicht mehr auf gleichen Füßen mit ihm stände, so gerieth ich in neue Verwirrung über die Wendung, die meine Wanderschaft genommen. Das Mädchen fuhr jedoch gutmüthig fort, mir Muth einzuflößen.

«Der Herr wird sich ganz gewiß verwundern und freuen, Sie so unvermuthet zu finden; denn als er seiner Zeit die ersten Bilder aus der Residenz gebracht und später immer noch welche anlangten, hat die Herrschaft sie alle Tage betrachtet und die Mappe mußte immer bereit stehen.»

Nach einiger Zeit kam Dortchen zurück. «Thun Sie mir nun den Gefallen und gehen Sie eine Treppe höher!» sagte sie; «Röschen wird Ihnen hinaufleuchten und ihr Vater die weitere Handreichung thun. Machen Sie sich so bequem, als es in der Schnelligkeit möglich ist, damit Sie in guter Verfassung noch den Papa begrüßen können und ich keinen Verweis wegen versäumten Menschenpflichten erhalte!»

210 Ich ergriff meine Reisetasche, welche mir Röschen jedoch abnahm und nebst einem Leuchter vorantrug, und so wanderte ich in Gottes Namen in den oberen Stock des Gartenhauses und in die Wohnstube des Gärtners. Dieser saß mit dem Küster beim Abendtrunk und empfing mich schon als einen Ankömmling, bei dem alles in Ordnung ist; auch der Küster betrachtete mich jetzt als einen Gast, der wohl empfohlen und erwartet wurde, sich aber offenbar mit der Art seines Auftretens einen eigenthümlichen Scherz gemacht hat. Der Gärtner führte mich noch einige Stufen höher, wo auf der dem Schlosse zugewendeten Rückseite des Gartenhauses ein auf hölzernen Säulen ruhendes Sälchen hinausgebaut war. Dies angehängte Lustgebäudchen war außen von den Säulenfüßen bis zum Dache mit purpurrothem Geißblatt bekleidet; inwendig enthielt das Gemach ein Bett und anderes Geräthe in so genügender Wahl, daß man nicht nur Nächte, sondern auch Tage darin wohnen konnte.

Auf Stühlen lagen schon bequemliche Kleidungsstücke bereit, deren mich zu bedienen der Gärtner die Einladung ergehen ließ. Um sie nicht anziehen zu müssen, zog ich jedoch vor, mich gleich zu Bette zu legen, zumal ich die Augen zu schließen wünschte, und bat den Gärtner, meine nassen Kleider zu holen, 211 sobald jenes geschehen sei, damit sie getrocknet und gereinigt würden. Als ich nach allem diesem endlich im Dunkeln lag, hörte ich Geräusch von Pferden und Wagen, auch Gebell von Hunden. Das war ohne Zweifel der heimkehrende vornehme Herr, vor welchen heute nicht mehr hintreten zu müssen ich als schätzbaren Aufschub betrachtete.

 


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