GH 3.12

219 Zwölftes Kapitel.

Fremde Liebeshändel.

Die räumliche Entfernung unserer Heimatlande untereinander, indem sie im äußersten Norden, Westen und Süden des ehemaligen Reichsrandes liegen, verband uns mehr, als daß sie uns trennte. Alle drei von einem gleichen inneren Zuge der gemeinsamen Abstammung beseelt und an den großen Binnenherd der Völkerfamilie gekommen, befanden wir uns in der Lage weitläufiger Vettern, die im Gedränge eines gastfreien Hauses unbeachtet die Köpfe zusammenstecken und sich Lob oder Tadel dessen was ihnen gefiel oder mißfiel gegenseitig anvertrauen. Wir hatten freilich schon ein und anderes Vorurtheil mitgebracht, ohne unsere Schuld. Es war jene Zeit, da Deutschland von seinen dreißig oder vierzig Inhabern so engsinnig und ungeschickt verwaltet wurde, daß Schaaren von Vertriebenen jenseits der Grenzen umherzogen und die Fremden im Schmähen und Schelten gegen ihr Vaterland förmlich unterrichteten. 220 Sie setzten Spottworte in Umlauf, welche den Nachbaren bisher unbekannt gewesen waren und nur aus dem Innern des gescholtenen Landes kommen konnten, und da die Gaben der Selbstironie, deren Uebertreibung das Phänomen am Ende war, außerhalb Deutschlands nur spärlich verstanden und geschätzt werden, so nahm der Fremde das Unwesen zuletzt für baare Münze und lernte es selbständig gebrauchen oder mißbrauchen, zumal man sich mit solchem Thun förmlich einschmeicheln konnte bei den Unglücklichen, die in ihrer Weltunkenntniß hievon Hilfe und Beistand erwarteten. Jeder von uns hatte dergleichen gehört und in sich aufgenommen. Mit der Zeit aber führte uns das vertraute Gespräch zu der Verständigung, daß die Ausgewanderten und die Daheimgebliebenen jederzeit verschiedene Leute seien, und daß, um den Charakter eines Volkes recht zu kennen, man dasselbe bei sich und an seinem Herd aufsuchen müsse. Es sei geduldiger und darum auch besser, als die Ausgeschiedenen, und stehe daher nicht unter, sondern über ihnen, trotz des gegentheiligen Anscheines, den es schließlich immer zu vernichten wisse.

Waren wir nun hierüber beruhigt, so plagte uns wieder ein anderes Uebel, nämlich der Gegensatz zwischen den Südlichen und Nördlichen. Bei 221 Völkerfamilien und Sprachgenossenschaften, welche zusammen ein Ganzes bilden sollen, ist es ein wahres Glück, wenn sie einander etwas aufzurücken und zu sticheln haben; denn wie durch alle Welt und Natur bindet auch da die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, und das Ungleiche und doch Verwandte hält besser zusammen. Das aber, was wir die Nord- und Südländer sich vorwerfen hörten, war gröblich beleidigend und lieblos, indem diese jenen Herz und Gemüth, jene diesen Geist und Verstand absprachen, und so unbegründet die Tradition war, gab es nur wenige tüchtige Personen beider Hälften, welche nicht daran glaubten. Oder jedenfalls zeigten nur Wenige den Muth, die schlendrianischen Reden solcher Art zu unterbrechen, wenn sie unter den Ihrigen waren. Um für unser Bedürfniß den vermißten idealen Zustand herzustellen, gaben wir uns das Wort, jedesmal wenn der Fall eintrat als Unparteiische aufzutreten, ob wir einzeln oder in Compagnie zugegen seien, und für den, wie wir glaubten, mißhandelten Theil einzustehen. Zuweilen gelang es uns, einige Verblüffung zu erregen oder gar eine wohlwollende Wendung hervorzurufen; andere Male dagegen wurden wir selbst da oder dorthin klassifizirt und je nach unserer Herkunft als einfältige Biederleute und Gemüthsduseler oder als 222 überkritische, geistreiche Hungerschlucker bezeichnet. Weil das aber uns keineswegs unglücklich machte, vielmehr unsere Heiterkeit wachrief, so wurde wenigstens der schneidende Ton der Unterhaltung gemildert und ein leidlicher Ausgleich zu Stande gebracht.

Unser Mittleramt wurde aber eines Tages überflüssig und zugleich schönstens belohnt, als die ganze reich geartete Künstlerschaft, die kommende Faschingszeit zu feiern sich zusammenthat, um in einem großen Schau- und Festzuge ein Bild untergegangener Herrlichkeit zu schaffen, nicht mit Leinwand, Pinsel und Meißel, sondern mit Einsetzung der lebendigen Person. Es sollte das alte Nürnberg wieder auferweckt werden, wie es in beweglichen Menschengestalten sich darstellen konnte und wie es zu der Zeit war, als der letzte Ritter, Kaiser Maximilian I. in ihm Festtage feierte und seinen Sohn Albrecht Dürer mit Ehren und Wappen bekleidete. In einem einzelnen Kopfe entstanden, wurde die Idee sogleich von achthundert Männern und Jünglingen, Kunstbeflissenen aller Grade, aufgenommen und als tüchtiger Handwerksstoff ausgearbeitet und ausgefeilt, als ob es gälte, ein Werk für die Nachwelt zu schaffen, und es erwuchs in der sachgerechten und allseitigen Vorbereitung eine Lust und Geselligkeit, welche wol an Macht von der Freude des Festtages überboten wurde, 223 in der Erinnerung jedoch ein lieblich heller Theil des Ganzen blieb.

Der Festzug zerfiel in drei Hauptzüge, von denen der erste die nürnbergische Bürger-, Kunst- und Gewerbswelt, der zweite den Kaiser mit den Fürsten, Reichsrittern und Kriegsmännern und der dritte einen alten Mummenschanz umfaßte, wie er von der bedeutenden Reichsstadt dem gekrönten Gast vorgeführt wurde. In diesem letzten Theile, welcher recht eigentlich ein Traum im Traume genannt werden konnte, hatten wir dreie unsern Standort gewählt, um als verdoppelte Phantasiegebilde im Schattenbilde der Vergangenheit mitzuziehen. Der Ernst und die feierliche Pracht, womit die Unternehmung von vornherein angelegt war, hatten die Theilnahme des weiblichen Geschlechtes nicht ausgeschlossen; Frauen, Töchter, Bräute der Künstler und deren Freundinnen aus den andern Ständen bereiteten demnach ihre festliche Umkleidung vor, und es gehörte nicht zu den geringsten Vorfreuden der Männer, an der Hand der alten Trachtenbücher das wichtige Geschäft zu leiten und darüber zu wachen, daß die Sammet- und Goldstoffe, die schweren Brokate und die duftigen Flore für die schlanken Gestalten richtig zugeschnitten und zusammengesetzt, die Haare in gehöriger Weise geflochten oder ausgebreitet224 wurden, die Federhüte, die Barette, Hauben und Häubchen aller Art Form und Stil bekamen und gut saßen. Zu diesen Beglückten zählten sich auch meine Freunde Erikson und Lys, von denen jeder in seiner Weise auf einem Liebeswege ging.

In die jährliche Verloosung, welche mit der Gemäldeausstellung verbunden war, hatte Erikson eines seiner kleinen Bilder verkauft, und dasselbe war von der Wittwe eines großen Bierbrauers gewonnen worden, die nicht gerade im Rufe einer Kunstfreundin stand, sondern mehr in Erfüllung einer Anstandspflicht reicher Leute sich an diesen Dingen betheiligte. Da es öfters vorkam, daß so gewonnene Gegenstände an zudringliche Händler verschleudert wurden, so suchten die Künstler ihr Werk in solchem Falle wieder zu erwerben, um den Gewinn selbst zu machen. Auch Erikson hatte bei gedachter Gelegenheit den Versuch gewagt und gehofft, das Bild um ermäßigten Preis an sich zu bringen, um es abermals zu verkaufen und der Mühsal der Erfindung und Ausführung eines neuen Werkleins für einmal enthoben zu sein. Denn er war bescheiden und hielt nicht dafür, daß das Bestehen der Welt von der Unerschöpflichkeit seines Fleißes abhänge. Er suchte also die Wohnung der Gewinnerin unverweilt auf und stand bald auf dem Vorsaale des 225 Wittwensitzes, dessen Stattlichkeit das Gerücht von dem Reichthum des verstorbenen Brauers zu bestätigen schien. Eine alte Dienerin, welcher er sein Anliegen mittheilen mußte, brachte ihm ohne Zögern den Bericht, daß die Herrin das Bild mit Vergnügen abtrete, daß er aber ein ander Mal wieder vorsprechen möge. Weitentfernt, über solche Willfährigkeit und Geringschätzung empfindlich zu sein, ging Erikson ein zweites und drittes Mal hin, und erst jetzt wurde er etwas betroffen und erbost, als die Dienerin endlich kund that, die bequeme Dame verkaufe das Bild um ein Viertheil des angegebenen Werthes und bestimme das Geld für die Armen, der Herr Maler möge, um nicht fernere Mühe zu haben, es am anderen Tage bestimmt abholen und das Geld mitbringen. Er tröstete sich indessen mit der Aussicht, nun jedenfalls ein Vierteljahr nicht malen zu müssen, und das Wetter ausspähend, ob es gute Jagdtage verspreche, machte er sich zum vierten Male auf den Weg.

Die unvermeidliche Alte führte ihn in ihr kleines Dienstgemach und ließ ihn da stehen, um das Kunstwerkchen herbeizuholen. Dieses war aber nirgends zu finden; immer mehr Bedienstete, Köchin, Kammermädchen, Hausknecht und Kutscher rannten umher und suchten in Küche, Keller, Kammern und Remisen. 226 Endlich rief das Geräusch die Wittwe herbei, und als sie, die nach dem kleinen Bildchen urtheilend gewähnt hatte, einen ebenso kleinen und dürftigen Urheber zu finden, nun den mächtigen Erikson dastehen sah, dessen Goldhaar glänzend auf die breiten Schultern fiel, gerieth sie in die größte Verlegenheit, zumal er, aus einem ruhigen Lächeln erwachend, sie mit festem offenem Blicke betrachtete wie eine Erscheinung. Sie war aber auch des längsten Anschauens werth; von der Rosenfarbe der Gesundheit und Lebensfrische überhaucht, kaum vierundzwanzig Sommer alt, vom reinsten Ebenmaß an Gestalt und Gliedern, mit braunem Seidenhaar und braunen lachenden Augen, konnte ihr Wesen kurz und gut als ein aphroditisches im besten Sinne bezeichnet werden, ein solches nämlich, das der Eignerin wohl bewußt war und von ihr selbst darum mit edler Sitte gehütet wurde.

Um die gegenseitige Verwunderung und Verlegenheit zu endigen, lud die Erröthende mit zurückgekehrter Geistesgegenwart den Maler ein, in das Zimmer zu treten, und wie sie dort waren, entdeckte er die kleine Gemäldekiste, welche als Fußschemmel unter dem Arbeitstischchen der Wittwe stand, von dieser nicht beachtet oder vergessen.

«Hier ist's ja!» sagte Erikson und zog das Kistchen hervor. Es war noch nicht einmal geöffnet 227 worden; denn der Deckel haftete noch leicht aufgeschraubt an demselben. Erikson machte ihn mit wenig Mühe los, und das kleine Bild glänzte nun in seinem Rahmen, der nach einem alten reichen Muster gearbeitet war, mit aller Frische im Tageslichte. Inzwischen hatte die junge Frau die Lage der Dinge schnell zu erfassen gesucht und wünschte vor Allem der Beschämung zu entgehen, die ihr die nachlässige Art, eine Kunstsache zu behandeln, zuziehen konnte. Von Neuem erröthend, sagte sie, sie habe in der That nicht gewußt, um was es sich handle; nun aber, obgleich sie keine Kennerin sei, scheine ihr doch das Bildchen von vorzüglichem Werthe und sie glaube, den Schöpfer desselben zu beleidigen, wenn sie nicht mindestens die Hälfte des Ankaufspreises verlange. Besorgt, sie möchte ihre Forderung abermals erhöhen, beeilte sich Erikson, die Börse zu ziehen und die Goldstücke hinzulegen, indeß die Dame das einfache Landschäftlein immer aufmerksamer betrachtete und die schönen Augen in dem sonnigen Gefildchen spazieren gehen ließ, wie wenn sie Land und Meer des Golfes von Neapel vor sich hätte. Dann blickte sie wie verschüchtert zu dem Recken empor und begann wieder: Je mehr sie das Bild ansehe, desto besser gefalle es ihr, und sie müsse nun die volle Summe dafür fordern!

228 Seufzend bot er drei Viertheile, um wenigstens etwas zu retten. Allein sie scheute sich keineswegs, auf ihrer Wortbrüchigkeit zu beharren, und erklärte, das Bild lieber behalten, als es unter dem Werthe hingeben zu wollen. «In diesem Falle wäre es lieblos von mir,» versetzte Erikson, «mein kleines Werk einer so guten Stelle zu berauben; auch habe ich keine weitere Ursache mehr, auf einem Handel zu bestehen, der mir keinen Gewinn bringt!»

Er strich hiemit sein Geld wieder ein und machte Anstalt, sich zu entfernen. Doch die Schöne, den Blick auf das Bildchen gerichtet, bat ihn mit einiger Verlegenheit, noch einen Augenblick zu verziehen. Erst jetzt bot sie ihm einen Stuhl an, um Zeit zu gewinnen, ihre Genugthuung für den solchem Manne angethanen Affront vollständig zu machen. Endlich besann sie sich auf den schicklichsten Ausweg und fragte Erikson mit höflichen Worten, ob sie ein Gegenstück zu dem Bilde bei ihm bestellen dürfe, das eben so freundlich und friedlich auf das Auge wirke, so daß sie sozusagen für jedes Auge einen solchen Ruhepunkt hätte, wenn sie an ihrem Schreibtische säße, über welchem sie die Bildchen aufzuhängen gedenke. Dieser optische Unsinn erweckte eine vergnügliche innere Heiterkeit des Malers, und obgleich er hergekommen war, um eine Verminderung statt Vermehrung 229 der Arbeit zu erzielen, bejahte er natürlich die Frage in verbindlicher Weise, worauf aber die Wittwe plötzlich die Unterhaltung abbrach und den Maler mit zerstreutem Wesen entließ.

Diesen bisherigen Verlauf hatte uns Erikson am Abend des gleichen Tages als hübsches Abenteuer selbst erzählt; in der folgenden Zeit aber kam er nicht mehr darauf zurück, sondern beobachtete über den Gegenstand ein sorgfältiges Schweigen. Wir erriethen trotzdem an einem Zeichen, wie es stand, als er eines Tages, von dem fertiggewordenen zweiten Bildchen sprechend, nicht vermeiden konnte, der Bestellerin zu erwähnen, und sie dabei unvorsichtig bei ihrem Taufnamen Rosalie nannte. Wir Andere sahen uns schweigend an; denn wir mochten ihn als aufrichtige Freunde, die ihm verdientermaßen zugethan waren, auf seinen Wegen nicht stören.

Selbst einer reichen Brauersfamilie entsprossen, war das junge Mädchen in Befolgung einer alten Hauspolitik dem Bräuherren verbunden worden, da die Grundlage des klassischen Nationalgetränkes an sich von öffentlicher Bedeutung und wichtig genug war, derartige Ueberlieferungen zu tragen. Nachdem aber der kräftige Bräuherr unversehens von einem gefährlichen Fieber dahin gerafft worden, sah sich die Wittwe mit Einem Schlage in volle Freiheit 230 und Selbständigkeit versetzt, mit welcher sich das inzwischen gereifte Bewußtsein der Person verband. Mit jener außergewöhnlichen Schönheit begabt, die eben so selten als dann auch vollkommen erscheint, von innen heraus zugleich von dem Bedürfniß harmonischen Lebens beseelt, hatte sie sich zunächst mit den leichten und doch starken Schranken ruhiger Absichtslosigkeit, ja Resignation umgeben, um jeder Reue bringenden Uebereilung und Gewaltsamkeit aus dem Wege zu gehen, wahrscheinlich aber doch mit dem Vorbehalte entschiedener Wahl, sobald die rechte Stunde käme. Diese war mit der Erscheinung Eriksons unvermuthet da; in Erkennung oder Ahnung derselben hatte Rosalie den ersten Augenblick nicht verscherzt, nachher aber mit aller Ruhe und Umsicht sich weiter benommen. Sie wußte Erikson nach und nach Gelegenheit zu geben, mit allerlei Rath bei ihr zu erscheinen; das gab sich ungezwungen von selbst, da sie in der That begriffen war, die zufällige und bunte Art ihres Hausrathes und Wohnsitzes umzuwandeln, zu vereinfachen und doch zu bereichern. Mit geheimer Freude bemerkte sie die ruhige Sicherheit in Eriksons Auskünften und Hülfeleistungen, und wie er ganz an seiner Stelle schien, wenn er über Mittel und Raum in zweckmäßiger Weise verfügen konnte. Daß er von guter Familie und Erziehung 231 war, blieb ihr nicht verborgen, so weit sie das von eigener Erfahrung aus beurtheilen konnte, und so ging sie Schritt für Schritt weiter in der Absicht den Bären zu fangen, dessen Gefangene sie schon war. Sie zog mehr Leute herbei, um ihn öfter einladen zu können und ihn bei Tische zu sehen; auch veranlaßte sie ihn, Freunde bei ihr einzuführen, so daß ich ebenfalls ein oder zwei Mal in ihr Haus gerieth, wobei es mir zu statten kam, daß ich nach dem Wunsche meiner Mutter mich immer noch im Besitze eines geschonten Sonntagskleides befand. Unsern Freund Lys hingegen brachte er kein einziges Mal hin, des verschlossenen Albums wegen, wie er mir anvertraute, was ich mit ernster Miene billigte. Ich glaube beinahe, daß ich eine Art pharisäischer Eitelkeit über meine Bevorzugung beherbergte und mir etwas darauf zu gut that, daß ich noch nie durch Reichthum, Freiheit, Weltkenntniß und geeignete Persönlichkeit in die Lage gekommen war, die eigene Tugend zu bewähren. Denn meine frühen judithischen Abenteuer brachte ich keineswegs in Anschlag; ich lebte auf jenem Punkte, wo man die sogenannten Kindereien für geraume Zeit vergessen und in selbstgerechter Härte Alles verurtheilt, was man noch nicht erfahren hat.

Als jetzt das Künstlerfest vorbereitet wurde, standen 232 die Sachen zwischen Rosalie und Erikson so, daß jene halbwegs als seine Partnerin daran Theil nehmen konnte, wie man etwa der Einladung zu einem Balle folgt.

Auf einem anderen Wege wandelte Lys, um seine Festgefährtin zu holen. In einem alterthümlichen Theile der inneren Stadt, auf einem kleinen Seitenplatze stand ein schmales Haus von geschwärztem Backstein erbaut und nur drei Stockwerke hoch, jedes nur von der Breite eines einzigen, freilich ansehnlichen Fensters. Nicht nur die Fenster waren reich in ihrer Einfassung gegliedert, sondern in die Höhe laufend unter sich mit Zierat verbunden, der wiederum verdunkelte Mauergemälde einfaßte. So bildete das Haus einen kleinen Thurm oder vielmehr ein schlankes Monument, wie etwa Künstler vergangener Jahrhunderte mit besonderer Liebe für sich selber erbaut haben. Ueber der Hausthüre reichte ein Marienbild von schwarzem Marmor, das auf einem vergoldeten Halbmonde stand, bis zum ersten Stockwerke, und an der Thüre glänzte noch der ursprüngliche Thürklopfer, der ein kühn sich hinausbiegendes Meerweibchen darstellte. Das untere Gemälde über dem ersten Fenster enthielt den Perseus, wie er die Andromeda von dem Drachen befreit, dasjenige über dem zweiten Fenster den Kampf des heiligen Georg, 233 der die lybische Königstochter aus der Gewalt des Lindwurmes erlöst, und auf die spitze Giebelmauer war der Engel Michael gemalt, der zu Gunsten der Jungfrau über der Hausthüre ebenfalls ein Ungeheuer mit der Lanze niederstieß. Vor vielen Jahren, als solche Denkmäler, wie dies zierliche Häuschen, verachtet und niedergerissen oder übertüncht wurden, hatte ein kleiner Baumeister dasselbe für wenig Geld an sich gebracht, sorglich erhalten und seinem Sohne hinterlassen, der ein mittelmäßiger Bildnißmaler und zugleich ein Ersatzmann in des Königs Hartschiergarde gewesen, da er ein stattlicher Mann war. Die Wittwe dieses malenden Hartschiers lebte mit ihrer Tochter in dem alten Hause von einem kleinen Wittwengehalt und einer gewissen Summe, welche ihr jährlich dafür bezahlt wurde, daß sie ohne höhere Bewilligung das Haus nicht verkaufte, noch an der Façade etwas zerstören oder ändern ließ.

Die Tochter, Agnes geheißen, war das Urbild jener letzten Zeichnung in dem Album des schönheitskundigen Lys, der erst das Haus und sodann, das Innere desselben beschauend, auch das Juwel entdeckt hatte, den das Kästchen umschloß; die Mutter war nicht nur die Hüterin der Schönheit von Kind und Haus, sondern auch ihrer eigenen, soweit sie noch in einem lebensgroßen Bildnisse von der Hand 234 ihres todten Eheherrn erglänzte. Von einem hohen Kamme überragt, zu jeder Seite der Stirn drei quer liegende Locken, beherrschte sie im Schimmer ihres Brautstandes das Gemach, und vor dem Bilde standen jederzeit zwei rosenrothe Wachskerzen, die noch nie gebrannt hatten. Trotz der flachen und schwächlichen Malerei machte sich die ehemalige Schönheit geltend; es war dabei nicht zu erkennen, ob eine gewisse Seelenlosigkeit mehr von dem Ungeschick des Malers oder dem Wesen der Frau herrührte; dennoch regierte sie mit dem Bilde noch immer das Haus und brauchte blos einen Blick darauf zu werfen im Vorübergehen, um die Schönheit der Tochter sich nicht über den Kopf wachsen zu lassen. Diese Blicke wiederholten sich während des Tages ebenso regelmäßig, wie das Eintauchen ihrer Fingerspitzen in das Weihwasserkesselchen neben der Stubenthüre. Von der Seele aber, die in der Reihenfolge des Werdens ihr ohne Aufenthalt entschlüpft, war ein Theil in der Tochter wieder zum Vorschein gekommen, freilich so schwank, still und elementarisch, wie das Leibliche, in dem sie wohnte.

Als Lys mit gewandten und angenehmen Sitten sich so weit eingeführt hatte, daß er jene Figur zeichnen durfte, zwar nicht in das bewußte Buch, sondern vorerst in größerer Form auf ein besonderes 235 Studienblatt, fand er weder den Muth noch den Anlaß, den gewohnten Cyklus durchzuführen, und es blieb bei dem einzigen Eintrag in das Album, den er nach der Studie mit Liebe und Sorgfalt vornahm. Er verbrachte zuweilen einen Abend bei den Frauen, führte sie auch einmal in das Theater oder in einen Lustgarten, und wo sie erschienen, erregte die seltene Erscheinung der Agnes ein so allgemeines und zugleich reines Wohlgefallen, daß sich keinerlei Nachrede oder Mißdeutung vernehmen ließ. Alle ihre ruhigen Bewegungen waren einfach und kurz nur auf den nächsten Zweck gerichtet und daher voll Anmuth; ihre Augen glänzten, wenn sie von irgend einem Reiz angesprochen wurde, mit der treuherzigen Unschuld eines jungen Thieres, das noch keine Mißhandlung erfahren hat, und so kam es, daß Lys, anstatt eine seiner früheren Liebeleien anzufangen, unwillkürlich in einen ehrenhaften ernsteren Verkehr hineingerieth, der ihm zum bisher unbekannten Bedürfniß wurde. Seine Befangenheit mehrte sich, wenn die Mutter in der Absicht, die Bravheit des Kindes zu rühmen, in dessen Abwesenheit erzählte, wie es nie im Stande gewesen sei, die kleinste Lüge, auch nur zum Scherz aufzubringen und schon in frühsten Jahren jede Uebertretung selbst angezeigt habe und zwar mit einer solchen Ruhe, wenn nicht 236 Neugierde über den Erfolg, daß die Strafe als unmöglich oder überflüssig erschien. Die Mutter konnte dann in ihrer Weise, um nicht selbst für unklug zu gelten, die Andeutung nicht unterlassen, das Kind dürfte allerdings keines der geistreichsten, dafür aber um so ehrlicher und vollkommen aufrichtig sein. Lys wußte aber bereits, daß Agnes klüger war, als die Mutter, wenn sie dessen auch noch nicht inne geworden; nicht minder übertraf sie dieselbe an Geschicklichkeit; denn er bemerkte, daß sie häusliche Geschäfte rasch und geräuschlos besorgte, ohne je etwas zu zerbrechen, während die Mutter Alles mit beträchtlichem Aufwand von Hin- und Hergehen, Reden und Klappern verrichtete und ihre Thaten nicht selten mit dem Klirren eines entzwei gegangenen Geschirres abschloß. Alsdann pflegte die Tochter eine erklärende oder tröstliche Bemerkung zu machen, welche dem graziösesten Witze gleich und doch mit tiefem Ernste rein sachlich gemeint und gegeben war. Allein welcher Art der Geist oder das Wesen dieses Geschöpfes sei, blieb ihm unbekannt, und wenn man ihn wegen seiner Entdeckung beglückwünschte und erklärte, die Agnes werde das beste Malerfrauchen abgeben, das man finden könne, still, harmonisch und eine unerschöpfliche Quelle schöner Bewegung, so 237 schüttelte er den Kopf und meinte, er könne doch nicht ein Naturspiel heirathen!

Dennoch setzte er seine Besuche in dem schlanken Häuschen, drin das schlanke Wesen wohnte, fort und hütete sich nur, etwas Verliebtes zu thun oder zu sagen. Die Augen des Mädchens kamen ihm vor wie ein stilles Wasser, das wol widerstandslos, aber auch für einen guten Schwimmer nicht gefahrlos ist, da man nicht wissen kann, welche Pflanzen oder Thiere es in seiner Tiefe verbirgt. Von der unbestimmten Vorstellung solcher Fährlichkeiten bedrückt, gerieth er in ungewohnte Sorgen und stieß hie und da einen Seufzer aus, ohne es zu wissen; diese Seufzer aber entfachten die geheime Glut einer herzlichen Neigung, die seit geraumer Zeit in dem kaum siebzehnjährigen Mädchen entzündet war, zur lebendigen Flamme. Jedermann konnte das liebliche Feuer sehen, auch wir Freunde sahen es, als Lys bei den beiden Frauen zuweilen eine kleine Abendbewirthung anstellte und uns dazu einlud, um nicht allein dort zu sein und doch das Haus nicht meiden zu müssen. Wir sahen, wie sie stets die Augen auf ihn richtete, sich traurig wegwendete und doch immer wieder näherte, während er sich zwang, es nicht zu bemerken, aber sichtlich sich hundertmal zurückhalten mußte, sie mit der zuckenden Hand nicht zu berühren. 238 Gelang es ihr dagegen einmal, sich so zu stellen, als ob sie seine trockene väterliche Art verstehe und würdige, und dabei ein Weilchen die Hand auf seiner Schulter liegen zu lassen oder gar sich wie ein unbefangenes Kind einen Augenblick an ihn zu lehnen, so leuchtete das Glück aus ihren Augen und sie blieb den ganzen Abend hindurch zufrieden und genügsam.

Das Verhältniß begann für Alle schwierig und bedenklich zu werden, die Mutter ausgenommen, welche die Belebung ihres Hauses angenehm empfand und nicht zweifelte, daß Lys eines Tages mit einem ernsten Antrage sich einstellen werde, gerade weil er so zurückhaltend sei. Auch Erikson mühte sich, anderweitig in Anspruch genommen, nicht stark um die Sache, und besonders wenn wir das zierliche Haus zusammen verließen, ging er unverweilt seine eigenen Wege, während ich mit Lys bald vor seine, bald vor meine Hausthüre zu wandeln und dort noch stundenlange zu verhandeln und zu streiten pflegte. Ich wagte gar nicht, ihn des Mädchens wegen offen zur Rede zu stellen; denn er war hierin kurz abgebunden und stellte sich, je unentschlossener er sich fühlte, um so fester als Einer, der wisse, was er thue und zu thun habe. Dafür nahm ich den Umweg durch metaphysische Disputationen, weil ich 239 die Leichtfertigkeit, deren ich ihn mit aufrichtigen Schmerzen bezüchtigte, mit der Gottlosigkeit zusammenwarf, welche er in so später Stunde ebenso eifrig und närrisch vertheidigte, wie ich sie unaufhörlich angriff. Wir sprachen zuweilen so lange und so laut durch die Stille der Nacht, daß die Schaarwächter der Stadt uns zur Schonung der schlafenden Bürger vermahnten. Plötzlich aber, zur Zeit da das Künstlerfest vorbereitet wurde, unterbrach Lys einmal meine Rede, von der er wohl merkte, wo sie hinauswollte, und kündigte mit ruhigen Worten an, daß er die Agnes als seine Festgefährtin einladen und auf den Verlauf des Festes abstellen wolle, ob eine bleibende Verbindung zwischen ihnen sich ergeben werde. Bei derartigen Anlässen, sagte er, pflegen die befangenen Menschenkinder aus sich heraus zu gehen und schicksalsfähiger zu sein, als in gewöhnlichen Tagen. Auch für ihn stehe die Sache so, daß er einer zufälligen Entscheidung bedürfe, indem die Kraft des Wunsches und die Besorgniß eines Fehltrittes sich vollkommen die Wage hielten.

Agnes blühte augenblicklich in neuer Hoffnung auf, als der Geliebte das Wort des Heiles an sie richtete; denn sie hatte schon in stiller Trauer dem Gedanken entsagt, im Glanze jener Festfreuden ihm auch nur nahe sein zu können. Aber sie wollte das 240 Heil nicht berufen und fügte sich still und demüthig allen seinen Anordnungen, als er mit den reichen Stoffen zu ihren Gewändern erschien, welche die schlanke Gestalt umspannen, ihren Wuchs zum Ausdrucke rein geprägter Schönheit bringen sollten. Aber während er ihre schwarzen Haarwellen, die für drei Mädchenköpfe ausgereicht hätten, vorprüfend durch die Hände laufen ließ und in neue Lagen ordnete und sie lautlos das Haupt dazu hinhielt, beschloß sie in diesem selben jungen Haupte stumm und feierlich, nur darnach zu trachten, wie sie ihn im rechten Augenblick in ihre Arme zwingen und ihr Leben unauflöslich mit dem seinigen verbinden möge. Der kühne Vorsatz konnte nur die Ausgeburt des kindlich einfachen aber in Aufregung gerathenen Wesens sein.

 


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