GH 3.07

091 Siebentes Kapitel.

Anna's Tod und Begräbniß.

Zu diesen so ganz entgegengesetzten Aufregungen der Tage und Nächte kamen im Sommer noch verschiedene Auftritte im ländlichen Familienleben, welche bei aller Einfachheit doch den gewaltigen Wechsel des Lebens und sein unaufhaltsames Vorübergehen in's Licht stellten. Der Haushalt des jungen Müllers ließ seine Heirath nicht länger aufschieben, und es wurde also eine dreitägige Hochzeit gefeiert, bei welcher die spärlichen Ueberreste städtischen Gebrauches, so die Braut aus ihrem Hause mitbrachte, gar jämmerlich dem ländlichen Pomp unterliegen mußten. Die Geigen schwiegen nicht während der drei Tage; ich ging mehrmals hin und fand Judith festlich geschmückt unter dem Gedränge der Gäste; ein und das andere Mal tanzte ich bescheiden und wie ein Fremder mit ihr, und auch sie hielt sich zurück, obgleich wir während der geräuschvollen Nächte Gelegenheit genug hatten, uns unbemerkt nahe zu sein.

092 Kaum war die Hochzeit vorüber, so erkrankte die Muhme, welche kaum fünfzig Jahre alt war, und starb in Zeit von drei Wochen. Sie war eine starke Frau, daher ihre Todeskrankheit um so gewaltsamer, und sie starb sehr ungern. Sie litt heftig und unruhig und ergab sich erst in den letzten zwei Tagen; und an dem Schrecken, der sich im Hause verbreitete, konnte man erst sehen, was sie Allen gewesen. Aber wie nach dem Hinsinken eines guten Soldaten auf dem Felde der Ehre die Lücke schnell wieder ausgefüllt wird und der Kampf rüstig fortgeht, so erwies sich die Art des Lebens und des Todes dieser tapfern Frau auch auf das Schönste dadurch, daß die Reihen ohne Lamentiren rasch sich schlossen; die Kinder theilten sich in Arbeit und Sorge und versparten den beschaulichen Schmerz bis auf die Tage der Ruhe, wo man die Marksteine des Lebens deutlicher ragen sieht. Nur der Oheim äußerte erst einige tiefere Klagen, faßte diese aber bald in das Wort «meine selige Frau» zusammen, das er nun bei jeder Gelegenheit anbrachte. An dem Leichenbegängnisse sah ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug ein städtisches schwarzes Kleid bis unter das Kinn zugeknöpft, sah demüthig auf den Boden und ging doch hoch einher.

So war in kurzer Zeit die Gestalt des oheimlichen 093 Hauses verändert und durch die verschiedenen Vorgänge Alles älter und ernster geworden. Von der traurigen Schaubühne ihres Krankenbettes sah die arme Anna diese Veränderungen, aber schon mehr als äußerlich getrennt von den Ereignissen. Sie hatte eine geraume Zeit im gleichen Zustande verharrt und Alle hofften, daß sie am Ende wieder aufleben würde. Aber da man es am wenigsten dachte, erschien eines Morgens im Herbste der Schulmeister schwarz gekleidet bei dem Oheim, welcher selbst noch schwarz ging, und verkündete ihren Tod.

In einem Augenblicke war nicht nur das Haus von Klagen erfüllt, sondern auch die benachbarte Mühle, und die Vorübergehenden verbreiteten das Leid im ganzen Dorfe. Seit bald einem Jahre war der Gedanke an Anna's Tod groß gezogen worden, und die Leute schienen sich ein rechtes Fest der Klage und des Bedaurens aufgespart zu haben; denn für eine allgemeine Todtentrauer war dieser anmuthige, schuldlose und geehrte Gegenstand geeigneter, als die eigenen Verluste.

Ich hielt mich ganz still im Hintergrunde; wenn ich auch bei freudigen Anlässen laut wurde und unwillkürlich eine anmaßende Rolle spielte, so wußte ich dagegen, wo es traurig herging, mich gar nicht vorzudrängen und gerieth immer in die Verlegenheit, 094 für theilnahmlos und verhärtet angesehen zu werden, und dies um so mehr, als mir von jeher nur die aus Schuld oder Unrecht entstandenen Mißstimmungen, die innere Berührung der Menschen, nie aber das unmittelbare Unglück oder der Tod Thränen zu entlocken vermochten.

Jetzt aber war ich erstaunt über den frühen Tod und noch mehr darüber, daß dies arme todte Mädchen meine Geliebte war. Ich versank in tiefes Nachdenken darüber, ohne Schrecken oder heftigen Schmerz zu empfinden, obgleich ich das Ereigniß mit meinen Gedanken nach allen Seiten durchfühlte. Nicht einmal die Erinnerung an Judith verursachte mir Unruhe. Nachdem der Schulmeister seine Anordnungen getroffen, wurde ich endlich aus meiner Verborgenheit hervorgezogen, indem er mich aufforderte, nunmehr mit ihm zurückzugehen und einige Zeit bei ihm zu wohnen. Wir machten uns auf den Weg, indessen die übrigen Verwandten, besonders die noch im Hause lebenden Töchter versprachen, sogleich nachzukommen.

Auf dem Wege faßte der Schulmeister sein Leid zusammen und gab ihm durch die nochmalige Schilderung der letzten Nacht und des Sterbens, das gegen Morgen eintraf, Worte. Ich hörte Alles aufmerksam und schweigend an; die Nacht war beängstigend und 095 leidenvoll gewesen, der Tod selbst aber fast unmerklich und sanft.

Meine Mutter und die alte Katherine hatten die Leiche schon geschmückt und in Anna's Kämmerchen gelegt. Da lag sie, nach des Schulmeisters Willen, auf dem schönen Blumenteppich, den sie einst für ihren Vater gestickt und man jetzt über ihr schmales Bettchen gebreitet hatte; denn nach solchem Dienste gedachte der gute Mann diese Decke immer zunächst um sich zu haben, so lange er noch lebte. Ueber ihr an der Wand hatte Katherine, deren Haar nun schon ganz ergraut war und die auf's Heftigste und Zärtlichste lamentirte, das Bild hingehängt, das ich einst von Anna gemacht, und gegenüber sah man immer noch die Landschaft mit der Heidenstube, welche ich vor Jahren auf die weiße Mauer gemalt. Die beiden Flügelthüren von Anna's Schrank standen geöffnet und ihr unschuldiges Eigenthum trat zu Tage und verlieh der stillen Todtenkammer einen wohlthuenden Schein von Leben. Auch gesellte sich der Schulmeister zu den beiden Frauen, die vor dem Schranke sich aufhielten, und half ihnen, die zierlichsten und erinnerungsreichsten Sächelchen, deren die Selige von früher Kindheit an gesammelt, hervorziehen und beschauen. Dies gewährte ihm eine lindernde Zerstreuung, welche 096 ihn doch nicht von dem Gegenstande seines Schmerzes abzog. Manches holte er sogar aus seinem eigenen Verwahrsam herbei, wie z. B. ein Bündelchen Briefe, welche das Kind aus Welschland an ihn geschrieben; diese legte er, nebst den Antworten, die er nun im Schranke vorfand, auf Anna's kleinen Tisch, und ebenso noch andere Sachen, ihre Lieblingsbücher, angefangene und vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene silberne Brautkrone. Einiges wurde sogar ihr zur Seite auf den Teppich gelegt, so daß hier unbewußt und gegen den sonstigen Gebrauch von diesen einfachen Leuten eine Sitte alter Völker geübt wurde. Dabei sprachen sie immer so miteinander, als ob die Todte es noch hören könnte, und Keines mochte sich gern aus der Kammer entfernen.

Indessen verweilte ich ruhig bei der Leiche und beschaute sie mit unverwandten Blicken; aber ich ward durch das unmittelbare Anschauen des Todes nicht klüger aus dem Geheimniß desselben, oder vielmehr nicht aufgeregter, als vorhin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich sie zuletzt gesehen, nur daß die Augen geschlossen waren und das blüthenweiße Gesicht beständig zu einem leisen Erröthen bereit schien. Ihr Haar glänzte frisch und golden, und ihre weißen Händchen lagen gefaltet auf dem weißen Kleide mit einer weißen Rose. Ich sah 097 Alles wohl und empfand beinahe eine Art glücklichen Stolzes, in einer so traurigen Lage zu sein und eine so poetisch schöne todte Jugendgeliebte vor mir zu sehen.

Meine Mutter und der Schulmeister schienen stillschweigend mir ein nahes Recht auf die Verstorbene zuzugestehen, als man verabredete, daß fortwährend Jemand bei der Todten weilen und ich die erste Wache halten sollte, damit die Uebrigen sich in ihrer Erschöpfung einstweilen zurückziehen und etwas erholen konnten.

Ich blieb aber nicht lange allein mit der Anna, da bald die Basen aus dem Dorfe kamen und nach ihnen manche andere Mädchen und Frauen, denen ein so rührendes Ereigniß und eine so berühmte Leiche wichtig genug waren, die drängendste Arbeit liegen zu lassen und dem ehrfurchtsvollen Dienste des Menschengeschickes nachzugehen. Die Kammer füllte sich mit Frauensleuten, welche erst einer feierlich flüsternden Unterhaltung pflagen, dann aber in ein ziemliches Geplauder geriethen. Sie standen dicht gedrängt um die stille Anna herum, die Jungen mit ehrbar aufeinander gelegten Händen, die Aeltern mit untergeschlagenen Armen. Die Kammerthür stand geöffnet für die Ab- und Zugehenden und ich nahm die Gelegenheit wahr, mich hinaus zu machen 098 und im Freien umher zu schlendern, wo die nach dem Dorfe führenden Wege ungewöhnlich belebt waren.

Erst nach Mitternacht traf mich die Reihe wieder, die Todtenwache zu versehen, welche wir seltsamer Weise nun einmal eingerichtet. Ich blieb nun bis zum Morgen in der Kammer; aber so schnell mir die Stunden vorübergingen, wie ein Augenblick, so wenig wüßte ich eigentlich zu sagen, was ich gedacht und empfunden. Es war so still, daß ich durch die Stille hindurch glaubte das Rauschen der Ewigkeit zu hören; das todte weiße Mädchen lag unbeweglich fort und fort, die farbigen Blumen des Teppichs aber schienen zu wachsen in dem schwachen Lichte. Nun ging der Morgenstern auf und spiegelte sich im See; ich löschte die Lampe ihm zu Ehren, damit er allein Anna's Todtenlicht sei, saß nun im Dunkeln in meiner Ecke und sah nach und nach die Kammer sich erhellen. Mit der Dämmerung, welche in das reinste goldene Morgenroth überging, schien es zu leben und zu weben um die stille Gestalt, bis sie deutlich im hellen Tage da lag. Ich hatte mich erhoben und vor das Bett gestellt, und indem ihre Gesichtszüge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber nur hauchend und tonlos; es blieb todtenstill und als ich zugleich zaghaft ihre Hand berührte, 099 zog ich die meinige entsetzt zurück, als ob ich an glühendes Eisen gekommen wäre; denn die Hand war kalt, wie ein Häuflein kühler Thon.

Wie dies abstoßende kalte Gefühl meinen ganzen Körper durchrieselte, ließ es mir nun auch plötzlich das Gesicht der Leiche so seelenlos und abwesend erscheinen, daß mir beinahe der erschreckte Ausruf entfuhr: «Was hab' ich mit Dir zu schaffen?» als aus dem Saale her die Orgel in milden und doch kräftigen Tönen erklang, welche nur manchmal in leidvollem Zittern schwankten, dann aber wieder zu harmonischer Kraft sich ermannten. Es war der Schulmeister, welcher in dieser Morgenfrühe seinen Schmerz und seine Klage durch die Melodie eines alten Liedes zum Lob der Unsterblichkeit zu lindern suchte. Ich lauschte der Melodie, sie bezwang meine körperlichen Schrecken, ihre geheimnißvollen Töne öffneten die unsterbliche Geisterwelt und ich glaubte derselben durch ein neues Gelöbniß mit der Entschlafenen um so sicherer anzugehören. Das schien mir wiederum ein bedeutungsvoller und feierlicher Vorgang zu sein.

Aber zugleich wurde mir nun der Aufenthalt in der Todtenkammer zuwider und ich war froh, mit dem Gedanken der Unsterblichkeit hinaus zu kommen in's lebendige Grüne. Es erschien an diesem Tage 100 ein Schreinergesell aus dem Dorfe, um hier den Sarg zu machen. Der Schulmeister hatte vor Jahren schon eigenhändig eine schlanke Tanne gefällt und zu seinem Sarge bestimmt. Dieselbe lag in Bretter gesägt hinter dem Hause, durch das Vordach geschützt, und hatte immer zu einer Ruhebank gedient, auf welcher der Schulmeister zu lesen und seine Tochter als Kind zu spielen pflegte. Es zeigte sich nun, daß die obere schlankere Hälfte des Baumes den schmalen Todtenschrein Anna's abgeben könne, ohne den zukünftigen Sarg des Vaters zu beeinträchtigen; die wohlgetrockneten Bretter wurden abgehoben und eines nach dem anderen entzwei geschnitten. Der Schulmeister vermochte aber nicht lange dabei zu sein, und selbst die Frauen im Hause klagten über den Ton der Säge. Der Schreiner und ich trugen daher die Bretter und das Werkzeug in den leichten Nachen und fuhren an eine entlegene Stelle des Ufers, wo das Flüßchen aus dem Gehölze hervortritt und in den See mündet. Junge Buchen bilden dort am Wasser eine lichte Vorhalle, und indem der Schreiner einige der Bretter mittelst Schraubzwingen an den Stämmchen befestigte, stellte er eine zweckmäßige Hobelbank her, über welcher die Laubkronen der Buchen sich wölbten. Zuerst mußte der Boden des Sarges zusammen gefügt 101 und geleimt werden. Ich machte aus den ersten Hobelspänen und aus Reisig ein Feuer und setzte die Leimpfanne darauf, in welche ich mit der Hand aus dem Bache Wasser träufelte, indessen der Schreiner rüstig darauf los sägte und hobelte. Während die gerollten Späne sich mit dem fallenden Laube vermischten und die Bretter glatt wurden, machte ich die nähere Bekanntschaft des jungen Gesellen. Es war ein Norddeutscher von der fernsten Ostsee, groß und schlank gewachsen, mit kühnen und schön geschnittenen Gesichtszügen, hellblauen aber feurigen Augen und mit starkem goldenem Haar, welches man immer über die freie Stirn zurückgestrichen und hinten in einen Schopf gebunden zu sehen glaubte, so urgermanisch sah er aus. Seine Bewegungen bei der Arbeit waren elegant und dabei hatte sein Wesen doch etwas Kindliches. Wir wurden bald vertraut und er erzählte mir von seiner Heimat, von den alten Städten im Norden, vom Meere und von der mächtigen Hansa. Wohl unterrichtet, erzählte er mir von der Vergangenheit, den Sitten und Gebräuchen jener Seeküsten; ich sah den langen und hartnäckigen Kampf der Städte mit den Seeräubern, den Vitalienbrüdern, und wie Klaus Stürzenbecher mit vielen Gesellen von den Hamburgern geköpft wurde; dann sah ich wieder, 102 wie am ersten Mai aus den Thoren von Stralsund der jüngste Rathsherr mit einem glänzenden Jugendgefolge im Waffenschmuck zog und in den prächtigen Buchenwäldern zum Maigrafen gekrönt wurde mit einer grünen Laubkrone, und wie er Abends mit einer schönen Maigräfin tanzte. Auch beschrieb er die Wohnungen und Trachten nordischer Bauern, von den Hinterpommern bis zu den tüchtigen Friesen, bei welchen noch Spuren männlichen Freiheitsinnes zu finden; ich sah ihre Hochzeiten und Leichenbegängnisse, bis der Geselle endlich auch von der Freiheit deutscher Nation redete, und wie bald die stattliche Republik eingeführt werden müßte. Ich schnitzte unterdessen nach seiner Anleitung eine Anzahl hölzerner Nägel, er aber führte schon mit dem Doppelhobel die letzten Stöße über die Bretter, feine Späne lösten sich gleich zarten glänzenden Seidenbändern und mit einem hell singenden Tone, welcher unter den Bäumen ein seltsames Lied war. Die Herbstsonne schien warm und lieblich drein, glänzte frei auf dem Wasser und verlor sich im blauen Duft der Waldnacht, an deren Eingang wir uns angesiedelt. Jetzt baueten wir die glatten weißen Bretter zusammen, die Hammerschläge hallten wieder durch den Wald, daß die Vögel überrascht aufflogen und erschreckt über den Seespiegel streiften, und bald 103 stand der fertige Sarg in seiner Einfachheit vor uns, schlank und ebenmäßig, der Deckel schön gewölbt. Der Schreiner hobelte mit wenigen Zügen eine schmale zierliche Hohlkehle um die Kanten, und ich sah verwundert, wie die Linien sich spielend dem weichen Holze eindrückten; dann zog er zwei Stücke Bimsstein hervor und rieb sie aneinander, indem er sie über den Sarg hielt und das weiße Pulver über denselben verbreitete; ich mußte lachen, als er die Stücke gerade so gewandt handhabte und abklopfte, wie ich bei meiner Mutter gesehen, wenn sie zwei Zuckerschollen über einem Kuchen rieb. Als er aber den Sarg vollends mit dem Steine abschliff, wurde derselbe so weiß, wie Schnee, und kaum der leiseste röthliche Hauch des Tannenholzes schimmerte noch durch, wie bei einer Apfelblüthe. Er sah so weit schöner und edler aus, als wenn er bemalt, vergoldet oder gar mit Erz beschlagen gewesen wäre. Am Haupte hatte der Schreiner der Sitte gemäß eine Oeffnung mit einem Schieber angebracht, durch welche man das Gesicht sehen konnte, bis der Sarg versenkt wurde; es galt nun noch eine Glasscheibe einzusetzen, welche man vergessen, und ich fuhr nach dem Hause, um eine solche zu holen. Ich wußte schon, daß auf einem Schranke ein alter kleiner Rahmen lag, aus welchem das Bild lange 104 verschwunden. Ich nahm das vergessene Glas, legte es vorsichtig in den Nachen und fuhr zurück. Der Geselle streifte ein wenig im Gehölze umher und suchte Haselnüsse; ich probirte indessen die Scheibe, und als ich fand, daß sie in die Oeffnung paßte, tauchte ich sie, da sie ganz bestaubt und verdunkelt war, in den klaren Bach und wusch sie sorgfältig, ohne sie an den Steinen zu zerbrechen. Dann hob ich sie empor und ließ das lautere Wasser ablaufen, und indem ich das glänzende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch dasselbe schaute, erblickte ich das lieblichste Wunder, das ich je gesehen. Ich sah nämlich drei musicirende Engelknaben; der mittlere hielt ein Notenblatt und sang, die beiden anderen spielten auf alterthümlichen Geigen, und alle schauten freudig und andachtsvoll nach oben; aber die Erscheinung war so luftig und zart durchsichtig, daß ich nicht wußte, ob sie auf den Sonnenstrahlen, im Glase, oder nur in meiner Phantasie schwebte. Wenn ich die Scheibe bewegte, so verschwanden die Engel auf Augenblicke, bis ich sie plötzlich mit einer anderen Wendung wieder bemerkte. Ich habe seither erfahren, daß Kupferstiche oder Zeichnungen, welche lange Jahre hinter einem Glase ungestört liegen, während der dunklen Nächte dieser Jahre sich dem Glase mittheilen und gleichsam ihr Spiegelbild in 105 demselben zurücklassen. Ich ahnte jetzt auch etwas dergleichen, als ich die Schraffirung alter Kupferstecherei und in dem Bilde die Art Van Eyck'scher Engel erkannte. Eine Schrift war nicht zu sehen und also das Blatt vielleicht ein seltener Probedruck gewesen. Jetzt aber galt mir die kostbare Scheibe als die schönste Gabe, welche ich in den Sarg legen konnte, und ich befestigte sie selbst an dem Deckel, ohne Jemandem etwas von dem Geheimniß zu sagen. Der Deutsche kam wieder herbei; wir suchten die feinsten Hobelspäne, unter welche sich manches gefallene Laub mischte, zusammen, und breiteten sie zum letzten Bett in den Sarg; dann schlossen wir ihn zu, trugen ihn in den Kahn und schifften mit dem weißen Geräth über den glänzenden stillen See, und die Frauen mit dem Schulmeister brachen in lautes Weinen aus, als sie uns heranfahren und landen sahen.

Am folgenden Tage wurde die Aermste in den Sarg gelegt, von allen Blumen umgeben, welche in Haus und Garten augenblicklich blüheten; aber auf die Wölbung des Sarges wurde ein schwerer Kranz von Myrthenzweigen und weißen Rosen gebreitet, welchen die Jungfrauen aus der Kirchengemeinde brachten, und außerdem noch so viele einzelne Sträuße weißer duftender Blüthen aller Art, daß die ganze 106 Oberfläche davon bedeckt wurde und nur die Glasscheibe frei blieb, durch welche man das weiße zarte Gesicht der Leiche sah.

Das Begräbniß sollte vom Hause des Oheims aus stattfinden, und zu diesem Ende hin mußte Anna erst über den Berg getragen werden. Es erschienen daher Jünglinge aus dem Dorfe, welche die Bahre abwechselnd auf ihre Schultern nahmen, und unser kleines Gefolge der nächsten Angehörigen begleitete den Zug. Auf der sonnigen Höhe des Berges wurde ein kurzer Halt gemacht und die Bahre auf die Erde gesetzt. Es war so schön hier oben! der Blick schweifte über die umliegenden Thäler bis in die blauen Berge, das Land lag in glänzender Farbenpracht rings um uns. Die vier kräftigen Jünglinge, welche die Bahre zuletzt getragen, saßen ruhend auf den Tragewangen derselben, die Häupter auf ihre Hände gestützt, und schauten schweigend in alle vier Weltgegenden hinaus. Hoch am blauen Himmel zogen leuchtende Wolken und schienen über dem Blumensarge einen Augenblick still zu stehen und neugierig durch das Fensterchen zu gucken, welches fast schalkhaft zwischen den Myrthen und Rosen hervorfunkelte im Widerscheine der Wolken. Wenn Anna jetzt die Augen hätte aufschlagen können, so würde sie ohne Zweifel die 107 Engel gesehen und geglaubt haben, daß sie hoch im Himmel schwebten. Wir saßen, wie es sich traf, umher und mich rührte jetzt eine große Traurigkeit, so daß mir einige Thränen entfielen, als ich bedachte, daß Anna nun zum letzten Mal und todt über diesen schönen Berg gehe.

Als wir in's Dorf hinunter gestiegen, läutete die Todtenglocke zum ersten Mal; Kinder begleiteten uns in Schaaren bis zum Hause, wo man den Sarg unter die Nußbäume vor die Thür hinstellte. Wehmüthig gewährten die Verwandten der Todten das Gastrecht bei dieser letzten Einkehr; es waren nun kaum anderthalb Jahre vergangen, seit jener fröhliche Festzug der Hirten sich unter diesen selben Bäumen bewegte und mit bewundernder Lust Anna's damalige Erscheinung begrüßte. Bald war der Platz voll Menschen, welche sich herandrängten, um der Seligen zum letzten Mal in's Angesicht zu schauen.

Nun ging der Leichenzug vor sich, der außerordentlich groß war; der Schulmeister, welcher dicht hinter dem Sarge ging, schluchzte fortwährend wie ein Kind. Ich bereute jetzt, keinen schwarzen ehrbaren Anzug zu besitzen; denn ich ging unter meinen schwarz gekleideten Vettern in meinem grünen Habit, wie ein fremder Heide. Nachdem die Gemeinde den gewohnten Gottesdienst beendigt und mit einem 108 Choral beschlossen, schaarte man sich draußen um das Grab, wo die ganze Jugend, außergewöhnlicher Weise, einige sorgfältig eingeübte Gesänge mit heller und reiner Stimme sang. Jetzt war der Sarg hinabgelassen; der Todtengräber reichte den Kranz und die Blumen herauf, daß man sie aufbewahre, und der arme Sarg stand nun blank in der feuchten Tiefe. Der Gesang dauerte fort, aber alle Frauen schluchzten. Der letzte Sonnenstrahl leuchtete nun durch die Glasscheibe in das bleiche Gesicht, das darunter lag; das Gefühl, das ich jetzt empfand, war so seltsam, daß ich es nicht anders, als mit dem fremden und kalten Worte «objectiv» benennen kann, welches die Philosophie erfunden hat. Ich glaube, die Glasscheibe that es mir an, daß ich das Gut, was sie verschloß, gleich einem hinter Glas und Rahmen gebrachten Theil meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener Ruhe begraben sah; noch heute weiß ich nicht, war es Stärke oder Schwäche, daß ich dies tragische und feierliche Ereigniß viel eher genoß, als erduldete und mich beinahe des nun ernst werdenden Wechsels des Lebens freute.

Der Schieber wurde zugethan, der Todtengräber und sein Gehülfe stiegen herauf und bald war der braune Hügel aufgebaut.

 


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