Nach acht Tagen kehrte ich zur Stadt zurück und nahm meine Arbeit bei Römer wieder auf. Da es mit dem Zeichnen im Freien vorbei und auch nichts weiter zu copiren war, leitete mich Römer an, zu versuchen, ob ich aus dem Gewonnenen ein Ganzes und Selbständiges herstellen könne. Ich mußte unter meinen Studien ein Motiv suchen und selbiges zu einem kleinen Bilde ausdehnen und abgränzen. «Da wir hier ohne alle Mittel sind,» sagte er, «außer meiner eigenen Mappe, welche Sie mir diesen Winter hindurch in die Ihrige hinüberpinseln würden, wenn ich es zugäbe, so ist es am Besten, wir machen es so; Sie sind zwar noch zu jung dazu und werden noch ein oder zwei Mal mit neuen Erfahrungen von vorn anfangen müssen, ehe Sie etwas Dauerhaftes machen. Indessen wollen wir immerhin versuchen, ein Viereck so auszufüllen, daß Sie es im Nothfall verkaufen können!»
057• Mit der ersten Probe ging es ganz ordentlich; ebenso mit der zweiten und dritten. Die frische Lust, die Einfachheit des Gegenstandes und Römer's sichere Erfahrung ließen die Gründe sich wie von selbst aneinander fügen, das Licht wurde ohne Schwierigkeit vertheilt und jede Partie in Licht und Schatten vernünftig und klar ausgefüllt, so daß keine nichtssagenden und verworrenen Stellen übrig blieben. Großes Vergnügen gewährte es mir, wenn ich einen oder einige Gegenstände, zu denen die vorliegenden Studien im Licht gehalten waren, in Schatten setzen mußte oder umgekehrt, wo dann durch eigenes Nachdenken und Berechnung ein Neues und doch einzig Nothwendiges bezweckt wurde, nach den Bedingungen der Localfarbe, der Tageszeit, des blauen oder bewölkten Himmels und der benachbarten Gegenstände, welche mehr oder weniger Licht und Farbe zurückwerfen mußten. Gelang es mir, den wahrscheinlichen Ton zu treffen, der unter ähnlichen Verhältnissen über der Natur selbst geschwebt hätte – was man gleich sah, indem ein wahrer Ton immer einen ganz eigenthümlichen Zauber übt – so beschlich mich ein stolzes Gefühl, in welchem mir meine Erfahrung und das Weben der Natur Eins zu sein schienen.
• Allein das Vergnügen wurde bald schwieriger, als umfang- und inhaltsreichere Sachen unternommen 058 wurden und, durch diese Thätigkeit hervorgerufen, meine Erfindungslust wieder auftauchte und überwucherte. Das gewichtige Wort Componiren summte mir mit prahlerischem Klang in den Ohren und ich ließ, als ich nun förmliche Skizzen entwarf, die zur Ausführung bestimmt waren, meinem Hange den Zügel schießen. Ueberall suchte ich poetische Winkel und Plätzchen, geistreiche Beziehungen und Bedeutungen anzubringen, welche mit der erforderlichen Ruhe und Einfachheit in Widerspruch geriethen. Römer ließ mich eine solche Skizze unbeschnitten ausführen und als das Machwerk mir selbst nicht behagen wollte, ohne daß ich wußte warum, zeigte er mir triumphirend, daß die technischen Mittel und die Naturwahrheiten im Einzelnen der anspruchsvollen und gesuchten Composition wegen keine Wirkung thun, zu keiner Gesammtwahrheit werden könnten und um meine hervorstechende Zeichnung hingen, wie bunte Flitter um ein Gerippe, ja daß sogar im Einzelnen keine frische Wahrheit möglich sei, auch bei dem besten Willen nicht, weil vor der überwiegenden Erfindung, vor dem anmaßenden Spiritualismus (wie er sich ausdrückte) die Naturfrische sich sozusagen aus der Pinselspitze in den Pinselstiel spröde zurückziehe.
• «Es giebt allerdings,» sagte Römer, «eine Richtung, 059 deren Hauptgewicht auf der Erfindung, auf Kosten der unmittelbaren Wahrheit beruht. Solche Bilder sehen aber eher wie geschriebene Gedichte, als wie wirkliche Bilder aus, wie es ja auch Gedichte giebt, welche mehr den Eindruck einer Malerei machen möchten, als eines geistig tönenden Wortes. Wenn Sie in Rom wären und die Arbeiten des alten Koch oder Reinhard's sähen, so würden Sie, Ihrer deutlichen Neigung nach, sich entzückt den alten Käuzen anschließen; es ist aber gut, daß Sie nicht dort sind, denn dies ist eine gefährliche Sache für einen jungen Künstler. Es gehört dazu eine durchaus gediegene fast wissenschaftliche Bildung, eine strenge, sichere und feine Zeichnung, welche noch mehr auf dem Studium der menschlichen Gestalt, als auf demjenigen der Bäume und Sträucher beruht, mit einem Wort: ein großer Styl, welcher nur in dem Werthe einer ganzen reichen Erfahrung bestehen kann, um den Glanz gemeiner Naturwahrheit vergessen zu lassen; und mit allem Diesem ist man erst zu einer ewigen Sonderlingsstellung und Armuth verdammt, und das mit Recht, denn die ganze Art ist unberechtigt und thöricht!»
• Ich fügte mich diesen Reden aber nicht, weil ich ihm schon abgemerkt hatte, daß das Erfinden nicht seine Stärke war; denn schon mehr als ein Mal 060 hatte er, meine Anordnungen corrigirend, Lieblingsstellen in Bergzügen oder Waldgründen, die ich recht bedeutsam glaubte, gar nicht einmal gesehen, indem er sie mit dem markigen Bleistifte schonungslos überschraffirte und zu einem kräftigen aber nichtssagenden Grunde ausglich. Wenn sie auch störten, so hätte er meiner Meinung nach wenigstens sie bemerken, mich verstehen und etwas darüber sagen müssen.
• Ich wagte daher zu widersprechen, schob die Schuld auf die Wasserfarben, in welchen keine Kraft und Freiheit möglich sei, und sprach meine Sehnsucht aus nach guter Leinwand und Oelfarben, wo Alles schon von selbst eine respectable Gestalt und Haltung gewinnen würde. Hiemit griff ich aber meinen Lehrer in seiner Existenz an, indem er glaubte und behauptete, daß die ganze und volle Künstlerschaft sich hinlänglich und vorzüglich nur durch etwas weißes Papier und einige englische Farbentäfelchen bethätigen und zeigen könne. Er hatte seine Bahn abgeschlossen und gedachte nichts Anderes mehr zu leisten, als er schon that; daher beleidigte ihn, wie ich nun zu erkennen gab, daß ich das durch ihn Gelernte nur als eine Staffel betrachte und bereits mich darüber hinweg zu etwas Höherem berufen fühle. Er wurde um so empfindlicher, als ich einen 061 lebhaften und wiederholten Streit über diesen Gegenstand hartnäckig aushielt, von meinen Hoffnungen nicht abließ und seine Aussprüche, wenn sie in's Allgemeine gingen, nicht mehr unbedingt annahm, vielmehr ungescheut bestritt. Hieran war hauptsächlich der Umstand schuld, daß seine sonstigen Gespräche und Mittheilungen immer sonderbarer und auffallender geworden und meine Achtung vor seiner Urtheilskraft geschwächt hatten. Manches fiel zusammen mit den dunklen Gerüchten, die über ihn ergingen, so daß ich eine Zeitlang in der peinlichsten Spannung mich befand, aus einem geehrten und zuverlässigen Lehrer die seltsamste und räthselhafteste Gestalt sich herausschälen zu sehen.
• Schon seit einiger Zeit wurden seine Aeußerungen über Menschen und Verhältnisse immer härter und zugleich bestimmter, indem sie sich ausschließlicher auf politische Dinge bezogen. Er ging alle Abende in einen Lesezirkel unserer Stadt, las dort die französischen und englischen Blätter und pflegte sich Vieles zu notiren, sowie er auch in seiner Wohnung allerlei geheimnißvolle Papierschnitzel handhabte und sich oft über wichtigem Schreiben betreffen ließ. Vorzüglich machte er sich mit dem Journal des Débats zu schaffen. Unsere Regierung nannte er einen Trupp ungeschickter Krähwinkler, den großen 062 Rath aber ein verächtliches Gesindel und unsere heimischen Zustände im Ganzen dummes Zeug. Darüber ward ich stutzig und hielt mit meinen Zustimmungen zurück oder vertheidigte unsere Verhältnisse und hielt ihn für einen malcontenten Menschen, welchen der lange Aufenthalt in fremden großen Städten mit Verachtung der engen Heimat angefüllt habe. Er sprach oft von Louis Philipp und tadelte dessen Maßregeln und Schritte, wie Einer, der eine geheime Vorschrift nicht pünktlich befolgt sieht. Einst kam er ganz unwirsch nach Hause und beklagte sich über eine Rede, welche der Minister Thiers gehalten. «Mit diesem vertracten kleinen Burschen ist Nichts anzufangen!» rief er, indem er ein Zeitungsexcerpt zerknitterte, «ich hätte ihm diese eigenmächtige Naseweisheit gar nicht angesehen! Ich glaubte in ihm den gelehrigsten meiner Schüler zu haben.» «Zeichnet denn der Herr Thiers auch Landschaften?» fragte ich und Römer erwiderte, indem er sich bedeutungsvoll die Hände rieb: «Das eben nicht! lassen wir das!»
• Doch bald darauf deutete er mir an, daß alle Fäden der europäischen Politik in seiner Hand zusammenliefen und daß ein Tag, eine Stunde des Nachlasses in seiner angestrengten Geistesarbeit, die seinen Körper aufzureiben drohe, sich alsobald durch 063 eine allgemeine Verwirrung der öffentlichen Angelegenheiten bemerklich mache, daß eine confuse und ängstliche Nummer des Journal des Débats jedesmal bedeute, daß Er unpäßlich oder abgespannt und sein Rath ausgeblieben sei. Ich sah meinen Lehrer ernsthaft an, er machte ein unbefangenes und ernsthaftes Gesicht, die gebogene Nase stand wie immer mitten darin, darunter der wohlgepflegte Schnurbart, und über die Augen flog auch nicht das leiseste ungewisse Zucken.
• Mein Erstaunen gewann nicht Zeit, sich aufzuhellen, indem ich ferner erfuhr, daß Römer, während er der verborgene Mittelpunkt aller Staatsregierung, zugleich das Opfer unerhörter Tyranneien und Mißhandlungen war. Er, der vor Aller Augen auf dem mächtigsten Throne Europas hätte sitzen sollen von mehr als Eines Rechtes wegen, wurde durch einen geheimnißvollen Zwang gleich einem gebannten Dämon in Verborgenheit und Armuth gehalten, daß er kein Glied ohne den Willen seiner Tyrannen rühren konnte, während sie ihm täglich gerade so viel von seinem Genius abzapften, als sie zu ihrer kleinlichen Weltbesorgung gebrauchten. Freilich, wäre er zu seinem Recht und zu seiner Freiheit gekommen, so würde im selben Augenblicke die Mäusewirthschaft aufgehört haben und ein freies, lichtes und glückliches 064 Zeitalter angebrochen sein. Allein die winzigen Dosen seines Geistes, welche nun so tropfenweise verwendet würden, sammelten sich doch langsam zu einem allmächtigen Meere, indem es ihre Art sei, daß keine davon wieder vergehen oder aufgehoben werden könne, und in jenem allbezwingenden Meere werde sein Wesen zu seinem Rechte kommen und die Welt erlösen, daher er gerne seine körperliche Person wolle verschmachten lassen.
• «Hören Sie diesen verfluchten Hahn krähen?» rief er, «dies ist nur ein Mittel von Tausenden, die sie zu meiner Qual anwenden; sie wissen, daß der Hahnenschrei mein ganzes Nervensystem erschüttert und mich zu jedem Nachdenken untauglich macht; deshalb hält man überall Hähne in meiner Nähe und läßt sie spielen, sobald man die verlangten Depeschen von mir hat, damit das Räderwerk meines Geistes für den übrigen Tag still stehe! Glauben Sie wol, daß dies Haus hier ganz mit verborgenen Röhren durchzogen ist, daß man jedes Wort hört, was wir sprechen, und Alles sieht, was wir thun?»
• Ich sah mich im Zimmer um und versuchte einige Einwendungen zu machen, welche jedoch durch seine bestimmten, geheimnißvollen und wichtigen Blicke und Worte unterdrückt wurden. So lange ich mit 065 ihm sprach, befand ich mich in der wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe halbgläubig das Mährchen eines Erwachsenen anhört, welcher ihm lieb ist und seiner Achtung genießt; war ich aber allein, so mußte ich mir gestehen, daß ich das Beste, was ich bisher gelernt, aus der Hand des Wahnsinns empfangen habe. Dieser Gedanke empörte mich und ich begriff nicht, wie Jemand wahnsinnig sein könne. Eine gewisse Unbarmherzigkeit erfüllte mich, ich nahm mir vor, mit Einem klaren Worte die ganze unsinnige Wolke gewiß zu zerstreuen; stand ich aber dem Wahnsinne gegenüber, so mußte ich seine Stärke und Undurchdringlichkeit sogleich fühlen und froh sein, wenn ich Worte fand, welche, auf die verirrten Gedanken eingehend, dem Leidenden durch Mittheilung einige Erleichterung gewähren konnten. Denn daß er wirklich unglücklich und leidend war und alle eingebildeten Qualen auch fühlte, konnte ich nicht verkennen.
• Ich verschwieg Römer's Tollheit lange gegen Jedermann und selbst gegen meine Mutter, weil ich meine eigene Ehre dabei betheiligt glaubte, wenn ein so trefflicher Lehrer und Künstler als verrückt erschien, und weil es mir widerstrebte, den schlimmen Gerüchten, die über ihn im Umlauf waren, entgegen zu kommen. Doch verlockte mich einst ein gar zu 066 lächerliches Vorkommniß zum Plaudern. Nachdem er nämlich öfter bedeutungsvoll bald von den Bourbonen, bald von den Napoleoniden, bald von den Habsburgern gesprochen, ereignete es sich, daß eine Königin-Mutter aus irgend einem monarchischen Staate, eine alte Frau mit vielen Dienern und Schachteln, einige Tage sich in unserer Stadt aufhielt. Sogleich gerieth Römer in große Aufregung, lenkte auf Spaziergängen unsern Weg an dem Gasthofe vorbei, wo sie logirte, ging in das Haus, als ob er mit der Dame, die er als sehr intrigant und seinetwegen hergekommen schilderte, wichtige Unterredungen hätte, und ließ mich lange unten warten. Doch bemerkte ich an dem Dufte, den er zurückbrachte, daß er sich lediglich in der Kutscherstube aufgehalten und dort wol eine Knoblauchwurst nebst einem Glase Wein zu sich genommen haben mußte. Diese Narrenpossen, von einem Manne mit so edlem und ernstem Aeußern getrieben, empörten mich um so mehr, als sie mit einer lächerlichen Listigkeit verbunden waren. Ich begann daher, mich zu Hause und auch anderwärts über die Angelegenheit zu äußern und erfuhr nun mit Verwunderung, daß Römer's seltsames Wesen wohl bekannt war, aber statt Mitleiden und hülfreiche Theilnahme zu erregen, als eine Art böswilligen Lasters, als wissentliche 067 Verlogenheit betrachtet wurde, darauf berechnet, die Menschen zu betrügen und auf ihre Kosten etwas Unbilliges vorzustellen. Irgend eine im fernen Auslande begangene Verletzung der Bescheidenheit oder guten Sitte oder eine eingegangene Schuld, die er nicht lösen konnte, mußte mit dem Beginne der Krankheit zusammengefallen sein, ohne daß man dahinter kommen konnte, was es eigentlich gewesen. Der Betroffene, der die Kenntniß davon in geheimer Weise unterhielt und von Zeit zu Zeit erneuerte, wollte doch den Anschein eines nachtragenden Verfolgers nicht auf sich nehmen und wußte den Kranken auf eine Art zu isoliren, daß fast nicht von der Sache gesprochen wurde und jener selbst keine Ahnung davon hatte. Aber während viel unbedeutendere Künstler sich behaglich durchbringen konnten, that man, als ob Römer gar nicht da wäre, und keine Gunst, keine Anerkennung, keine gefällige Fürsprache kam seinem untadelhaften Fleiße entgegen, der bei aller Geistesverwirrung niemals einschlief. Ich erfuhr erst später, daß Römer während unsers Verkehrs fast immer gehungert und dabei seine spärlichen Mittel beinahe nur für den Unterhalt einer saubern äußern Erscheinung geopfert hatte.
• Wenn ich nun die umlaufenden Nachreden auch 068 nicht für baare Münze nahm und den Mann gegen dieselben vertheidigte, so beeinträchtigten sie doch mein Vertrauen und den jugendlich ehrerbietigen Aufblick zu dem Lehrer, und ich wurde bis zu einem gewissen Grade mit gegen ihn eingenommen, nur mit dem Unterschiede, daß ich seinen Werth als Künstler nach wie vor hochhielt.
• Nachdem ich vier Monate unter seiner Leitung zugebracht, wollte ich mich zurückziehen, indem ich die bezahlte Summe nun als ausgeglichen betrachtete. Doch er äußerte wiederholt, daß es hiemit nicht so genau zu nehmen und die Studien deshalb nicht abzubrechen wären; es sei ihm im Gegentheil ein angenehmes Bedürfniß, unsern Verkehr fortzusetzen. So arbeitete ich zwar nicht mehr in seiner Wohnung, besuchte ihn aber zuweilen und empfing seinen Rath. Weitere vier Monate vergingen so, während welcher er, durch die Noth gezwungen, aber leicht hin und beiläufig mich anfragte, ob meine Mutter ihm mit einem etwelchen Darlehen auf kurze Zeit aushelfen könne? Er bezeichnete ungefähr eine gleiche Summe, wie die schon empfangene, und ich brachte ihm dieselbe noch am gleichen Tage. Im Frühjahr endlich gelang es ihm mit Mühe wieder einmal eine Arbeit zu verkaufen, wodurch er endlich eine Summe in die Hände bekam. Mit dieser beschloß er, nach 069 Paris zu gehen, da ihm hier kein Heil blühen wollte und ihn sonst auch der Wahn forttrieb, durch Ortsveränderung ein besseres Loos erzwingen zu können. Denn trotz allem scharfsinnigen Instincte, den ein Irrsinniger und Unglücklicher hat, ahnte er von ferne nicht, daß sein wirkliches Geschick viel schlimmer, als sein eingebildetes Leiden, und daß die Welt übereingekommen war, seine armen schönen Zeichnungen und Bilder entgelten zu lassen, was man von seiner vermeintlichen Schlechtigkeit hielt.
• Ich fand ihn, wie er seine Sachen zusammenpackte und einige Rechnungen bezahlte. Er kündigte mir seine Abreise an, die am andern Tage erfolgen sollte, und verabschiedete sich zugleich freundlich von mir, noch einige geheimnißvolle Andeutungen über den Zweck der Reise beifügend. Als ich meiner Mutter die Nachricht mittheilte, fragte sie sogleich, ob er denn nichts von dem geliehenen Gelde gesagt habe?
• Ich hatte bei Römer einen entschiedenen Fortschritt gemacht, mein ganzes Können und meinen Blick erweitert, und es war gar nicht zu berechnen und schon nicht mehr zu denken, wie es ohne dies Alles mit mir hätte gehen sollen. Deswegen hätten wir das Geld füglich als eine wohlangewandte Entschädigung ansehen dürfen, und dies 070 um so mehr, als Römer mir die letzte Zeit nach wie vor seinen Rath gegeben hatte. Allein wir glaubten nur einen Beweis von der Richtigkeit jener Gerüchte zu sehen und wußten auch dazumal noch nicht, wie kümmerlich er lebte; wir dachten ihn im Besitze guter Mittel, denn er hatte seine Armuth sorgfältig verborgen. Meine Mutter bestand darauf, daß er das Geliehene zurückgeben müsse, und war zornig, daß Jemand von dem zum Besten ihres Söhnleins bestimmten kleinen Geldvorrathe sich ohne Weiteres einen Theil aneignen wolle. Was ich gelernt, zog sie nicht in Betracht, weil sie es für die Schuldigkeit aller Welt hielt, mir mitzutheilen, was man irgend Gutes wußte.
• Ich dagegen, theils weil ich zuletzt auch gegen Römer eingenommen war und ihn für eine Art Schwindler hielt, theils weil ich meine Mutter zur Herausgabe der Summe beredet, und endlich aus Unverstand und Verblendung, hatte nichts einzuwenden und war vielmehr fast schadenfroh, Römer etwas Feindliches anzuthun. Als daher die Mutter ein Billet an ihn schrieb und ich einsah, daß er, wenn er entschlossen war, das Geld zu behalten, die Mahnung einer in seinen Augen gewöhnlichen Frau nicht beachten werde, cassirte ich das Schreiben meiner Mutter, welche ohnedies verlegen war, an 071 einen so ansehnlichen und fremdartigen Mann zu schreiben, und entwarf ein anderes, welches, ich muß es zu meiner Schande gestehen, höchst zweckmäßig eingerichtet war. In höflicher Sprache berechnete ich seine fixen Ideen, seinen Stolz und sein Ehrgefühl, und indem das bescheidene Billet erst zu einer Bitterkeit wurde, wenn es unberücksichtigt blieb, war es, wenn Römer alles das verlachen sollte, schließlich so beschaffen, daß er doch nicht lachen, sondern sich durchschaut sehen konnte. So viel brauchte es indessen gar nicht; denn als wir das Machwerk hinschickten, kehrte der Bote augenblicklich mit dem Gelde zurück. Ich war etwas beschämt; doch sprachen wir jetzt alles Gute von ihm, er sei doch nicht so übel u. s. f., nur weil er uns das elende Häufchen Silber herausgegeben.
• Ich glaube, wenn Römer sich eingebildet hätte, ein Nilpferd oder ein Speiseschrank zu sein, so wäre ich nicht so unbarmherzig und undankbar gegen ihn gewesen; da er aber ein großer Prophet sein wollte, so fühlte sich meine eigene Eitelkeit dadurch verletzt und waffnete sich mit den äußerlichen scheinbaren Gründen.
Nach einem Monate erhielt ich von Römer folgenden Brief aus Paris:
072• «Mein werther junger Freund!
Ich bin Ihnen eine Nachricht über mein Befinden schuldig, da ich gern annehme, mich Ihrer ferneren Theilnahme und Freundschaft erfreuen zu dürfen. Bin ich Ihnen doch meine endliche Befreiung und Herrschaft schuldig. Durch Ihre Vermittlung, indem Sie das Geld von mir zurückverlangten (welches ich nicht vergessen hatte, aber Ihnen in einem freieren Augenblicke zurückgeben wollte), bin ich endlich in den Palast meiner Väter eingezogen und meiner wahren Bestimmung anheimgegeben! Aber es kostete Mühseligkeit. Ich gedachte jene Summe zu meinem ersten Aufenthalte hier zu verwenden; da Sie aber selbige zurückverlangten, so blieb mir nach Abzug der Reisekosten noch 1 Franc übrig, mit welchem ich von der Post ging. Es regnete sehr stark und verwandte ich daher den besagten Franc dazu, nach dem ªMont piété¨ zu fahren und dorten meine Koffer zu versetzen. Bald darauf sah ich mich genöthigt, meine Sammlungen einem Trödler für ein Trinkgeld zu verkaufen und erst jetzt, als ich endlich von aller angenommenen Künstlermaske und allem Kunstapparate glücklich befreit und hungernd in den Straßen umherlief, ohne Obdach, ohne Kleider, doch jubelnd über meine Freiheit, 073 da fanden mich treue Diener meines erlauchten Hauses und führten mich im Triumph heim! Aber noch beobachtet man mich zuweilen und ich benutze eine günstige Gelegenheit, dies Zeichen zu senden. Sie sind mir werth geworden und ich habe etwas Gutes mit Ihnen vor! Inzwischen nehmen Sie meinen Dank für die günstige Wendung, die Sie herbeigeführt! Möge alles Elend der Erde in Ihr Herz fahren, jugendlicher Held! Mögen Hunger, Verdacht und Mißtrauen Sie liebkosen und die schlimme Erfahrung Ihr Tisch- und Bettgenosse sein! Als aufmerksame Pagen sende ich Ihnen meine ewigen Verwünschungen, mit denen ich mich bis auf Weiteres Ihnen treulichst empfehle!
Ihr wohlgewogener Freund.
Dies nur in Eile, ich bin zu sehr beschäftigt!»
• Erst später erfuhr ich, daß Römer in einem französischen Irrenhause verschollen sei. Wie es dazu kam, wird in obigem Briefe ziemlich klar. Meine Mutter, welcher ich Alles verhehlte, konnte keine Schuld treffen, als diejenige aller Frauen, welche aus Sorge für ihre Angehörigen engherzig und rücksichtslos gegen alle Welt werden. Ich hingegen, der ich gerade zu dieser Zeit mich gut und 074 strebsam glaubte, sah nun ein, welche Teufelei ich begangen hatte. Ich log, verläumdete, betrog oder stahl nicht, wie ich es als Kind gethan, aber ich war undankbar, ungerecht und hartherzig unter dem Scheine des äußeren Rechtes. Ich mochte mir lange sagen, daß jene Forderung ja nur eine einfache Bitte um das Geliehene gewesen sei, wie sie alle Welt versucht, und daß weder meine Mutter, noch ich je gewaltsam darauf bestanden hätten, ich mochte mir lange sagen, daß Erfahrung den Meister mache und man auch diese Art Unrecht, als die häufigste und am leichtesten zu begehende, am besten durch ein Erlebniß recht einsehen und vermeiden lerne, mochte ich mich auch überreden, daß Römer's Wesen und Schicksal mein Verhalten hervorgerufen und auch ohne diesen Vorgang seine Erfüllung erreicht hätte; alles dies hinderte nicht, daß ich mir doch die bittersten Vorwürfe machen mußte und mich schämte, so oft Römer's Gestalt vor meinen Sinn trat. Wenn ich auch die Welt verwünschte, welche dergleichen Handlungen als klug und recht anerkennt (denn die rechtlichsten Leute hatten uns zu der Wiedererlangung der Summe beglückwünscht), so fiel doch alle Schuld wieder auf mich allein zurück, wenn ich an die Anfertigung jenes Billets dachte, welches ich ohne die mindeste Mühe geschrieben und 075 gleichsam aus dem Aermel geschüttelt hatte. Ich war bald achtzehn Jahre alt und entdeckte jetzt erst, wie ruhig und unbefangen ich seit den Knabensünden und Krisen gelebt, sechs lange Jahre! Und nun plötzlich diese Unthat! Wenn ich schließlich bedachte, wie ich jenes unverhoffte Erscheinen Römer's als eine höhere Fügung angesehen, so wußte ich nicht, sollte ich lachen oder weinen über den Dank, den ich dafür gespendet. Den unheimlichen Brief wagte ich nicht zu verbrennen und fürchtete mich ihn aufzubewahren; bald begrub ich ihn unter entlegenem Gerümpel, bald zog ich ihn hervor und legte ihn zu meinen liebsten Papieren, und noch jetzt, so oft ich ihn finde, verändere ich seinen Ort und bringe ihn anderswo hin, so daß er auf steter Wanderschaft ist.