GH 2.01

Zweiter Band.

001 Erstes Kapitel.

Berufswahl. Die Mutter und die Rathgeber.

Ich konnte den unbestimmten Zwischenzustand nun nicht länger ertragen, sondern suchte unter meinen Sachen nach feinem Papier, um einen Brief an meine Mutter zu schreiben, den ersten in meinem Leben. Als ich ganz zu oberst am Rande das «Liebe Mutter!» hinsetzte, schwebte sie mir in einem neuen Lichte vor; ich empfand diesen Fortschritt und Ernst des Lebens wohl, und meine Schreibgeläufigkeit ließ mich anfänglich im Stiche und kaum die ersten Sätze finden. Doch führten mich die Schilderungen meiner Reise und der sonstigen Erlebnisse bald vorwärts, und meine Beschreibung fiel nur allzu geschmückt und prahlerisch aus. Ich trug ein großes Behagen zur Schau und ein gewisses, sonderbares Bestreben, welches sich nachher mehrmals wiederholte, auf meine Mutter mit einem glücklichen Befinden und mit meinen verschiedenen Thaten und Abenteuern eine Art Eindruck zu bewirken, eine 002 förmliche Sucht, auf drollige Weise sie zu unterhalten und zugleich dadurch mich geltend zu machen. Alsdann ging ich auf den Zweck meines Schreibens über und erklärte ihr weitläufig, daß ich nun durchaus glaubte, ein Maler werden zu müssen; und in Folge dessen bat ich sie, sich vorläufig umzusehen und mit den verschiedenen Erfahrenen unserer Bekanntschaft sich zu berathen. Die Familienberichte und Grüße, so wie einige wichtige Aufträge über kleine Gegenstände bildeten den Schluß des Briefes; ich faltete ihn eng und künstlich zusammen und verschloß ihn mit meinem Leibsiegel, einem Hoffnungsanker, welchen ich längst in ein weiches Stückchen Alabaster gegraben hatte und nun zum ersten Mal gebrauchte.

Nach dem Empfange dieses Briefes begab sich meine Mutter in ihre Staatskleidung, schlicht und einfarbig, bauschte ein frisches Taschentuch zusammen, das sie in die Hand nahm, und begann feierlich ihren Rundgang bei den ihr zugänglichen Autoritäten.

Zuerst sprach sie bei einem angesehenen Schreinermeister vor, welcher viel in guten Häusern verkehrte und Weltkenntniß besaß. Als Freund meines seligen Vaters hielt er in Freundschaft zu uns, so wie er auch die Bildungsbestrebungen jenes Kreises eifrig fortsetzte. Nachdem er Vortrag und Bericht 003 der Mutter ernstlich angehört, erwiderte er kurzweg, das sei nichts und hieße so viel, als das Kind einer liederlichen und ungewissen Zukunft anheimstellen. Hingegen wußte der Schreiner besseren Rath, wenn einmal etwas Künstlerisches ergriffen werden müsse. Ein junger Vetter von ihm hatte sich in einer entfernteren Stadt als Landkartenstecher ausgebildet und genoß eines guten Auskommens, so daß er in den Augen seiner Sippschaft als etwas Rechtes dastand. Daher erbot sich der Rathgeber, mich aus besonderer Freundschaft in der Nähe dieses Mannes unterzubringen, wo ich dann, wenn wirklich etwas Tüchtiges in mir stäcke, es nicht nur bis zum Stechen, sondern zum Selbstentwerfen der Landkarten bringen könne, indem ich meine Zeit wohl anwende zur Erwerbung der nöthigen Kenntnisse. Dies wäre dann ein feiner, ehrenvoller und zugleich ein nützlicher und in das große Leben passender Beruf.

Mit vermehrten Sorgen und Zweifeln gelangte meine Mutter zum zweiten Gönner und auch einem Freunde ihres Mannes. Derselbe war ein Fabrikant von farbigen und bedruckten Tüchern, welcher sein ursprünglich geringes Geschäft nach und nach erweitert hatte und sich eines wachsenden Wohlstandes erfreute. Er erwiderte den Bericht meiner Mutter folgender Maßen:

004 «Dieses Ereigniß, daß der junge Heinrich, der Sohn unseres unvergeßlichen Freundes, sich für eine künstlerische Laufbahn erklärt und die Nachricht, daß er schon lange sich vorzugsweise mit Stift und Farben beschäftigt, kommt sehr erfreulich einer Idee entgegen, die ich schon einige Zeit in Bezug auf den Knaben hege. Es entspricht ganz dem Geiste seines wackern Vaters, daß er seine Neigung einer feineren Thätigkeit zuwendet, zu welcher Talente und ein höherer Schwung erforderlich sind; allein diese Neigung muß auf eine solide und vernünftige Bahn gelenkt werden. Nun ist Euch, wertheste Frau und Freundin, die Art meines nicht unbedeutenden Geschäftes bekannt; ich fabrizire bunte Stoffe, und wenn ich einen leidlichen Verdienst erzwecke, so geschieht es hauptsächlich dadurch, daß ich mit Aufmerksamkeit und Raschheit allezeit die neuesten und gangbarsten Dessins zu bringen und selbst den herrschenden Geschmack durch ganz Neues und Originelles zu überbieten suche. Hierzu sind eigene Zeichner vorhanden, deren Aufgabe es ist, lediglich neue Dessins zu erfinden und, in der behaglichen Stube sitzend, nach Herzenslust Blumen, Sterne, Ranken, Tupfen und Linien durcheinander zu werfen. In meiner Anstalt habe ich drei solcher Leute, denen ich ein lästerliches Geld bezahlen und sie obenhinein 005 noch sehr glimpflich behandeln muß. Sie sind, obgleich sie ziemlich geschickt den Gang des Geschäftes begreifen und verfolgen, doch nur zufällig zu diesem Berufe gekommen und durch keinerlei innere Kraft vorher bestimmt. Was könnte mir nun willkommener sein, als ein junger Mensch, der mit solcher Energie sich für Papier und Farben erklärt, in so frühem Alter, der den ganzen Tag, ohne weitere Anregung, Bäume und Blumengärtchen malt? Wir wollen ihm schon Blumen genug verschaffen, in geordneten Reihen soll er sie auf die Tücher zaubern, unerschöpflich, immer neu; er soll aus der reichen Natur die wunderbarsten und zierlichsten Gebilde abstrahiren, welche meine Konkurrenten zur Verzweiflung bringen! Kurz, gebt mir Euren Sohn in's Haus! Ich werde ihn bald so weit gebracht haben, wie die Anderen, und wenn er einige Jahre älter ist, so thun wir ihn nach Paris, wo die Sache in's Große betrieben wird und die ausgezeichnetsten Dessinateurs der verschiedensten Industriezweige leben wie die Fürsten und von den Geschäftsleuten auf Händen getragen werden. Hat er dort sich gehörig emporgeschwungen und seine Erfahrung bereichert, so ist er ein gemachter Mann und kann sein Loos selbst bestimmen. Will er alsdann sich wieder mit mir verbinden, so wird das mir zur Freude und 006 zum Vortheil gereichen; findet er aber sein Glück anderswo, so habe ich nichts desto weniger meine Zufriedenheit daran. Bedenket Euch, ich glaube mich nicht zu täuschen!»

Er führte hierauf meine Mutter in seinem Geschäfte herum und zeigte ihr die bunten Herrlichkeiten, die geschnittenen Holzmödel und vor Allem die kühnen Compositionen seiner Zeichner. Es leuchtete ihr Alles vollkommen ein und erfüllte sie wieder mit Hoffnung. Abgesehen von dem gesicherten und reichlichen Erwerbe, welchen ein gewandter Geschäftsmann verbürgte, war ja diese ganze Kunst dem Dienste der Frauen gewidmet und so reinlich und friedsam, daß ein Sohn in ihrem Schooße wohl geborgen schien. Auch mochte es vielleicht eine Ader verzeihlicher Eitelkeit erwecken, wenn sie sich in einen der bescheideneren Stoffe meiner Erfindung gekleidet dachte. Sie war so mit diesen angenehmen Gedanken beschäftigt, daß sie für diesmal ihre Wanderung einstellte, um sich ganz in denselben zu ergehen.

Der folgende Tag jedoch rief sie wieder zur Erfüllung der sonst väterlichen Pflicht auf und führte sie mit neuen Sorgen und Zweifeln auf den Weg. Sie gelangte zu einem dritten Freunde des Vaters, einem Schuster, der im Geruche tiefen Verstandes 007 und eines gewaltigen Politikers lebte. Seit dem Tode meines Vaters war er durch die Zeitereignisse in eine strenger demokratische Richtung hineingetreten. Nach mißlaunischer Anhörung des Berichtes und des Erfolges der gestrigen Bemühungen brach er barsch los:

«Maler, Landkartenmacher, Blümchenzeichner, Stubensitzer, Herrenknecht! Handlanger der Geldaristokraten, Gehülfe des Luxus und der Verweichlichung, als Landkartenmacher sogar direkter Vorschubleister des bestialischen Kriegswesens! Handwerk, ehrliche und schwere Handarbeit ist uns von nöthen, gute Frau! Wenn Euer Mann lebte, so würde er den Jungen so gewiß durch schwere Handarbeit in's Leben führen, als zwei mal zwei vier sind! Zudem ist der Junge schon ein Bischen schwächlich und verwöhnt durch Euere Weiberwirthschaft; laßt ihn Maurer oder Steinmetz werden, oder besser, gebt ihn mir, so wird er die gehörige Demuth und damit den rechten Stolz eines Mannes aus dem Volke gewinnen, und bis er im Stande ist, einen guten Schuh fix und fertig zu arbeiten, soll er gelernt haben, was ein Bürger ist, wenn er anders seinem Vater nachfolgt, den wir sehr vermissen, wir andere Handwerksleute! Besinnt Euch, Frau Lee! von der Pike auf dienen, das macht den Mann! Waren 008 die neuen Schuhe doch nicht zu eng, die ich letzthin schickte?»

Die Frau Lee ging aber nicht sonderlich erbaut fort und murmelte vor sich her: «Schlag du nur deine hölzernen Zwecke ein, bei mir erreichst du deinen Zweck nicht, Herr Schuster, ungehobelter Mann! Bleib nur bei deinem Leisten und warte, bis mein Kind kommt, dir Gesellschaft zu leisten! Draht ist nicht Rath! Wenn du Gott fürchten würdest, so brauchtest du nicht vor dem Gerber zu fliehen! Wer Pech angreift, besudelt sich!» Unter solchen Sarkasmen, welche sie nachher wiederholte, so oft sie auf diese Unterredung zu sprechen kam, zog sie die Klingel an einem hohen und schönen Hause, welches der Vater einst für einen vornehmen Herrn gebaut hatte. Es war ein feiner und ernster Mann, der in den Staatsgeschäften stand, nicht viele Worte machte, jedoch für uns einige Geneigtheit bezeigte und schon mehrmals mit entscheidendem Rath an die Hand gegangen war. Als er vernommen, warum es sich handelte, erwiderte er mit höflich ablehnenden Worten:

«Es thut mir leid, gerade in dieser Angelegenheit nicht dienen zu können! Ich verstehe so viel wie Nichts von der Kunst! Nur weiß ich, daß auch für das ausgezeichnetste Talent lange Studienjahre 009 und bedeutende Mittel erforderlich sind. Wir haben wol große Genies, welche sich durch besondere Widerwärtigkeiten endlich emporgeschwungen; allein um zu beurtheilen, ob Ihr Sohn hierzu nur die geringsten Hoffnungen biete, dazu besitzen wir in unserer Stadt gar keine berechtigte Person! Was hier an Künstlern und dergleichen lebt, ist ziemlich entfernt von dem, was ich mir unter wirklicher Kunst vorstelle, und ich könnte nie rathen, einem ähnlichen verfehlten Ziele entgegenzugehen.» Dann besann er sich eine Weile und fuhr fort: «Betrachten Sie mit Ihrem Sohne die ganze Sache als eine kindische Träumerei; kann er sich entschließen, sich von mir in einer unserer Kanzleien unterbringen zu lassen, so will ich hierzu gern die Hand bieten und ihn im Auge behalten. Ich habe gehört, daß er nicht ohne Talent sei, besonders in schriftlichen Arbeiten. Würde er sich gut halten, so könnte er sich mit der Zeit eben so gut zu einem Verwaltungsmanne emporarbeiten, als mancher andere wackere Mann, welcher eben so von unten angefangen und als armer Schreiberjunge in unsere Kanzleien getreten ist. Letztere Bemerkung mache ich übrigens nicht, um irgend große Hoffnungen zu erregen, sondern nur um Ihnen zu zeigen, daß der Knabe auch auf diesem Wege nicht unbedingt an ein dunkles und dürftiges Loos gebunden ist.»

010 Diese Rede, indem sie meiner Mutter eine ganz neue Aussicht eröffnete, warf sie gänzlich in Ungewißheit zurück, ob sie nicht ernstlich mich zur Aenderung meines Sinnes bestimmen solle. Denn hier war noch mehr, als beim Fabrikanten, die Bürgschaft eines angesehenen und seiner Worte sicheren Mannes zur Hand, welcher einen großen Theil unserer Verhältnisse eben so klar durchschaute als mit beherrschte und im Stande war, diejenigen über dem Wasser zu halten, die sich seinem Rathe anvertrauten.

Sie schloß hier ihren beschwerlichen Gang und beschrieb mir in einem großen Briefe sämmtlichen Erfolg desselben, jedoch die Vorschläge des Fabrikanten und des Staatsmannes besonders hervorhebend, und ermahnte mich, meinen bestimmten Entschluß noch hinauszuschieben und eher darauf zu denken, auf welche Weise ich am füglichsten im Lande bleiben, mich redlich nähren, ihr selbst ein Trost und eine Stütze des Alters und doch meinen natürlichen Anlagen gerecht werden könne; denn daß sie je dazu helfen würde, mich gewaltsam zu einem mir widerstrebenden Lebensberufe zu bestimmen, davon sei keine Rede, da sie hierüber die Grundsätze des Vaters genugsam kenne und es ihre einzige Aufgabe wäre, annähernd so zu verfahren, wie er gethan haben würde.

011 Dieser Brief war überschrieben «mein lieber Sohn!» und das Wort Sohn, das ich zum ersten Male hörte von ihr, rührte mich und schmeichelte mir auf's Eindringlichste, daß ich für den übrigen Inhalt sehr empfänglich und dadurch an mir selbst irre und in Zweifel gesetzt wurde. Ich fühlte mich ganz allein und wehrlos mit meinen grünen Bäumen gegenüber dem ernsten kalten Weltleben und seinen Lenkern. Aber während ich schon begann, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, auf immer vom geliebten Walde zu scheiden, gab ich mich nur um so inniger der Natur hin und schweifte den ganzen Tag in den Bergen, und die drohende Trennung ließ mich manches angehende Verständniß sicherer ergreifen, als es sonst geschehen wäre. Ich hatte schon viele Studien des Junker Felix nachgezeichnet und dadurch einige Ausdrucksweise gewonnen, so daß meine Blätter wenigstens ordentlich weiß und schwarz wurden von Stift und Tusche.

 


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