GH 1.17

237 Siebzehntes Kapitel.

Flucht zur Mutter Natur.

Der Kummer und die Niedergeschlagenheit meinerseits waren nicht allzugroß; ich hatte dem Lehrer des Französischen einige Bücher zurückzustellen, da er mir mit Wohlwollen ehrwürdige Franzbände französischer Klassiker zu leihen pflegte. Auch führte er mich einige Male in einer großen Bibliothek umher, mir respektvolle Vorbegriffe vom Bücherwesen beibringend. Als ich zu ihm kam, drückte er mir sein Bedauern über das Geschehene aus und gab mir zu verstehen, wie ich es nicht allzu hoch aufzunehmen hätte, da seines Wissens die Mehrzahl der Lehrer, gleich ihm, nicht unzufrieden mit mir wären. Ferner lud er mich ein, ihn zu besuchen und seinen Rath zu holen, wenn ich Lust hätte, das Französische weiter zu betreiben. Ich sah ihn zwar nicht wieder im Wechsel der Zeit, aber seine Worte gaben mir eine gewisse Genugthuung, daß ich mich nun frei fühlte, wie der Vogel in der Luft, zumal ich die 238 Bedeutung des Augenblickes und die Wichtigkeit der Zukunft nicht zu übersehen vermochte.

Meine Mutter hingegen befand sich in großer Bedrängniß; sie konnte bestimmt annehmen, daß der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht abgeschlossen haben würde, wenn er noch lebte, und doch sah sie bei ihren beschränkten Mitteln keine Möglichkeit, mir Privatlehrer zu halten oder mich auf eine auswärtige Schule zu schicken, noch konnte sie sich den Beruf denken, welchen ich nun am besten ergriffe, da gerade für eine einsichtvollere Selbstbestimmung der erweiterte Gesichtskreis der nun verschlossenen höheren Klassen hätte Gelegenheit bieten sollen. Meine häusliche Beschäftigung hatte in letzter Zeit beinahe ausschließlich in Zeichnen und Malen bestanden, und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in einem sonderbaren Verhältniß zur Schule. Dort galt ich für Nichts weniger, als für einen talentvollen Zeichner. Monate lang klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette; ich quälte mich verdrossen ab, einen kolossalen Kopf oder ein Ornament mit dem magern Bleistifte zu kopiren, Dutzende von Linien wurden ausgelöscht, bis die richtige stehen blieb, das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und verkündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. Sobald ich aber nach Hause kam, 239 warf ich diese Schulkunst bei Seite und machte mich mit eifrigem Fleiße hinter meine Hauskunst. Nach jenem ersten Versuche, eine gemalte Landschaft zu kopiren, hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen; da ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß, mußte ich sie auf eigene Faust in's Leben rufen und that dieses mit anhaltendem Fleiße. Der gemalte Ofen unserer Stube enthielt eine Menge kleiner Landschaftsmotive, eine Burg, eine Brücke, einige Säulen an einem See und solches mehr; ein altes Stammbuch der Mutter, so wie eine kleine Bibliothek verjährter Damenkalender aus ihrer Jugend bargen einen Schatz sentimentaler Landschaftsbilder, dem lyrischen Texte entsprechend, mit Tempeln, Altären und Schwänen auf Teichen, mit Liebespaaren in Kähnen sitzend und dunklen Hainen, deren Bäume mir unvergleichlich gestochen schienen. Aus allen Diesem zusammen bildete sich eine höchst unschuldige und so zu sagen elementare Poesie, welche meinem eifrigen Machen zu Grunde lag und mich während desselben beglückte. Ich erfand eigene Landschaften, worin ich alle poetischen Motive reichlich zusammenhäufte und ging von diesen auf solche über, in denen ein einzelnes vorherrschte, zu welchem ich immer den gleichen Wanderer in Beziehung brachte, unter dem ich, halb bewußt, 240 mein eigenes Wesen ausdrückte. Denn nach dem immerwährenden Mißlingen meines Zusammentreffens mit der übrigen Welt hatte eine ungebürliche Selbstbeschauung und Eigenliebe angefangen, mich zu beschleichen; ich fühlte ein weichliches Mitleid mit mir selbst und liebte es, meine Person symbolisch in die interessanten Scenen zu versetzen, welche ich erfand. Diese Figur, in einem grünen romantisch geschnittenen Kleide, eine Reisetasche auf dem Rücken, starrte in Abendröthen und Regenbogen, ging auf Kirchhöfen oder im Walde, oder wandelte auch wol in glückseligen Gärten voll Blumen und bunter Vögel. Das Machwerk an der beträchtlichen Sammlung solcher Bilder, welche sich bereits angehäuft hatte, blieb immer auf dem nämlichen Standpunkte gänzlicher Erfahrungs- und Unterrichtslosigkeit; nur eine gewisse Keckheit und Fertigkeit im Auftragen der grellen Farben, welche ich durch die unablässige Uebung erwarb, verbunden mit der kühnen Absicht meiner Unternehmungen überhaupt, unterschied mein Treiben einigermaßen von sonstigen knabenhaften Spielen mit Bleistift und Farbe und mochte meinen vorläufigen Ausspruch, daß ich ein Maler werden wolle, veranlassen. Doch wurde jetzt nicht näher darauf eingegangen, sondern bestimmt, daß ich einige Zeit in dem ländlichen Pfarrhause 241 bei dem Bruder der Mutter zubringen sollte, um über die nächsten Monate meines Ungemaches auf gute Weise hinwegzukommen, indessen eine taugliche Zukunft für mich ermittelt würde.

Das Heimatdorf lag in einem äußersten Winkel des Landes; ich war noch nie dort gewesen, so wie auch die Mutter seit manchen Jahren es nicht mehr besucht hatte und die dortigen Verwandten, mit seltenen Ausnahmen, nie in der Stadt erschienen. Nur der Oheim Pfarrer kam jedes Jahr ein Mal auf seinem Klepper geritten, um an einer Kirchenversammlung Theil zu nehmen, und schied immer mit jovialen Einladungen, endlich einmal hinauszuwandern. Er erfreute sich eines halben Dutzends Söhne und Töchter, welche mir noch so unbekannt waren, wie ihre Mutter, meine rüstige Muhme und geistliche Bäuerin. Außerdem lebten dort zahlreiche Verwandte des Vaters, vor Allen auch seine leibliche Mutter, eine hochbejahrte Frau, welche, schon längst an einen zweiten, reichen und finstern Mann verheiratet, unter dessen harter Herrschaft in tiefer Zurückgezogenheit lebte und nur selten mit den Hinterlassenen ihres früh gestorbenen Sohnes einen sehnsüchtigen Gruß aus der Ferne wechselte. Das Volk lebte noch in der stillen Einschränkung und Entsagung vergangener Jahrhunderte, wo 242 besonders die Frauen, wenn sie einmal durch einige Meilen getrennt waren, einander nicht wieder, oder nur bei seltenen, hochwichtigen Ereignissen sahen, bei welchen es alsdann wahrhaft episch herging und Thränen der Rührung und schmerzlicher oder froher Erinnerung ihren Augen entflossen, während die Männer wol sich vom Orte bewegten, aber in ernstem Geschäftssinne an den Thüren halbverschollener Verwandter vorübergingen, wenn sie keinen Rath zu bringen oder zu holen hatten. Jetzt ist das Volk wieder lebendiger geworden; durch die erleichterten Verkehrsmittel, durch das wieder erstandene öffentliche Leben und zahlreiche Volksfeste veranlaßt, bewegt es sich fröhlich von der Stelle und macht damit zugleich seinen Geist wieder jung und fruchtbar, und nur beschränkte Eiferer predigen noch gegen die festliche Wanderlust Derer, die den Pflug führen, und ihrer Kinder.

Meine Mutter befahl mir, insbesondere der einsamen überlebenden Großmutter so viele Zeit als möglich zu widmen und in Ehrerbietung und Liebe bei ihr auszuharren, so lange es ihr gefiele, mich um sich zu haben und von meinem Vater, ihrem Sohne, zu reden.

So machte ich mich eines Morgens vor Sonnenaufgang auf die Füße und trat den weitesten Weg an, den ich bis dahin unternommen hatte. 243 Ich genoß zum ersten Male das Morgengrauen im Freien und sah die Sonne über nachtfeuchten Waldkämmen aufgehen. Ich wanderte den ganzen Tag, ohne müde zu werden, kam durch viele Dörfer und war wieder stundenlang allein in gedehnten Waldungen oder auf freien heißen Höhen, mich oft verirrend, aber die verlorene Zeit nicht bereuend, weil ich fortwährend in meinen Gedanken beschäftigt war und zum ersten Mal, durch mein stilles Wandern bewegt, von der ernsten Betrachtung des Schicksals und der Zukunft erfüllt wurde. Kornblumen und rother Mohn und in den Wäldern bunte Pilze begleiteten mich längs der ganzen Straße; wunderschöne Wolken bildeten sich unablässig und zogen am tiefen stillen Himmel dahin; ich ging immer zu, indessen mich das selbstgefällige Mitleid mit mir selbst, welches mir die Welt aufgedrängt hatte, wieder überkam, bis ich gegen alle Gewohnheit bitterlich weinte. Ich wußte mich vor Betrübniß nicht zu lassen und saß an einer schattigen Quelle nieder, immer schluchzend, bis ich mich schämte, mein Gesicht wusch und über mich selbst erbost den Rest des Weges zurücklegte. Endlich sah ich das Dorf zu meinen Füßen liegen in einem grünen Wiesenthale, welches von den Krümmungen eines leuchtenden kleinen Flusses durchzogen und von belaubten Bergen 244 umgeben war. Die Abendsonne lag warm auf dem Thale, die Kamine rauchten freundlich, einzelne Rufe klangen herüber. Bald befand ich mich bei den ersten Häusern, ich fragte nach dem Pfarrhofe, und die Leute, welche an meinen Augen und meiner Nase erkannten, daß ich zu dem Geschlechte der Lee gehöre, fragten mich, ob ich vielleicht ein Sohn des verstorbenen Baumeisters sei?

So gelangte ich zu der Wohnung meines Oheims, welche von dem rauschenden Flüßchen bespült und mit großen Nußbäumen und einigen hohen Eschen umgeben war; die Fenster blinkten zwischen dichtem Aprikosen- und Weinlaube hervor, und unter Einem derselben stand mein dicker Oheim in grüner Jacke, ein silbernes Waldhörnchen, in welchem eine Cigarre rauchte, im Munde und eine Doppelflinte in der Hand. Ein Flug Tauben flatterte ängstlich über dem Hause und drängte sich um den Schlag, mein Oheim sah mich und rief sogleich: «Ha ha, da kommt unser Neveu! das ist gut, daß Du da bist, schnell heraufspaziert!» Dann sah er plötzlich in die Höhe, schoß in die Luft und ein schöner Raubvogel, welcher über den Tauben gekreist hatte, fiel todt zu meinen Füßen. Ich hob ihn auf und trug ihn, durch diesen tüchtigen Empfang angenehm begrüßt, meinem Oheim entgegen.

245 In der Stube fand ich ihn allein neben einer langen Tafel, die für viele Personen gedeckt war. «Eben kommst Du recht!» rief er, «wir halten heute das Erntefest, gleich wird das Volk da sein!» Dann schrie er nach seiner Frau, sie erschien mit zwei mächtigen Weingefäßen, stellte sie ab und rief: «Ei ei, was ist das für ein Bleichschnabel, für ein Milchgesicht? Warte, Du sollst nicht mehr fort, bis Du so rothe Backen hast, wie Dein seliger Vater! Wie geht's der Mutter, was ist das, warum kommt sie nicht mit?» Sogleich richtete sie mir an der Tafel ein vorläufiges Mahl zu und schob mich, als ich zögerte, ohne weiteres auf den Stuhl und befahl mir, stracks zu essen und zu trinken. Indessen näherte sich Geräusch dem Hause, der hohe Garbenwagen schwankte unter den Nußbäumen heran, daß er die untersten Aeste streifte, die Söhne und Töchter mit einer Menge anderer Schnitter und Schnitterinnen gingen nebenher unter Gelächter und Gesang; der Oheim, seine Flinte reinigend, schrie ihnen zu, ich wäre da, und bald fand ich mich mitten im fröhlichen Getümmel. Erst spät in der Nacht legte ich mich zu Bette bei offenem Fenster; das Wasser rauschte dicht unter demselben, jenseits klapperte eine Mühle, ein majestätisches Gewitter zog durch das Thal, der Regen klang wie Musik 246 und der Wind in den Forsten der nahen Berge wie Gesang, und die kühle erfrischende Luft athmend schlief ich so zu sagen an der Brust der gewaltigen Natur ein.

 


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