Höchst angenehm gestimmt und aufgeregt ging er in dem schönen Garten umher und fühlte sich lieblich geschmeichelt und gestreichelt durch den artigen Scherz, welchen das Fräulein mit ihm aufgeführt, sowie durch die unbefangene Art, mit welcher sie die Erzählung ihres Herkommens und ihrer Verhältnisse veranlaßt hatte. Aber erst unter den dunklen Bäumen des Lustwaldes stieg ihm plötzlich der schmeichelhafte Gedanke auf, daß er der Schönen am Ende wohl gefallen müsse, weil sie so unverhohlen und freundlich sich mit ihm zu thun machte, und er warf unverweilt sein inneres Auge auf sie mit großem Wohlwollen, auch stellte sich ihm im Fluge ein herrliches und edles Leben dar mit allen seinen Zierden 356 an der Seite dieses guten und liebenswerthen Frauenzimmers. Heftig schritt er in dem kühlen Schatten umher und fühlte sein Herz ganz gewaltig schwellen und er kam sich im höchsten Grade glückselig und deshalb liebenswürdig vor. Aber auf dem obersten Gipfel dieser schönen Einbildungen ließ er den Kopf urplötzlich sinken, indem es ihm unvermuthet einfiel, daß dergleichen unbefangene Scherze, frohes Benehmen und Zutraulichkeit ja eben die Kennzeichen und Sitten feiner, natürlicher und wohlgearteter Menschen und einer glücklichen heiteren Geselligkeit wären, welche Jeden, den sie einmal arglos aufgenommen und zu kennen glaubt, auch ohne Arg mit ganzer Freundlichkeit behandelt; daß es ebensowohl das Kennzeichen der Grobheit und Ungezogenheit wäre, zum Danke für solche feine Freundlichkeit sogleich das Auge auf die Inhaberinnen derselben zu werfen und ihre Person mit unverschämten und eigenmächtigen Gedanken in Beschlag zu nehmen. So hoch diese sich vorhin verstiegen hatten, um so tiefere Demuth befiel ihn jetzt und er beschloß in derselben, die Schönste 357 gegen sich selbst in Schutz zu nehmen, nicht ahnend, daß eine Neigung, die schon mit solcher inniger Achtung vor ihrem Gegenstande beginnt, das allerschärfste Schwert in sich birgt. Und er beschloß ganz gründlich zu Werke zu gehen und die Dame auch in dem geheimsten Gemüthe nicht zu lieben, so daß sie unbewußt ganz unbedenklich in demselben wohnen könne, nur von seiner uneigennützigsten Ehrerbietung und guten Freundschaft umgeben.
Dieser herzhafte Beschluß schwellte ihm abermals die Brust und hielt dann sein Blut auf in seinem Laufe, aber sehr schmerzlich süß, daß es ihm wohl und weh dabei ward. Ersteres, weil es immer wohl thut, einem liebenswürdigen Wesen Gutes zu erweisen, selbst wenn das durch Entsagung geschieht, und weh, weil es doch eine häklige Sache ist, eine junge Neigung so ohne Weiteres abzuwürgen und eine ganze werdende mögliche Welt im Keime zu zertreten. Indem er dies schmerzliche Gefühl empfand und darüber nachdachte, sagte er: «Im Grunde – ein Mädchen zu lieben ist nie eine 358 Unhöflichkeit, wenn man nur etwas Rechtes ist! Aber von mir würde es jetzt unhöflich und grob sein, weil ich ja nichts, ach so gar nichts bin und erst Alles werden muß!» Zum ersten Mal bereute er so recht die vergangenen Jahre und die scheinbar nutzlose Jugend, die ihn jetzt von dieser Erscheinung überrascht werden ließ, ohne daß er bereit und werth war, auch nur im Geheimen eine herzhafte Leidenschaft aufkommen zu lassen und zu nähren. Er fuhr seufzend mit der Hand durch das Haar und entdeckte, daß er keinen Hut auf dem Kopfe hatte. «Ein Kerl!» rief er, «der nicht einmal einen guten Hut, das Zeichen der Freien, auf dem Kopfe trägt! Da lauf' ich barhäuptig wie ein Mönch in fremdem Besitzthum umher! Ich muß einmal nach meinem Hute sehen!»
Er lief in das Gartenhaus. Das freundliche Apollonchen allein war da und holte ihm auf sein Begehren seinen Hut hervor; aber sie hielt denselben mit einem schalkhaften Lächeln dar, so weit dies ihrer Gutmüthigkeit immer möglich war; denn der Hut sah schändlich aus 359 und war gänzlich zu Grunde gerichtet. Vom Regen war er noch aus aller Form gewichen und stellte sich von allen Seiten, wie man ihn auch wenden mochte, als ein höhnisches Unding vor. Wie Heinrich ihn so trostlos in der Hand hielt und Apollonchen mit verhaltenem Lachen dabeistand, trat Dorothea aus dem Saale herein und rief: «Wo ist denn das Herrchen? Ach da sind Sie ja! Wenn es Ihnen lieb ist, so wollen wir doch ein wenig spazieren gehen, sehen Sie hier, da habe ich Ihnen einen Hut zurecht gezimmert, der Ihnen hoffentlich wohl anstehen soll!» Wirklich hielt sie einen breiten grauen Jägerhut in der Hand, um den ein grünes Band geschlungen war. Sie setzte ihm denselben auf und sagte: «Lassen Sie sehen! Ei vortrefflich, sage ich Ihnen, sieh' mal Apollonchen! Ich habe mir erlaubt, Ihre Jugendfarbe daran anzubringen, damit wir doch ein Bischen grünen Heinrich hier haben! Ist dies Ihr Hut? Wollten Sie den aufsetzen? Zeigen Sie!»
«Ach sehen Sie ihn doch nicht an!» rief Heinrich und wollte ihn wegnehmen, aber sie 360 entschlüpfte ihm und den Trübseligen pathetisch vor sich hinhaltend sagte sie: «Lassen Sie! Ich möchte gar zu gern ein solch' schlechtes Ding und Krone der Armuth einmal ganz in der Nähe besehen! Ja, es ist wahr! kummervoll sieht er aus, der Hut! Aber wissen Sie, ich möchte doch einmal ein Bursche sein und mit solchem verwegenen Unglückshut so ganz allein in der Welt herumwandern! Aber durchaus müssen wir ihn in unserem Rittersaal aufpflanzen als eine Trophäe unserer Zeit unter den alten Eisenhüten!»
Heinrich entriß ihr die Trophäe und steckte sie in den Ofen, in dem eben ein helles Feuer brannte, und ging mit ihr, die ihn darüber ausschalt, in's Freie. «Wenn er einmal verbrannt sein mußte,» sagte sie, «so hätten wir ihn doch auf feierliche Weise verbrennen sollen! Sie haben in Ihrem Schreibebuch selbst so artig besungen, wie Sie Ihre Dornenkrone lustig auf einem Zimmetfeuerchen verbrennen wollten, nun hätten wir den schlimmen Hut dafür nehmen und ihn dergestalt mit guten Ceremonien verbrennen können, zum Zeichen, daß Sie entschlossen sind, 361 es sich von nun an recht wohl gehen zu lassen!»
Er antwortete hierauf nichts und dachte auch an gar nichts mehr, was er soeben erst gedacht, sondern überließ sich ganz gedankenlos dem Vergnügen, an der Seite der schönen Jungfrau zu sein, welche ihm die Gegend zeigte, vor ihm her über Wassertümpelchen und Geleise sprang, ihr Kleid anmuthig aufnehmend und zuweilen lachend zurücksah, ob er ihr auch ordentlich folge. Seit langer Zeit erging er sich zum ersten Mal wieder auf dem Lande, ohne Sorgen und an einem schönen Abend, und er wurde durch alles dies so wohlgemuth, daß er auf die harmloseste Weise mit der Schönen umherlief und lachte und anfing Witze zu machen, ohne jedoch die Bescheidenheit zu verletzen. Es dunkelte schon, als sie wieder auf dem Kirchhof ankamen, wo sie mit dem Herrn des Hauses zusammentrafen; dieser nahm Heinrich mit sich fort und begehrte mit ihm zu sprechen, während Dorothea zurückblieb, um noch schnell, so weit es das scheidende Tageslicht erlaubte, 362 die Gräber nachzusehen, welche ordentlich unter ihrer Obhut zu stehen schienen.
• «Ich habe,» sagte der Graf, «jetzt Alles überdacht, was wir thun wollen. Ich habe in der Hauptstadt einige Geschäfte und muß diesen Herbst noch hinreisen. So wollen wir gleich morgen zusammen hingehen; Sie versehen sich da mit allem Nöthigen, vorzüglich aber mit einigem Handwerkszeuge, soviel sie zur Vollendung eines oder zweier ansehnlichen Bilder bedürfen, und dann kehren wir hieher zurück; denn ich möchte Sie durchaus nicht mehr in der Stadt wissen und Sie müssen sich vollkommen wohl befinden auf einige Zeit, dies legt eigentlich den besten Grund zu einem guten Wesen; denn die Welt ist nicht auf Grämlichkeit und Unzufriedenheit, sondern auf das Gegentheil gegründet. Hier machen Sie mit leichtem Muth eine gute Arbeit, Sie werden es thun, ich weiß es; obgleich ich eigentlich kein Kunstschmecker und Kenner von Profession bin und nur für weniges Gutes, was in seiner ganzen Art mich anspricht, mich zuweilen interessire, so weiß ich dennoch, daß es in Ihrem 363 bisherigen Handwerke gerade so zugeht, wie mit allem Anderen und daß man unter gewissen Umständen mit gutem Sinne immer das kann, was man will, wenn man nur etwas darin gethan hat. Ist die Geschichte fertig, so bringen wir sie nach der Stadt, stellen sie aus und ich werde alsdann mittelst meiner gesellschaftlichen Stellung das Nöthige veranlassen, daß Ihre Arbeit gesehen und mit Anstand verkauft wird. Erst dann können Sie mit Ehren dem Handwerke, das Ihnen unzulänglich dünkt, den Rücken wenden und Ihren Sinn auf das Weitere richten.»
Hierauf erwiederte Heinrich nichts, sondern blieb einsilbig den übrigen Theil des Abends hindurch, selbst als der seltsame Pfarrer am Abendessen Theil nahm und mit kuriosem Humor die Gesellschaft erheiterte. Aber als Heinrich im Bette lag, überdachte er alle diese Dinge mit großen Sorgen; denn er erinnerte sich erst jetzt mit Macht an seine Mutter, zu welcher er noch gestern unaufhaltsam hatte laufen wollen, und es wollte ihn bedünken, daß er nun unverzüglich seinen Weg fortsetzen und sich durch keine Umstände 364 von dieser so einfachen und natürlichen Absicht ablenken lassen solle. Es schwebte ihm vor, wie wenn der Vorschlag des Grafen, seine Freundschaft, die Schönheit Dorothea's, das gastliche Haus und das feine Leben darin, alles dies eine künstliche, glänzende und lockende Welt wäre, welche ihn von dem harten und schmalen Wege seines guten Instinktes wegziehen und in die Irre führen möchte. Obgleich er über diese unsinnige oder unklare Ahnung sogleich lachen mußte, dachte er doch, es wäre für einmal besser, wenn er seiner Absicht treu bliebe und unverzüglich nach Hause reise, um da auf heimathlichem Boden, aus sich selbst heraus und ohne alle Ansprüche zu sehen, was er treibe. Er beschloß desnahen, am anderen Tage unverbrüchlich jenen Weg einzuschlagen, anstatt mit dem Grafen zu gehen, und schlief mit diesem Vorsatze ein, aber nicht ohne alsobald wieder aufzuwachen und nichts Anderes vor sich zu sehen in der Dunkelheit, als das Bild Dorothea's, welches freundlich aber unbarmherzig allen Schlaf verscheuchte. Hierüber wunderte er sich sehr und fragte sich bedenklich, 365 ob er etwa wirklich verliebt sei? Es war lange her, seit er dies gewesen, aber dennoch glaubte er aus dem Grunde zu wissen, was Liebe sei, und hielt seine aufgeschriebenen Knabengeschichten noch immer für Meisterwerke leidenschaftlicher Erlebnisse. Und dennoch konnte er sich jetzo nicht entsinnen, auch nur ein einziges Mal etwa nicht geschlafen zu haben während jener Geschichten und war ganz verblüfft, erst jetzt ein ihm bisher unbekanntes Gefühl seinen Rumor beginnen zu sehen, welches ganz anders in's Zeug und in die Tiefe zu gehen schien, als alle jene Verwirrungen und Anfängerstückchen. Eine frohe Bangigkeit durchschauerte ihn, Furcht und Lust zugleich, sich selbst zu verlieren und so gefährliche Dinge schienen sich da ankündigen zu wollen, daß er doppelt beschloß, sich am anderen Tage zu flüchten.
• Aber als er in der Frühe geweckt wurde und ein Wagen schon im Hofe stand, während der Graf und Heinrich das Frühstück nahmen, war es ihm nicht möglich, mit einem Worte seines Entschlusses zu erwähnen, ja er dachte kaum noch daran, 366 da es sich von selbst zu verstehen schien, daß er nie einen Augenblick im Ernste von der Seite dieser Person wegkäme. Ohne Weiteres stieg er mit seinem Beschützer in den Wagen und mußte der Dorothea versprechen, sich in der Hauptstadt wieder einen grünen Rock anzuschaffen. Als er das versprach und der Wagen in den sonnigen Herbst hinausrollte in der gastlichen Gegend, war es ihm, als ob er böse wäre auf seine arme Mutter, die da im Vaterland säße und in ihrem Schweigen die unerhörtesten Ansprüche erhöbe, Alles zu lassen und stracks ein ungetheiltes Herz zu ihr zu bringen; denn in seiner Confusion und bei der Neuheit der Empfindung glaubte er, daß es jetzt um die Liebe zu seiner Mutter geschehen sein müsse, da er eine Fremde mit solchen Augen ansah, wie er noch nie eine angesehen.
In der Stadt angekommen, sah er sich die Straßen, in denen er in seiner Trübseligkeit umhergegangen, mit Muße an und ging in Gedanken immer selbander durch dieselben hin. Er kaufte sich zwei große Stücke Leinwand und alles dazu gehörige Zeug, auch versah er sich mit neuen 367 Kleidern und Effekten, und endlich wollte der Graf auch den alten Trödler aufsuchen, um durchaus die größeren Sachen Heinrich's wieder zu erwerben, die derselbe ihm verkauft. Sie gingen mit einander hin und fanden in dem dunklen Gäßchen den kleinen Laden halb verschlossen. Die andere Hälfte stand nur so weit offen, so viel Licht einzulassen, als eine kleine armselige Auction brauchte, welche in der Spelunke stattfand; denn das Männchen war vor wenigen Wochen gestorben. Dies that Heinrich sehr weh und er bereute es nun, nicht mehr zu dem Alten gegangen zu sein, da er es bei aller Wunderlichkeit so gut mit ihm gemeint hatte. Es trieben sich nur wenige geringe Leute in dem Laden herum und gingen die dunkle Treppe auf und nieder in der engen Wohnung des Verschwundenen, um den Niemand sich sonst gekümmert hatte, und der auch um Niemanden sich gekümmert. Heinrich's Bilder waren noch alle da mit den übrigen Siebensachen, und es kostete wenige Mühe und noch weniger Mittel, derselben habhaft zu werden. Er verpackte sie im Gasthofe, sie nahmen dieselben 368 gleich mit, und Heinrich sah mit angenehmen Gefühlen wenigstens den wesentlicheren Theil seines ehemaligen Besitzthumes wieder beisammen und in einem guten Hause aufgehoben, wo er selbst so gern zeitlebens geblieben wäre.