Gottfried Keller

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Prosa

 

Texte Mixed... Äußerungen zu Kellers Prosa
Der grüne Heinrich
(beide Fassungen parallel)
In der kleinen Stadt N. Nietzsche, Benjamin u. a.
Das Tanzlegendchen Kartoffelgeschichten Lesung (Michale Quast):
Die drei gerechten Kammmacher
Die Leute von Seldwyla (Vorreden) Träume  
Kleider machen Leute (mit Kommentar) Weihnachtsgeschichten  
Die Weihnachtsfeier im Irrenhaus    
Gotthelf-Rezensionen    

Mixed ...

 

 

In der kleinen Stadt N. ...

 

In der kleinen Stadt N. wuchs auf solche Weise ein Eiszapfen vom Dache des Kirchthurmes bis auf die Erde herunter und fror an derselben fest, also daß eine Säule von lauterem Eis neben dem Thurme stand. Weil aber die muthwillige Schuljugend den Zapfen täglich unten beleckte, so befürchtete man, er möchte dadurch unterhöhlt werden und mit Schaden über die Stadt hinstürzen, und der Stadtrath gebot deshalb, denselben bis zu zweidrittel seiner Höhe in Stroh einzubinden. Als nun die Wärme die Oberhand gewann, schmolz der Zapfen unschädlich bis zur Höhe des Strohes, der übrige Theil wurde mit Vorsicht umgelegt, daß er über den ganzen Kirchhof hinlag und die fröhlichen jungen Bursche weißsagten nun, je nach der kürzeren oder längeren Dauer der umgestürzten Säule würde es in diesem Jahrgange mit der Hartnäckigkeit der jungen Jungfern beschaffen sein. Die Mädchen widersetzten sich dieser Weißsagung heftig, waren aber ängstlich begierig, wie es mit dem Eiszapfen ginge, welchen die Bursche allnächtlich mit Feuerbränden bearbeiteten, während sie am Tage aussprengten, die Jungfern hobelten ihn trotz aller Gespensterfurcht alle Mitternacht mit heißen Bügeleisen, um ihr Schicksal zu beschleunigen.


 
Dieser Text stammt aus der ersten Niederschrift von Kellers Seldwyla-Erzählung Der Schmied seines Glückes. Er wurde bei der Überarbeitung gestrichen. In Bd. 21 der HKKA ist erstmals die ganze frühe Fassung abgedruckt.

Kleines editorisches Detail: In der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (DKV, Bd. 4) und in der Birkhäuser Ausgabe, die diese Episode auch präsentieren, heißt die märchenhafte Stadt "R." statt "N."

 

 

Kartoffelgeschichten

 

aus der Hulda-Episode des Grünen Heinrich (2. Fassung):

So spiesen wir denn vertraulich und waren guter Dinge; nur wollte das anziehende Wesen nicht von den Kartoffeln nehmen, die ich zu den Karbonaden, die sie gewünscht, bestellt hatte. Vielmehr sagte sie, es scheine, daß ich noch nie einen Schatz besessen, ansonst mir bekannt wäre, daß Arbeitsmädel, wenn sie Feiertags zum Vergnügen gehen, keine Kartoffeln essen wollen. Wie ich das wissen könne, fragte ich, und was denn das für ein Geheimnis sei?
Weil sie die Woche hindurch sich fast nur von Kartoffeln nähren und davon genug bekommen! erklärte sie. Ich drückte mein Mitleid aus, ohne zu gestehen, daß ich schon schlechtere Tage gesehen; denn das hätte mir ihre Achtung schwerlich erworben, wie ich wenigstens dachte. (GW 1889 III, S. 86)

und eine Episode vom Beginn der Jugendgeschichte im Grünen Heinrich:

Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an, als das, was er wirklich besitzt; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit Sehnsucht nach meinem Vater erfüllt, welchen ich nicht mehr gekannt habe. Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarer Weise um ein volles Jahr vor seinen Tod zurück, auf einen einzelnen schönen Augenblick, wo er an einem Sonntag Abend auf dem Felde mich auf den Armen trug, eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte, schon bestrebt, Erkenntnis und Dankbarkeit gegen den Schöpfer in mir zu erwecken. Ich sehe noch jetzt das grüne Kleid und die schimmernden Metallknöpfe zunächst meinen Wangen und seine glänzenden Augen, in welche ich verwundert sah von der grünen Staude weg, die er hoch in die Luft hielt. Meine Mutter rühmte mir nachher oft, wie sehr sie und die begleitende Magd erbaut gewesen seien von seinen schönen Reden. (GW 1889 I, S. 227)

Gleichsam zwei Kommentare zur Kartoffelfrage; vgl. dazu die Berichte zur Kartoffelkrankheit von 1845:

Möchte mein Beispiel und meine Beobachtungen die Vorurtheile beseitigen, durch welche die arbeitende Klasse eines seiner köstlichsten Nahrungsmittel könnte beraubt werden.  

 

 

Träume

 

Liebesspiegel

(aus den Entwürfen zu einem geplanten Gedichtzyklus)

Ich erzählte ihr einen Traum. Mir träumte, wir seien mit einander bei Gott im Himmel gewesen an einem Sonntag Nachmittage. Er habe geschlafen, während wir in seinem Garten herumspielten. Ich bat sie um einen Kuß und both ihr dafür einen Stern. Sie nahm und verweigerte doch. Ich gab mehrere und während sie mit halbem Versprechen mich verlockte, gab ich ihr zuletzt alle Sterne am Himmel und wollte, da der ersehnte Kuß immer noch schalkhaft vorenthalten wurde eben noch Sonne und Mond geben, als Gott Vater aufwachte u. s. f.

 

Aus Kellers Traumbuch (15.9.1847)

Ich stand in der Dämmerung auf dem Rathhausplatze unter einem jener großen Volkshaufen, die sich zu versammeln pflegen, wenn irgend ein Verbrecher auf die nahe Hauptwache geführt wird. Es war schon dunkel, als langsam ein Wagen durch das Gedränge gefahren kam, auf welchem eine unkenntliche schlanke Weibsperson saß, quer auf den Knieen lag ihr ein totes Kind, sie aber saß aufrecht und reglos. Da kommt die Kindsmörderin, summte das Volk, in einer halben Stunde wird sie geköpft. Als ich die hohe Gestalt über den Häuptern der Menge dahin schwanken sah, hatte ich, wie ich mich ziemlich bestimmt erinnere, das Gefühl: ich wünschte ihr nach, daß das genossene Liebesglück kein gemeines und so groß gewesen sein möge, als das gegenwärtige Leid, dann sei es schon gut. Es war jetzt ganz Nacht geworden. Eine weiche, weiche Hand faßte die meine, ein ganz unbekanntes fünfzehnjähriges Mädchen, dessen Augen ich in der Dunkelheit funkeln sah, flüsterte mir in's Ohr: Gottfried Keller, komm, wir wollen zu mir heim gehen! und zog mich geschickt und sachte aus dem Gedränge. Wir gingen durch allerlei dunkle Gäßchen, die ich in Zürich bisher gar nicht gekannt hatte und die auch nicht existiren; das Mädchen schmiegte sich an mich und war ein unsäglich buseliges und liebliches Wesen, welches mich ungemein behaglich machte; ich verwunderte mich auch nicht, als auf einmal ihrer zwei daraus wurden, deren jede an einer meiner Seiten hing. Sie waren ganz gleich, nur daß die mit dem Unterschiede einer etwas jüngern und älteren Schwester. Als wir in einem Sackgäßchen angekommen vor einem hohen, schmalen Hause standen, hießen mich die Kinder leise und behutsam gehen. So stiegen wir viele enge und steile Treppen hinan, jeden Tritt berechnend in der schwarzen Finsterniß, sie führten mich an beiden Händen, oftmals hielten wir an, und die guten Mädchen suchten dann mein Gesicht und küßten mich herzlich, aber vorsichtig auf den Mund; sie konnten, wie mich dünkte, die Küsse sehr gut u vollkommen ausprägen, ohne Geräusch zu machen, sie fielen von ihren Lippen, wie neue goldene Denkmünzen auf ein wollenes Tuch, ohne zu klingen. Darum brauchten wir eine lange Zeit, bis wir endlich oben, in einem kleinen Dachkämmerchen, waren. Dasselbe war ganz vom Monde erhellt. Die runden Scheiben der Fensterchen waren auf den Boden gezeichnet. Sogleich zogen wir alle die Schuhe aus, um nicht laut aufzutreten. Man sah aus dem Fenster, vor welchem ein hohes Dach hinab ging, über viele Dächer hinweg, unter denen man kaum die Fenster als schwarze Vierecke erkennen konnte; der Mondschein schwamm auf den Dächern, die Stadt war eingeschlafen und still, wir waren auch mäuschenstill, denn die Mädchen sagten, daß viele alte, böse Weiber in den benachbarten Dachkammern wohnten, welche ihnen immer aufpaßten und jede Freude zu verbittern suchten, wenn eine aufwache und uns höre, so seien wir des Todes. Wir saßen an einem kleinen Tischchen zwischen dem Fensterlein u dem Bette, welches mit einem schneeweißen Tuche sehr ordentlich und glatt bedeckt war. Wir durften natürlich kein Licht machen und saßen auch lieber so im Halblichte. Wir aßen und tranken etwas, aber ich weiß nicht mehr was, nur daß wir vergnüglich u leise die blinkenden Gläser aufhuben u wieder absetzten und wenn etwa eines an einen Teller stieß, so zuckten wir ängstlich zusammen. Als eines der guten Kinder aufstand, das Betttuch abnahm und sehr sorgfältig zusammenlegte und dabei sagte: Wenn wir schläfrig werden, so können wir uns nun gleich auf's Bett legen und rechtschaffen schlafen: da durchfuhr mich ein ganz seliges Gefühl, aber nicht eigentlich sinnlich. Sie setzte sich wieder an's Tischchen und bot mir ihre weißen jungen Schultern zum Liebkosen, da fuhr sie plötzlich zusammen und sagte: Herr Jesus, die Weiber kommen! Halbtodt vor Schrecken duckten sich beide fast in mich hinein und ich umfing sie, indem wir alle drei athem- u lautlos aufhorchten. Wirklich hörte ich deutlich, wie jemand über das Dach hin schlarpte, an einem benachbarten Dachfenster anklopfte, wie dort ebenfalls jemand herausstieg auf das Dach, dann sahen wir verschiedene Schatten vor unserm Fenster vorbeihuschen, es war offenbar, die alten Weiber weckten und versammelten sich; die Ziegel rasselten unter ihren schlurfenden Füßen, es kam immer näher über unsern Köpfen, es flüsterte: "langt nur n'ein, sie haben gewiß Einen bei sich!" ein Ziegel wurde aufgehoben, eine lange, magere Hand langte herein, tappte herum und erwischte meine Haare, welche gen Berg standen, das Blut schien in meinen Adern zu gerinnen, als ich erwachte und tief aufathmete. Der bleibende Eindruck des Traumes war aber ein angenehmer und ich bin froh, daß es so abgebrochen wurde. Dieser Traum hatte mich erquickt für viele Tage, wie wenn ich das artige Abenteuer wirklich erlebt hätte.

(HKKA 18, S. 101-109)

 

 

Äußerungen zu Kellers Prosa

 

Im letzten Frühling bat ich meine alte Mutter, mir Ihr Sinngedicht vorzulesen, - und wir Beide haben Sie dafür aus vollem Herzen gesegnet (auch aus vollem Halse: denn wir haben viel gelacht): so rein, frisch und körnig schmeckte uns dieser Honig. -

Mit dem Ausdruck treuer Anhänglichkeit und Verehrung

Ihr Prof. Dr. Friedrich Nietzsche
 

Friedrich Nietzsche an Keller, 14.10.1886

Wenn man von Goethe's Schriften absieht [...], was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg's Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling's Lebensgeschichte, Adalbert Stifter's Nachsommer und Gottfried Keller's Leute von Seldwyla, - und damit wird es einstweilen am Ende sein.
 

Friedrich Nietzsche, in "Menschliches, Allzumenschliches" (Aph. 109 ).

"Giebt es deutsche Philosophen? Giebt es deutsche Dichter? Giebt es gute deutsche Bücher?" - so fragt man mich im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich: Ja! Bismarck!" ... Sollte ich eingestehn, welche Bücher man jetzt liest? - Dahn? Ebers? Ferdinand Meyer? - Ich habe Universitäts-Professoren diesen bescheidenen Bieder-Meyer auf Unkosten Gottfried Kellers loben hören. Vermaledeiter Instinkt der Mediokrität!
 

Friedrich Nietzsche. Nachgelassene Fragmente. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 12, S. 540.

Die süße, herzstärkende Skepsis, die unter angelegentlichem Schauen reift, und wie ein starkes Arom aus Menschen und Dingen des liebenden Betrachters sich bemächtigt, ist nie in eine Prosa wie in Kellers eingegangen. Sie ist von der Vision des Glücks untrennbar, die seie Prosa realisiert hat. In ihr - und das ist die geheime Wissenschaft des Epikers, der allein das Glück mitteilbar macht, - wiegt jede kleinste angeschaute Zelle Welt soviel wie der Rest aller Wirklichkeit. Die Hand, die in der Schenke so dröhnend aufschlug, hat im Gewicht der zartesten Dinge sich nie vergriffen.

[...]

Was Kellers Bücher ganz und gar erfüllt, das ist die Sinnenlust nicht so des Schauens als de Beschreibens. Das Beschreiben ist nämlich Sinnenlust, weil in ihm der Gegenstand den Blick des Schauenden zurückgibt, und in jeder guten Beschreibung die Lust, mit der zwei Blicke, die sich suchen, aufeinander treffen, eingefangen ist. Durchdringung des Erzählerischen und des Dichterischen - der wesentliche Zuwachs, den dem Deutschen die nachromantische Epoche gebracht hat - ist in Kellers beschreibender Prosa am vollsten verwirklicht

.

Walter Benjamin: Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke. In: Angelus Novus. Frankfurt a. M. Suhrkamp 1966, S. 388 f., 391.

Wer schreiben gelernt hat, kann noch lange nicht lesen. Das zeigt sich gerade, wenn er schnell liest, ausnahmslos schnell alles und jedes. Sätze in guten Büchern können aber so schön sein, daß man fast nicht weiterrücken mag. Das ist bei Keller sehr oft der Fall, und die Sätze fesseln, weil sie unablässig bildern. Und diese Bilder, samt der Wortwahl zu ihren Gunsten, halten desto beglückender auf, als sie
unerwartet sind, nämlich frisch wie ein erster Blick. Die ungewaschene, alles verschmierende Übergangssprache ist weg, als gäbe es sie gar nicht. Kellers Sprache ist so genau wie kaum sonst eine dem Vorgang, den Dingen auf den Leib geschriebene.

 

Ernst Bloch: Über ein Gleichnis Kellers. In: Literarische Aufsätze,
Werke, Band 9, S.579 f.

Denn hier gilt es mal mit Lust und Liebe zu feiern, im Gegensatz zu solchen, deren Talent doch nicht groß genug ist, um die Unausstehlichkeit der Person vergessen zu machen. Bei Keller liegt es so, dß, wie's im Uebrigen auch liegen möge, der Dichter für alles aufkommt. Ich habe keine Zeile von ihm gelesen - mit Ausnahme seiner Verse, die mir wegen absoluten Mangels an Tonzauber fremd bleiben - die mich nicht erfreut bez. entzückt hätte. Beiläufig halte ich "Romeo und Julia" durchaus nicht für sein Bestes; so schön es ist, andres steht drüber.

 

Theodor Fontane an Kellers Verleger Wilhelm Hertz, 13.5.1889 (Cotta Archiv, Fasz. 11 Nr. 29)

Die helle Lebensbejahung, die Wiedereinsetzung und Wiedergewinnung der Wirklichkeit, die Verwurzelung des Künstlers in unmittelbar-gegenwärtige Diesseitigkeit, die seit dem Jungen Deutschland Ziel und Sehnsucht des Künstlertums gewesen war: in Gottfried Keller findet sie ihre Erfüllung. Was der jungdeutsche und soziale Tendenzroman in einen haltlosen Aktivismus abgebogen hatte, der innerhalb einer zersetzten und materialistischen Umwelt bald zu müdem Pessimismus und romantischem Traum werden mußte, das wird hier auf reinste epische Weltanschauung fundiert und in harter Entsagung erobert und gesichert. So wächst erst der "Grüne Heinrich" zum eigentlichen Gegenpol des subjektivistischen und romantischen Künstlerromans auf: ihnen gegenüber das große Symbol einer neuen, realistischen Zeit und eng verbunden mit ihrer charakteristischsten Philosophie, die in Feuerbach der Romantik und dem deutschen Idealismus die unbedingte Diesseitigkeit entgegenstellte.

Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman. In: Schriften. Bd. 1, S. 210 ff.

 

"Die drei gerechten Kammmacher" (Lesung von Michael Quast)

 

   

Michael Quast liest aus Kellers Novelle
"Die drei gerechten Kammacher".

   

Die Lesung erfolgte anläßlich der Präsentation der "Seldwyla"-Bände der HKKA am 23. Febr. 2001 im Literaturhaus Basel.